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Furcht vor Mangel und Bedenken, die Kinder nicht standesgemäß erziehen zu können, ist es auch hauptsächlich, was Frauen aus allen Klassen zu Handlungen treibt, die nicht mit dem Naturzweck, oft auch nicht mit dem Strafgesetzbuch in Übereinstimmung sind. Dahin gehören die verschiedensten Mittel zur Verhinderung der Empfängnis oder, wenn diese wider Willen stattgefunden hat, die Beseitigung der Leibesfrucht, der Abortus. Es wäre falsch, zu behaupten, daß diese Mittel nur von leichtfertigen, gewissenlosen Frauen angewandt wurden. Vielmehr sind es oft sehr pflichttreue Frauen, welche die Kinderzahl einschränken möchten; und um dem Dilemma zu entgehen, sich dem Gatten versagen zu müssen oder ihn auf Abwege zu drängen, die zu wandeln er Neigung hat, sich lieber der Gefahr der Anwendung abortativer Mittel unterwerfen. Daneben gibt es wieder Frauen, die, um einen »Fehltritt« zu verdecken, oder aus Widerwillen gegen die Unbequemlichkeiten der Schwangerschaft, des Gebärens und der Erziehung, oder aus Furcht, ihre Reize rascher einzubüßen und bei dem Gatten oder der Männerwelt an Ansehen zu verlieren, solche Handlungen begehen und für schweres Geld bereitwillig ärztliche und geburtshelferische Unterstützung finden.
Der künstliche Abortus kommt, nach verschiedenen Anzeichen zu schließen, immer mehr in Übung. Schon bei den alten Völkern war der Abortus vielfach in Anwendung, und er ist es heute von den zivilisiertesten bis hinab zu den barbarischen. Die alten Griechen betrieben ihn offen, ohne daß die Landesgesetze ihm entgegentreten. Zur Zeit Platos war es Hebammen erlaubt, Aborte herbeizuführen, und Aristoteles ordnete die vorzeitige Geburt bei den Verheirateten in den Fällen an, in denen »die Frau entgegen aller Voraussicht schwanger wurde« E. Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen. S. 135. Leipzig 1904. . Nach Jules Rouyer nahmen die Frauen Roms aus mehreren Gründen Zuflucht zum Abortus. Einmal wollten sie das Ergebnis ihrer unerlaubten Beziehungen verschwinden machen, ferner wollten sie sich der Ausschweifung ununterbrochen hingeben können, sie wollten aber auch die Veränderungen vermeiden, die Schwangerschaft und Geburt am Körper der Frau herbeiführen Jules Rouyer, Études médicales sur l'ancienne Rome. Paris 1859. . Bei den Römern war eine Frau mit 25 bis 30 Jahren alt, und so ging diese allem aus dem Wege, was ihre Reize beeinträchtigen konnte. Im Mittelalter war der Abortus mit schweren Leibesstrafen, sogar mit der Todesstrafe bedroht, und eine freie Frau, die ihn ausführte, wurde Leibeigene.
In der Gegenwart ist besonders der Abortus in der Türkei und in den Vereinigten Staaten in Übung. »Die Türken sind der Ansicht, daß der Fötus bis zum fünften Monat kein wirkliches Leben besitzt; sie haben auch keine Skrupel, einen Abort herbeizuführen. Auch in der Zeit, wo der Abort strafbar wird, wird er nicht weniger ausgeübt. Allein im Zeitraum von sechs Monaten wurden 1872 zu Konstantinopel mehr als 3.000 Fälle von künstlichem Abort verhandelt« E. Metschnikoff, a.a.O., S. 134, 135. .
Noch öfter wird er geübt in den Vereinigten Staaten. In allen größeren Städten der Union gibt es Anstalten, in welchen Mädchen und Frauen eine frühzeitige Entbindung bewerkstelligen können; viele amerikanische Zeitungen enthalten Anzeigen solcher Anstalten P. Brouardel, L'avortement, S. 36 bis 39. Paris 1901. Nach einer offiziellen Enquete wurden in New York bis zu 200 Personen gezählt, die aus der Fruchtabtreibung ein Gewerbe machen. . Man spricht in der dortigen Gesellschaft fast ebenso ungeniert über einen künstlichen Abortus wie über eine regelrechte Geburt. In Deutschland und anderen europäischen Ländern bestehen darüber andere Begriffe, und das deutsche Strafgesetzbuch bedroht beispielsweise den Täter wie den Helfer eventuell mit Zuchthausstrafe.
In vielen Fällen ist der Abortus von den schlimmsten Folgen begleitet, nicht selten tritt der Tod ein, in vielen Fällen ist Zerstörung der Gesundheit für immer das Endergebnis. »Die Beschwerden der beschwerlichen Schwangerschaft und Geburt sind unendlich geringer als die künstlichem Abortus folgenden Leiden« Ed. Reich, Geschichte und Gefahren der Fruchtabtreibung. 2. Auflage. Leipzig 1893. . Unfruchtbar werden ist eine seiner gewöhnlichsten Wirkungen. Trotz alledem wird er auch in Deutschland immer häufiger angewandt. So wurden wegen Abtreibung verurteilt in den Jahren 1882 bis 1886 839 Personen, 1897 bis 1901 1.565, 1902 bis 1906 2.236 Statistik des Deutschen Reiches. 85. Band. Kriminalstatistik für das Jahr 1906. . Die Chronique scandaleuse der letzten Jahre hatte sich mehrfach mit Fällen von Abortus zu befassen, die großes Aufsehen erregten, weil dabei angesehene Ärzte und Frauen aus der vornehmen Gesellschaft eine Rolle spielten. Auch mehren sich, nach der steigenden Zahl der bezüglichen Offerten in unseren Zeitungen zu schließen, die Anstalten und Orte, in welchen verheiratete und unverheiratete Frauen Gelegenheit geboten wird, die Folgen von »Fehltritten« in aller Heimlichkeit abzuwarten In Schweden kamen auf 100.000 Einwohner kriminelle Aborte zur gerichtlichen Untersuchung: 1851 bis 1880 3,04, 1881 bis 1890 6,66 und 1891 bis 1900 19,01. F. Prinzing, a.a.O., S. 44. .
Die Furcht vor zu großer Kinderzahl in Rücksicht auf das vorhandene Eigentum und die Kosten der Erziehung hat auch in ganzen Klassen und bei ganzen Völkern die Anwendung von Präventivmaßregeln zu einem System entwickelt, das zur öffentlichen Kalamität zu werden droht. So ist es eine allgemein bekannte Tatsache, daß fast in allen Schichten der französischen Gesellschaft das Zweikindersystem durchgeführt wird. In wenig Kulturländern der Welt sind verhältnismäßig die Ehen so zahlreich als in Frankreich, aber in keinem Lande ist durchschnittlich die Kinderzahl eine so geringe und die Bevölkerungsvermehrung eine so langsame. Der französische Bourgeois wie der Kleinbürger und Parzellenbauer befolgen dieses System, und der französische Arbeiter schließt sich ihnen an. In manchen Gegenden Deutschlands scheinen die eigenartigen bäuerlichen Verhältnisse zu ähnlichen Zuständen geführt zu haben. So gibt es eine reizende Gegend in Südwestdeutschland, in welcher in dem Garten eines jeden Bauernhofs der Sevenbaum steht, dessen Bestandteile als abortatives Mittel angewandt werden. In einem anderen Bezirk desselben Landes besteht schon längst unter den Bauern das Zweikindersystem; sie wollen ihre Höfe nicht teilen. Auffällig ist auch, in welchem Maße die Literatur in Deutschland an Umfang und Absatz zunimmt, in der Mittel für »fakultative Sterilität« behandelt und anempfohlen werden. Natürlich stets unter »wissenschaftlicher« Flagge und mit Hinweis auf die angeblich gefahrdrohende Übervölkerung.
Neben dem Abortus und der künstlichen Verhinderung der Empfängnis spielt das Verbrechen eine Rolle. In Frankreich sind Kindermorde und Kinderaussetzungen im Steigen, beides befördert durch das Verbot des französischen Zivilgesetzes, nach der Vaterschaft zu forschen. Der § 340 des Code civil bestimmt: »La recherche de la paternité est interdite«, dagegen der § 314: »La recherche de la maternité est admise.« Nach der Vaterschaft eines Kindes zu forschen ist verboten, aber nach der Mutterschaft zu forschen gestattet, ein Gesetz, das unverhüllt die Ungerechtigkeit gegen die Verführte zum Ausdruck bringt. Die Männer Frankreichs können so viele Frauen und Mädchen verführen, als sie vermögen, sie sind von jeder Verantwortung frei und haben keine Alimente zu bezahlen. Diese Bestimmungen sind unter dem Vorwand erlassen worden, das weibliche Geschlecht müsse abgeschreckt werden, Männer zu verführen. Man sieht, es ist überall der schwache Mann, dieser Angehörige des starken Geschlechts, der verführt wird und nie verführt. Die Konsequenz des Artikels 340 Code civil war der Artikel 312, der bestimmt: »L'enfant conçu pendant le mariage a pour père le mari« (das während der Ehe empfangene Kind hat den Ehemann zum Vater). Ist die Nachforschung nach der Vaterschaft verboten, so muß sich logischerweise der mit Hörnern gekrönte Ehemann auch gefallen lassen, daß er ein Kind, das seine Ehefrau von einem Fremden empfing, als das seine ansehen muß. Man kann der französischen Bourgeoisie wenigstens nicht die Konsequenz absprechen. Alle Versuche, den Artikel 340 aufzuheben, sind bis jetzt gescheitert.
Andererseits suchte die französische Bourgeoisie die Grausamkeit, die sie beging, als sie durch Gesetz den betrogenen Frauen unmöglich machte, sich um Alimente an den Vater ihres Kindes zu wenden, durch die Gründung von Findelhäusern auszugleichen. Man nahm also dem Neugeborenen nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter. Nach französischer Fiktion sind Findelkinder Waisenkinder, und so läßt die französische Bourgeoisie ihre unehelichen Kinder auf Staatskosten als »Kinder des Vaterlandes« erziehen. Eine herrliche Einrichtung. In Deutschland lenkt man auch mehr in französische Bahnen ein. Die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich enthalten über die Rechtsverhältnisse der unehelichen Kinder Grundsätze, die zum Teil mit dem früher geltenden humaneren Recht im Widerspruch stehen. So heißt es darin: »Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt.« Dagegen dekretierte schon Kaiser Josef II. die Gleichstellung der unehelichen mit den ehelichen Kindern. »Keinen Vater hat das uneheliche Kind, für dessen Mutter die conceptio plurium (der Umgang mit mehreren Männern) in die Zeit der Empfängnis fällt.« Der Leichtsinn, die Schwachheit oder Armut der Mutter wird an dem Kinde bestraft. Leichtsinnige Väter kennt das Gesetz nicht. »Die Mutter hat das Recht und die Pflicht, für die Person des unehelichen Kindes zu sorgen. Die elterliche Gewalt steht ihr nicht zu. Der Vater des unehelichen Kindes ist verpflichtet, dem Kinde bis zur Vollendung des sechzehnten Lebensjahres den der Lebensstellung der Mutter entsprechenden Unterhalt zu gewähren, einschließlich der Kosten der Erziehung und der Vorbildung. Diese Verpflichtung besteht für den Vater über das sechzehnte Lebensjahr des Kindes hinaus, wenn dieses infolge von Gebrechen unfähig ist, sich selbst zu erhalten. Der Vater ist verpflichtet, der Mutter die Kosten der Entbindung, sowie die Kosten des Unterhalts für die ersten sechs Wochen nach der Entbindung und etwaige notwendige Aufwendungen als Folgen der Schwangerschaft oder der Entbindung zu ersetzen.« Und so weiter. Nach dem preußischen Landrecht war aber eine außer der Ehe geschwängerte, unbescholtene ledige Frauensperson oder Witwe von dem Schwängerer nach dessen Stande und Vermögen abzufinden, doch durfte die Abfindungssumme den vierten Teil des Vermögens des Schwängerers nicht übersteigen. Dem unehelichen Kinde stand ein Anspruch gegen den Vater auf Unterhalt und Erziehung zu, ohne Rücksicht darauf, ob die Mutter eine unbescholtene Person war, jedoch nur in dem Betrage, den die Erziehung eines ehelichen Kindes Leuten vom Bauern- oder gemeinen Bürgerstand kostete. Hatte der außereheliche geschlechtliche Verkehr unter der Zusage einer künftigen Ehe stattgefunden, so hatte der Richter der Geschwächten den Namen, Stand und Rang des Schwängerers, sowie alle Rechte einer geschiedenen, für den unschuldigen Teil erklärten Ehefrau zuzuerkennen, und hatte in einem solchen Falle das uneheliche Kind die Rechte der aus einer vollgültigen Ehe erzeugten Kinder. Das hat nun aufgehört. Die Rückwärtserei ist in unserer Gesetzgebung Leitmotiv.
In der Periode von 1831 bis 1880 wurden vor den französischen Assisen 8.568 Kindesmorde verhandelt, und zwar stieg ihre Zahl von 471 in den Jahren 1831 bis 1835 auf 970 in den Jahren 1876 bis 1880. In demselben Zeitraum wurden über 1.032 Fälle Abortus abgeurteilt, und zwar im Jahre 1880 100 A. Pouzol, La recherche de la paternité. S. 134, 471. Paris 1902. . Selbstverständlich kommt nur der kleinste Teil der Fälle von künstlichem Abortus zur Kenntnis der Gerichte, in der Regel nur, wenn schwere Erkrankungen oder Todesfälle folgen. Bei den Kindesmorden war die Landbevölkerung mit 75 Prozent und beim Abortus die Städte mit 67 Prozent beteiligt. Die Frauen in der Stadt haben mehr Mittel an der Hand, die normale Geburt zu verhindern, daher viele Fälle von Abortus und verhältnismäßig wenig Kindesmorde. Auf dem Lande liegen die Verhältnisse umgekehrt. In Deutschland wurden wegen Kindesmordes verurteilt in den Jahren 1882 bis 1886 884, 1897 bis 1901 887, 1902 bis 1906 745 Personen Statistik des Deutschen Reiches. 185. Band. .
Das ist das Bild, das die heutige Gesellschaft in bezug auf ihre intimsten Beziehungen bietet. Es weicht stark ab von dem Gemälde, das poetische Phantasten von ihr entwerfen, nur hat es den Vorzug – wahr zu sein. Aber es müssen noch einige charakterisierende Pinselstriche hinzugefügt werden.