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Es bedarf wohl keines weiteren Nachweises, daß unter den geschilderten Verhältnissen die Zahl derer wächst, die die Ehe nicht als Paradies ansehen und Bedenken tragen, in eine solche einzutreten. Daher die Erscheinung, daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten Kulturstaaten im Rückgang begriffen ist oder stationär bleibt. Erfahrungsgemäß wirkten früher schon die hohen Kornpreise eines einzigen Jahres nachteilig auf die Zahl der Eheschließungen wie der Geburten ein. Aber je mehr die Industrialisierung eines Landes fortschreitet, desto mehr wird diese Zahl bedingt durch das Auf und Ab der gesamten ökonomischen Konjunktur. Wirtschaftliche Krisen und wachsende Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage müssen dauernd ungünstig wirken. Das bestätigt die Ehestatistik fast aller Kulturländer.
Nach der neuesten Regierungsenquete wurden in den Vereinigten Staaten im Zeitraum von 1887 bis 1906 12.832.044 Ehen geschlossen.
1887 | 483.096 |
1891 | 562.412 |
1892 | 577.870 |
1893 | 578.673 |
1894 | 566.161 |
1902 | 746.733 |
1903 | 786.132 |
1904 | 781.145 |
1905 | 804.787 |
1906 | 853.290 |
Wir sehen also, daß infolge der Krise 1893/94 die Zahl der Eheschließungen im Jahre 1894 nicht nur keine Steigerung erfährt, sondern um 12.512 sinkt. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich im Jahre 1904, das ein Minus von 4.987 Ehen aufweist.
In Frankreich zeigten die Eheschließungen folgendes Bild:
1873 – 1877 | 299.000 |
1878 – 1882 | 281.000 |
1883 – 1887 | 284.000 |
1888 – 1892 | 279.000 |
1893 – 1897 | 288.000 |
1898 – 1902 | 296.000 |
1903 – 1907 | 306.000 |
Die höchste Zahl weist das Jahr 1873 mit 321.238 Ehen auf. Von da an vermindert sich die Zahl der Eheschließungen, um mit dem Aufschwung des Wirtschaftslebens wieder in die Höhe zu gehen. Im Jahre 1907 zeigt Frankreich die höchste Zahl nach 1873: 314.903 Eheschließungen. Diese Zunahme ist in einem gewissen Grade die Folge des neuen Gesetzes vom 21. Juni 1907, das die zur Eheschließung notwendigen Formalitäten vereinfacht und in den armen Bezirken zum Aufschnellen der Eheziffern geführt hat.
Es kamen auf 1.000 der mittleren Bevölkerung Eheschließende:
Staaten | 1871 bis 1875 |
1876 bis 1880 |
1881 bis 1885 |
1886 bis 1890 |
1891 bis 1895 |
1896 bis 1900 |
1901 bis 1905 |
1907 |
Deutsches Reich | 18,84 | 15,68 | 15,40 | 15,68 | 15,88 | 16.83 | 16,0 | 16,2 |
davon Preußen | 18,88 | 15,86 | 15,92 | 16,32 | 16,40 | 16.86 | 16,2 | 16,4 |
davon Bayern | 18,92 | 14,65 | 13,64 | 13,96 | 14,76 | 16.09 | 15,2 | 15,4 |
davon Sachsen | 19,96 | 17,70 | 17,62 | 18,64 | 17,52 | 18.76 | 16,6 | 16,8 |
Österreich | 18,30 | 15,52 | 15,88 | 15,40 | 15,76 | 16.04 | 15,8 | 15,8 Vom Jahre 1906. |
Ungarn | 21,50 | 19,30 | 20,24 | 17,72 | 17,92 | 16.05 | 17,2 | 19,6 |
Italien | 15,54 | 15,06 | 14,08 | 17,64 | 14,96 | 14.40 | 14,8 | 15,4 |
Schweiz | 16,06 | 14,90 | 13,80 | 14,00 | 14,72 | 15.59 | 15,0 | 15,6 |
Frankreich | 16,96 | 15,16 | 15,04 | 14,48 | 14,90 | 15.14 | 15,2 | 16,0 |
England und Wales | 17,08 | 15,34 | 15,14 | 14,70 | 15,16 | 16.14 | 15,6 | 15,8 |
Schottland | 14,98 | 13,76 | 13,76 | 18,02 | 13,68 | 14.94 | 14,0 | 14,0 |
Irland | 9,72 | 9,04 | 8,66 | 8,66 | 9,48 | 9.87 | 10,4 | 10,2 |
Belgien | 15,44 | 13,94 | 13,94 | 14,34 | 15,24 | 16.45 | 16,2 | 16,2 |
Niederlande | 16,64 | 15,76 | 14,28 | 14,04 | 14,48 | 14.88 | 15,0 | 15,2 |
Dänemark | 15,88 | 15,54 | 15,38 | 13,94 | 13,84 | 14.79 | 14,4 | 15,2 |
Norwegen | 14,58 | 14,40 | 13,82 | 12,76 | 12,92 | 13.73 | 12,4 | 11,8 |
Schweden | 14,04 | 13,20 | 12,84 | 12,20 | 11,45 | 12.04 | 11,8 | 12,0 |
Finnland | 17,68 | 15,72 | 14,90 | 14,40 | 12,98 | 15.34 | 13,0 | 13,6 |
Europ. Rußland exkl. Weichselgebiet |
19,62 | 17,62 | 18,06 | 17,94 | 17,08 | 17.80 | – | – |
Bulgarien | – | – | 18,04 | 17,24 | 16,07 | – | – | – |
Serbien | 22,80 | 23,32 | 22,14 | 21,76 | 19,84 | – | – | – |
Daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten Ländern, je nachdem industrielle Prosperität oder Krise herrscht, schwankt, zeigt sich ganz eklatant in Deutschland. 1872, das Jahr nach dem Deutsch-Französischen Kriege, ergab für Deutschland, wie das Jahr 1873 für Frankreich, die höchste Zahl der Eheschließenden (423.900). Von 1873 ab fällt diese Zahl und erreicht im Jahre 1879, dem Jahre des Tiefstandes der Krise, ihren niedersten Grad (335.113); sie steigt dann langsam bis zum Jahre 1890, das noch ein Prosperitätsjahr war; sie fällt abermals im Jahre 1892 und steigt wieder mit den Jahren der Prosperität, um im Jahre 1899 und 1900, dem Höchststand der industriellen Blüte, den Höhepunkt zu erreichen (476.491 im Jahre 1900, 471.519 im Jahre 1899). Die neue Krise bringt einen Niedergang. Im Jahre 1902 fällt die Zahl der Eheschließungen abermals auf 457.208, um in den Jahren 1906 und 1907 (498.990 und 503.964) wieder den Höhepunkt zu erreichen. Und wenn im Jahre 1906 die Zahl der Eheschließungen um 13.004 höher war als 1905, so zeigen sich schon die Wirkungen der Krise von 1907 in einer verminderten absoluten Zunahme (nur 4.974 im Vergleich mit 1906) und einer relativen Abnahme (statt 8,2 auf 1.000 Einwohner nur 8,1).
Im allgemeinen aber verraten die Zahlen in den meisten Ländern eine sinkende Tendenz der Eheschließungen. Der Höchststand der Eheschließenden um die Mitte der siebziger Jahre wird bis Ende der neunziger Jahre nur ausnahmsweise erreicht, und wie aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich ist, bleibt die große Mehrzahl der europäischen Länder dahinter zurück.
Aber nicht bloß die Erwerbsverhältnisse, auch die Eigentumsverhältnisse wirken in hohem Grade auf die Eheschließungen ein. Schmollers Jahrbuch für 1885, Heft 1, gibt Mitteilungen über die Bevölkerungsstatistik des Königreichs Württemberg, aus welchen schlagend hervorgeht, daß mit der Zunahme des Großgrundbesitzes die Zahl der verheirateten Männer im Alter von 25 bis 30 Jahren abnimmt und die Zahl der unverheirateten Männer zwischen 40 und 50 Jahren zunimmt.
Prozentanteil des Grundbesitzes in Hektar |
Prozentanteil der Männer | ||||
bis 5 | 5 bis 20 | über 20 | verheirateter im Alter von 25 bis 30 Jahren |
unverheirateter im Alter von 40 bis 50 Jahren |
|
Oberamt Neuenbürg | 79,6 | 20,4 | 0,0 | 63,6 | 4,4 |
Östlich von Stuttgart | 78,9 | 17,7 | 3,4 | 51,3 | 8,1 |
Südlich von Stuttgart | 67,6 | 24,8 | 7,6 | 48,6 | 8,7 |
Nördlich von Stuttgart | 56,5 | 34,8 | 8,8 | 50,0 | 10,0 |
Schwarzwald | 50,2 | 42,2 | 7,6 | 48,6 | 10,1 |
Oberer Neckar | 43,6 | 40,3 | 16,1 | 44,3 | 10,8 |
Übergang zum Osten | 39,5 | 47,6 | 12,8 | 48,7 | 10,0 |
Nordosten, außer nördl. v. Hall |
22,2 | 50,1 | 27,7 | 38,8 | 10,6 |
Schwäbische Alb | 20,3 | 40,8 | 38,3 | 38,8 | 7,5 |
Nördliches Oberschwaben | 19,7 | 48,0 | 32,3 | 32,5 | 9,7 |
Von Hall nach Osten | 15,5 | 50,0 | 34,5 | 32,5 | 13,8 |
Bodenseegebiet | 14,2 | 61,4 | 24,4 | 23,5 | 26,4 |
Mittl. u. südl. Oberschwaben | 12,6 | 41,1 | 46,3 | 30,0 | 19,1 |
Der kleine Grundbesitz begünstigt die Eheschließungen, er ermöglicht einer größeren Zahl von Familien eine, wenn auch bescheidene Existenz, dagegen wirkt der große Grundbesitz den Eheschließungen entgegen. Mit fortschreitender Industrialisierung des Landes steigt die Zahl der Eheschließungen in städtischen Berufen. So treffen in Schweden auf je 1.000 Berufsangehörige Eheschließungen in den Jahren 1901 bis 1904:
Landwirtschaft | 4,78 |
Industrie und Bergbau | 7,17 |
Handel und Verkehr | 7,75 |
Freie und sonstige Berufe | 6,33 |
Im Durchschnitt | 5,92 |
Alle diese Zahlen beweisen aber, daß nicht moralische, sondern materielle Ursachen entscheidend sind. Die Zahl der Eheschließungen ist wie der Moralzustand einer Gesellschaft einzig von ihren materiellen Grundlagen abhängig.