August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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Zehntes Kapitel
Die Ehe als Versorgungsanstalt

1. Die Abnahme der Eheschließungen

Es bedarf wohl keines weiteren Nachweises, daß unter den geschilderten Verhältnissen die Zahl derer wächst, die die Ehe nicht als Paradies ansehen und Bedenken tragen, in eine solche einzutreten. Daher die Erscheinung, daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten Kulturstaaten im Rückgang begriffen ist oder stationär bleibt. Erfahrungsgemäß wirkten früher schon die hohen Kornpreise eines einzigen Jahres nachteilig auf die Zahl der Eheschließungen wie der Geburten ein. Aber je mehr die Industrialisierung eines Landes fortschreitet, desto mehr wird diese Zahl bedingt durch das Auf und Ab der gesamten ökonomischen Konjunktur. Wirtschaftliche Krisen und wachsende Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage müssen dauernd ungünstig wirken. Das bestätigt die Ehestatistik fast aller Kulturländer.

Nach der neuesten Regierungsenquete wurden in den Vereinigten Staaten im Zeitraum von 1887 bis 1906 12.832.044 Ehen geschlossen.

1887 483.096
1891 562.412
1892 577.870
1893 578.673
1894 566.161
1902 746.733
1903 786.132
1904 781.145
1905 804.787
1906 853.290

Wir sehen also, daß infolge der Krise 1893/94 die Zahl der Eheschließungen im Jahre 1894 nicht nur keine Steigerung erfährt, sondern um 12.512 sinkt. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich im Jahre 1904, das ein Minus von 4.987 Ehen aufweist.

In Frankreich zeigten die Eheschließungen folgendes Bild:

1873 – 1877 299.000
1878 – 1882 281.000
1883 – 1887 284.000
1888 – 1892 279.000
1893 – 1897 288.000
1898 – 1902 296.000
1903 – 1907 306.000

Die höchste Zahl weist das Jahr 1873 mit 321.238 Ehen auf. Von da an vermindert sich die Zahl der Eheschließungen, um mit dem Aufschwung des Wirtschaftslebens wieder in die Höhe zu gehen. Im Jahre 1907 zeigt Frankreich die höchste Zahl nach 1873: 314.903 Eheschließungen. Diese Zunahme ist in einem gewissen Grade die Folge des neuen Gesetzes vom 21. Juni 1907, das die zur Eheschließung notwendigen Formalitäten vereinfacht und in den armen Bezirken zum Aufschnellen der Eheziffern geführt hat.

Es kamen auf 1.000 der mittleren Bevölkerung Eheschließende:

Staaten 1871
bis
1875
1876
bis
1880
1881
bis
1885
1886
bis
1890
1891
bis
1895
1896
bis
1900
1901
bis
1905
1907
Deutsches Reich 18,84 15,68 15,40 15,68 15,88 16.83 16,0 16,2
  davon Preußen 18,88 15,86 15,92 16,32 16,40 16.86 16,2 16,4
  davon Bayern 18,92 14,65 13,64 13,96 14,76 16.09 15,2 15,4
  davon Sachsen 19,96 17,70 17,62 18,64 17,52 18.76 16,6 16,8
Österreich 18,30 15,52 15,88 15,40 15,76 16.04 15,8 15,8 Vom Jahre 1906.
Ungarn 21,50 19,30 20,24 17,72 17,92 16.05 17,2 19,6
Italien 15,54 15,06 14,08 17,64 14,96 14.40 14,8 15,4
Schweiz 16,06 14,90 13,80 14,00 14,72 15.59 15,0 15,6
Frankreich 16,96 15,16 15,04 14,48 14,90 15.14 15,2 16,0
England und Wales 17,08 15,34 15,14 14,70 15,16 16.14 15,6 15,8
Schottland 14,98 13,76 13,76 18,02 13,68 14.94 14,0 14,0
Irland 9,72 9,04 8,66 8,66 9,48 9.87 10,4 10,2
Belgien 15,44 13,94 13,94 14,34 15,24 16.45 16,2 16,2
Niederlande 16,64 15,76 14,28 14,04 14,48 14.88 15,0 15,2
Dänemark 15,88 15,54 15,38 13,94 13,84 14.79 14,4 15,2
Norwegen 14,58 14,40 13,82 12,76 12,92 13.73 12,4 11,8
Schweden 14,04 13,20 12,84 12,20 11,45 12.04 11,8 12,0
Finnland 17,68 15,72 14,90 14,40 12,98 15.34 13,0 13,6
Europ. Rußland exkl.
  Weichselgebiet
19,62 17,62 18,06 17,94 17,08 17.80
Bulgarien 18,04 17,24 16,07
Serbien 22,80 23,32 22,14 21,76 19,84

Daß die Zahl der Eheschließungen in den meisten Ländern, je nachdem industrielle Prosperität oder Krise herrscht, schwankt, zeigt sich ganz eklatant in Deutschland. 1872, das Jahr nach dem Deutsch-Französischen Kriege, ergab für Deutschland, wie das Jahr 1873 für Frankreich, die höchste Zahl der Eheschließenden (423.900). Von 1873 ab fällt diese Zahl und erreicht im Jahre 1879, dem Jahre des Tiefstandes der Krise, ihren niedersten Grad (335.113); sie steigt dann langsam bis zum Jahre 1890, das noch ein Prosperitätsjahr war; sie fällt abermals im Jahre 1892 und steigt wieder mit den Jahren der Prosperität, um im Jahre 1899 und 1900, dem Höchststand der industriellen Blüte, den Höhepunkt zu erreichen (476.491 im Jahre 1900, 471.519 im Jahre 1899). Die neue Krise bringt einen Niedergang. Im Jahre 1902 fällt die Zahl der Eheschließungen abermals auf 457.208, um in den Jahren 1906 und 1907 (498.990 und 503.964) wieder den Höhepunkt zu erreichen. Und wenn im Jahre 1906 die Zahl der Eheschließungen um 13.004 höher war als 1905, so zeigen sich schon die Wirkungen der Krise von 1907 in einer verminderten absoluten Zunahme (nur 4.974 im Vergleich mit 1906) und einer relativen Abnahme (statt 8,2 auf 1.000 Einwohner nur 8,1).

Im allgemeinen aber verraten die Zahlen in den meisten Ländern eine sinkende Tendenz der Eheschließungen. Der Höchststand der Eheschließenden um die Mitte der siebziger Jahre wird bis Ende der neunziger Jahre nur ausnahmsweise erreicht, und wie aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich ist, bleibt die große Mehrzahl der europäischen Länder dahinter zurück.

Aber nicht bloß die Erwerbsverhältnisse, auch die Eigentumsverhältnisse wirken in hohem Grade auf die Eheschließungen ein. Schmollers Jahrbuch für 1885, Heft 1, gibt Mitteilungen über die Bevölkerungsstatistik des Königreichs Württemberg, aus welchen schlagend hervorgeht, daß mit der Zunahme des Großgrundbesitzes die Zahl der verheirateten Männer im Alter von 25 bis 30 Jahren abnimmt und die Zahl der unverheirateten Männer zwischen 40 und 50 Jahren zunimmt.

  Prozentanteil des
Grundbesitzes in Hektar
Prozentanteil der Männer
  bis 5 5 bis 20 über 20 verheirateter
im Alter von
25 bis 30
Jahren
unverheirateter
im Alter von
40 bis 50
Jahren
Oberamt Neuenbürg 79,6 20,4 0,0 63,6 4,4
Östlich von Stuttgart 78,9 17,7 3,4 51,3 8,1
Südlich von Stuttgart 67,6 24,8 7,6 48,6 8,7
Nördlich von Stuttgart 56,5 34,8 8,8 50,0 10,0
Schwarzwald 50,2 42,2 7,6 48,6 10,1
Oberer Neckar 43,6 40,3 16,1 44,3 10,8
Übergang zum Osten 39,5 47,6 12,8 48,7 10,0
Nordosten, außer
nördl. v. Hall
22,2 50,1 27,7 38,8 10,6
Schwäbische Alb 20,3 40,8 38,3 38,8 7,5
Nördliches Oberschwaben 19,7 48,0 32,3 32,5 9,7
Von Hall nach Osten 15,5 50,0 34,5 32,5 13,8
Bodenseegebiet 14,2 61,4 24,4 23,5 26,4
Mittl. u. südl. Oberschwaben 12,6 41,1 46,3 30,0 19,1

Der kleine Grundbesitz begünstigt die Eheschließungen, er ermöglicht einer größeren Zahl von Familien eine, wenn auch bescheidene Existenz, dagegen wirkt der große Grundbesitz den Eheschließungen entgegen. Mit fortschreitender Industrialisierung des Landes steigt die Zahl der Eheschließungen in städtischen Berufen. So treffen in Schweden auf je 1.000 Berufsangehörige Eheschließungen in den Jahren 1901 bis 1904:

Landwirtschaft 4,78
Industrie und Bergbau 7,17
Handel und Verkehr 7,75
Freie und sonstige Berufe 6,33
Im Durchschnitt 5,92

Alle diese Zahlen beweisen aber, daß nicht moralische, sondern materielle Ursachen entscheidend sind. Die Zahl der Eheschließungen ist wie der Moralzustand einer Gesellschaft einzig von ihren materiellen Grundlagen abhängig.


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