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Die Ehe soll eine Verbindung sein, die zwei Menschen aus gegenseitiger Liebe eingehen, um ihren Naturzweck zu erreichen. Dieses Motiv ist aber gegenwärtig in den seltensten Fällen rein vorhanden. Die große Mehrheit der Frauen sieht die Ehe als eine Versorgungsanstalt an, in die sie um jeden Preis eintreten muß. Umgekehrt betrachtet ein großer Teil der Männerwelt die Ehe vom reinen Geschäftsstandpunkt aus und erwägt und berechnet aus materiellen Gesichtspunkten die Vorteile und Nachteile derselben. Und selbst in die Ehen, für die niedrige und egoistische Motive nicht maßgebend waren, bringt die rauhe Wirklichkeit so viel Störendes und Auflösendes, daß nur in seltenen Fällen die Hoffnungen erfüllt werden, welche die Eheschließenden in ihrem Enthusiasmus erwarteten.
Das ist natürlich. Soll die Ehe beiden Ehegatten ein befriedigendes Zusammenleben gewähren, so erfordert sie neben der gegenseitigen Liebe und Achtung die Sicherung der materiellen Existenz, das Vorhandensein desjenigen Maßes von Lebensnotwendigkeiten und Annehmlichkeiten, das sie glauben für sich und ihre Kinder notwendig zu haben. Die schwere Sorge, der harte Kampf um das Dasein sind der erste Nagel zum Sarge ehelicher Zufriedenheit und ehelichen Glückes. Die Sorge wird daher um so größer, je fruchtbarer sich die eheliche Gemeinschaft erweist, also in je höherem Grade sie ihren Zweck erfüllt. Der Bauer zum Beispiel ist vergnügt über jedes Kalb, das seine Kuh ihm bringt, er zählt mit Behagen die Zahl der Jungen, die ein Mutterschwein ihm wirft, und mit Befriedigung berichtet er das Ergebnis seinen Nachbarn; aber er blickt düster, wenn seine Frau ihm zu der Zahl seiner Sprößlinge, die er glaubt ohne schwere Sorge erziehen zu können – und groß darf sie nicht sein –, einen neuen Zuwachs schenkt, um so düsterer, wenn das Neugeborene das Unglück hat, ein Mädchen zu sein.
Man darf also sagen, sowohl die Eheschließungen wie die Geburten werden von den ökonomischen Zuständen beherrscht. Am klassischsten zeigt sich dieses in Frankreich. Dort herrscht in der Landwirtschaft das Parzellensystem. Aber Grund und Boden, unter eine gewisse Grenze zerstückelt, ernährte keine Familie mehr. Daher das berühmt und berüchtigt gewordene Zweikindersystem, das sich in Frankreich zur sozialen Institution ausgebildet hat und sogar die Bevölkerung in vielen Provinzen, zum Schrecken der Staatslenker, fast stationär erhält, ja einen erheblichen Rückgang derselben verursacht. Was die Entwicklung der Warenproduktion und der Geldwirtschaft auf dem Lande verursacht, das erzeugt noch in stärkerem Maße die Industrie in den Städten. Hier nimmt die eheliche Fruchtbarkeit am schnellsten ab.
Die Zahl der Geburten fällt in Frankreich stetig, trotz Vermehrung der Zahl der Eheschließungen, aber nicht bloß in Frankreich, sondern in den meisten Kulturländern. Es drückt sich darin eine Entwicklung als Folge unserer sozialen Zustände aus, die den herrschenden Klassen zu denken geben sollte. In Frankreich wurden 1881 937.057 Kinder geboren, aber 1906 nur noch 806.847, 1907 773.969. Die Geburten blieben also im Jahre 1907 gegen das Jahr 1881 um 163.088 zurück. Charakteristisch ist aber, daß die Zahl der unehelichen Geburten, die in Frankreich im Jahre 1881 70.079 betrug und in der Periode von 1881 bis 1890 im Jahre 1884 mit 75.754 den höchsten Stand erreichte, 1906 immer noch 70.866 Köpfe stark war, so daß die Verminderung der Geburten ausschließlich auf die ehelichen fiel. Diese Abnahme der Geburten ist ein Charakteristikum, das durch das ganze Jahrhundert sich bemerkbar macht. Es fielen Geburten in Frankreich auf je 10.000 Einwohner im Jahre:
1801 – 1810 | 332 |
1811 – 1820 | 316 |
1821 – 1830 | 308 |
1831 – 1840 | 290 |
1841 – 1850 | 273 |
1851 – 1860 | 262 |
1861 – 1870 | 261 |
1881 – 1890 | 239 |
1891 – 1900 | 221 |
1905 | 206 |
1906 | 206 |
1907 | 197 |
Das ist eine Abnahme der Geburten im Jahre 1907 im Vergleich zu 1801 (333) um 136 auf je 10.000 Einwohner. Man kann sich vorstellen, daß dieses Resultat den französischen Staatsmännern und Sozialpolitikern große Kopfschmerzen bereitet. Aber Frankreich steht in dieser Beziehung nicht allein. Deutschland, insbesondere Sachsen, weist seit geraumer Zeit eine ähnliche Erscheinung auf, und die Abnahme der Geburtsziffer vollzieht sich noch schneller. So kamen in Deutschland auf je 10.000 Einwohner Geburten im Jahre:
1875 | 423 |
1880 | 391 |
1885 | 385 |
1890 | 370 |
1895 | 373 |
1900 | 368 |
1905 | 340 |
1906 | 341 |
1907 | 332 |
Die Mehrzahl der übrigen Staaten Europas zeigt uns ein ähnliches Bild. So kamen auf 1.000 Einwohner Geburten in:
1871 bis 1880 |
1881 bis 1890 |
1891 bis 1900 |
1901 bis 1905 |
1907 | |
England und Wales | 35,4 | 32,5 | 29,9 | 28,1 | 26,3 |
Schottland | 34,9 | 32,3 | 30,2 | 28,9 | 27,0 |
Irland | 26,5 | 23,4 | 23,0 | 23,2 | 23,2 |
Italien | 36,9 | 37,8 | 34,9 | 32,6 | 31,5 |
Schweden | 30,5 | 29,1 | 27,2 | 26,1 | 25,5 |
Österreich | 39,0 | 37,9 | 37,1 | 35,8 | 35,0 (1906) |
Ungarn | 44,3 | 44,0 | 40,6 | 37,2 | 36,0 |
Belgien | 32,3 | 30,2 | 29,0 | 27,7 | 25,7 (1906) |
Schweiz | 30,8 | 28,1 | 28,1 | 28,1 | 26,8 |
Niederlande | 36,2 | 34,2 | 32,5 | 31,5 | 30,0 |
Die Abnahme der Geburten ist also ganz allgemein, und obwohl Frankreich und Irland die niedrigsten Quoten aufweisen, vollzieht sich diese Verminderung der Geburtenziffer am schnellsten in England, Deutschland (Sachsen) und Schottland. Die gleiche Erscheinung finden wir in den Vereinigten Staaten und Australien. Noch stärker tritt diese Tendenz hervor, wenn wir statt der allgemeinen Geburtenziffer die eheliche Fruchtbarkeit in Betracht ziehen, das heißt die Beziehung der ehelich Geborenen zu dem mittleren Bestand der verheirateten Frauen in gebärfähigem Alter, also vom 15. bis vollendeten 49. Jahre:
Lebendgeborene eheliche Kinder auf 1.000 verheiratete Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren (im Jahresdurchschnitt) |
|||
Jahrzehnte | |||
1876-1885 | 1886-1895 | 1896-1905 | |
England und Wales | 250 | 229 | 203 |
Schottland | 271 | 255 | 235 |
Irland | 250 | 245 | 264 |
Dänemark | 244 | 235 | 217 |
Norwegen | 262 | 259 | 246 |
Schweden | 240 | 231 | 219 |
Finnland | 259 | 246 | 244 |
Österreich | 246 | 250 | 242 |
Ungarn (Königreich) | 234 | 225 | 216 |
Schweiz | 239 | 230 | 225 |
Deutsches Reich | 268 | 258 | 243 |
Preußen | 273 | 265 | 250 |
Bayern | 276 | 263 | 259 |
Sachsen | 267 | 250 | 216 |
Württemberg | 288 | 259 | 262 |
Baden | 266 | 248 | 251 |
Niederlande | 293 | 286 | 272 |
Belgien | 264 | 236 | 213 |
Frankreich | 167 | 150 | 132 |
Italien | 248 | 249 | 232 |
Die angeführten Tatsachen zeigen, daß die Geburt eines Menschen, »Gottes Ebenbild«, wie die Religiösen sagen, durchschnittlich unterwertiger taxiert wird als ein neugeborenes Haustier, das spricht aber für den unerfreulichen Zustand, in dem wir uns befinden. In mancher Beziehung unterscheiden sich unsere Anschauungen wenig von denen barbarischer Völker. Bei diesen wurden häufig Neugeborene getötet, insbesondere traf dieses Schicksal die Mädchen, und manche Völkerschaften halten es noch heute so. Wir töten die Mädchen nicht mehr, dazu sind wir zu zivilisiert, aber sie werden nur zu oft als Parias behandelt. Der stärkere Mann drängt die Frau überall im Kampfe um das Dasein zurück, und nimmt sie dennoch den Kampf auf, so wird sie nicht selten von dem stärkeren Geschlecht als unliebsam Konkurrentin mit Haß verfolgt. Besonders sind es die Männer der höheren Schichten, die gegen die weibliche Konkurrenz am erbittertsten sind und sie am heftigsten bekämpfen. Daß auch Arbeiter den Ausschluß der Frauenarbeit fordern, kommt nur ausnahmsweise vor. Als zum Beispiel ein solcher Antrag im Jahre 1876 auf einem französischen Arbeiterkongreß gestellt wurde, erklärte sich die große Mehrheit dagegen. Seitdem aber hat gerade unter den klassenbewußten Arbeitern aller Länder die Auffassung, daß die Arbeiterin ein gleichberechtigtes Wesen ist, gewaltige Fortschritte gemacht, was insbesondere die Beschlüsse der internationalen Arbeiterkongresse zeigen. Der klassenbewußte Arbeiter weiß, daß die gegenwärtige ökonomische Entwicklung die Frau zwingt, sich zum Konkurrenten des Mannes aufzuwerfen, er weiß aber auch, daß die Frauenarbeit zu verbieten ebenso unsinnig wäre wie ein Verbot der Anwendung von Maschinen, und so trachtet er danach, die Frau über ihre Stellung in der Gesellschaft aufzuklären und sie zur Mitkämpferin in dem Befreiungskampf des Proletariats gegen den Kapitalismus zu erziehen.