August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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2. Ehelosigkeit und Selbstmordhäufigkeit

Unter Ärzten und Physiologen ist die Anschauung sehr verbreitet, daß selbst eine mangelhafte Ehe besser ist als Ehelosigkeit, und die Erfahrungen sprechen dafür. »Daß die Sterblichkeit unter den Verheirateten (wenn man etwa vergleichen wollte zwischen 1.000 dreißigjährigen Ledigen und 1.000 dreißigjährigen Verheirateten) sich geringer stellt, scheint nachgerade feststehend, und diese Erscheinung ist recht frappant. Namentlich bei den Männern handelt es sich um große Differenzen. Sie beträgt in manchen Altersklassen geradezu das Doppelte. Sehr merkwürdig ist auch die hohe Sterblichkeit der Männer, die in frühen Jahren Witwer werden« Dr. G. Schnapper-Arndt, Sozialstatistik. S. 196. Leipzig 1908. .

Man behauptet, daß insbesondere auch die Selbstmordziffer durch ungesunde geschlechtliche Verhältnisse erhöht würde. Im allgemeinen ist in allen Ländern die Zahl der Selbstmorde bei den Männern erheblich höher als bei den Frauen. So kamen zum Beispiel:

  In den Jahren Auf 100.000 Lebende
Selbstmörder
Verhältnis der
weiblichen zu den
männlichen
Selbstmördern
männlich weiblich
Deutschland 1899 – 1902 33,0 8,4 25,5
Österreich 1898 – 1901 25,4 7,0 27,6
Schweiz 1896 – 1903 33,3 6,4 19,2
Italien 1893 – 1901 9,8 2,4 24,5
Frankreich 1888 – 1892 35,5 9,7 27,3
Niederlande 1901 – 1902 9,3 3,0 32,3
England 1891 – 1900 13,7 4,4 32,1
Schottland 1891 – 1900 9,0 3,2 35,6
Irland 1901 2,3 1,2 52,2
Norwegen 1891 – 1900 10,0 2,5 25,0
Schweden 1891 – 1900 21,1 8,6 40,8
Finnland 1891 – 1900 7,8 1,8 23,1
Europ. Rußland 1885 – 1894 4,9 1,6 32,7 F. Prinzing, Handbuch der medizinischen Statistik. S. 356. Jena 1906.

Im Deutschen Reiche war in den Jahren 1898 bis 1907 die Zahl der Selbstmörder:

Jahr Insgesamt Männlich Weiblich
1898 10.835 8.544 2.291
1899 10.761 8.460 2.301
1900 11.393 8.987 2.406
1902 12.336 9.765 2.571
1904 12.468 9.704 2.764
1907 12.777 9.753 3.024

Auf je 100 männliche Selbstmörder kamen weibliche 1898 26,8, 1899 27,2, 1900 26,8, 1904 28,5, 1907 31. Aber im Lebensalter zwischen 15 und 30 Jahren ist allgemein die prozentuale Selbstmordziffer der Frauen höher als der Männer. So betrug der Prozentsatz der Selbstmörder im Lebensalter zwischen 15 bis 20 und 21 bis 30 Jahren im Durchschnitt:

  In den Jahren 15 bis 20 Jahre 21 bis 30 Jahre
männlich weiblich männlich weiblich
Preußen 1896 – 1900 5,3 10,7 16,0 20,2
Dänemark 1896 – 1900 4,6 8,3 12,4 14,8
Schweiz 1884 – 1899 3,3 6,7 16,1 21,0
Frankreich 1887 – 1891 3,5 8,2 10,9 14 H. Krose, Die Ursachen der Selbstmordhäufigkeit. S. 28. Freiburg 1906.

In Sachsen kamen auf 1.000 Selbstmörder im Lebensalter zwischen 21 und 30 Jahren im Durchschnitt der Jahre:

In den Jahren Männer Frauen
1854 – 1868 14,95 18,64
1868 – 1880 14,71 18,79
1881 – 1888 15,30 22,30

Die höhere Selbstmordziffer zeigt sich auch bei Verwitweten und Geschiedenen im Vergleich zur Durchschnittsziffer der Selbstmörder. In Sachsen kommen auf die geschiedenen Männer siebenmal, auf die geschiedenen Frauen dreimal so viel Selbstmorde, als die Durchschnittsziffer der Selbstmorde bei Männern oder Frauen beträgt. Auch ist der Selbstmord unter geschiedenen oder verwitweten Männern und Frauen häufiger, wenn dieselben keine Kinder haben. Unter den unverheirateten Frauen, die im Alter von 21 bis 30 Jahren zum Selbstmord getrieben werden, ist gar manche, die wegen verratener Liebe oder infolge eines »Fehltritts« sich das Leben nimmt. Die Statistik zeigt, daß fast durchweg einer Steigerung des Prozentsatzes unehelicher Geburten eine Steigerung der Zahl der Selbstmörderinnen entspricht. Auch ist unter den weiblichen Selbstmördern die Zahl derselben im Alter von 16 bis 21 Jahren ungewöhnlich groß, was ebenfalls darauf schließen läßt, daß unbefriedigter Geschlechtstrieb, Liebesgram, heimliche Schwangerschaft oder Betrug seitens der Männerwelt stark in Frage kommen.

Über die Lage der Frauen als Geschlechtswesen äußert sich Professor v. Krafft-Ebing Lehrbuch der Psychiatrie. 1. Band, 2. Auflage. Stuttgart 1883. : »Eine nicht zu unterschätzende Quelle für das Irresein beim Weib liegt dagegen wieder in der sozialen Position desselben. Das Weib, von Natur aus geschlechtsbedürftiger als der Mann, wenigstens im idealen Sinne, kennt keine andere ehrbare Befriedigung dieses Bedürfnisses als die Ehe (Maudsley).

Diese bietet ihm auch die einzige Versorgung. Durch unzählige Generationen hindurch ist sein Charakter nach dieser Richtung hin ausgebildet. Schon das kleine Mädchen spielt Mutter mit seiner Puppe. Das moderne Leben mit seinen gesteigerten Anforderungen bietet immer weniger Aussichten auf Befriedigung durch die Ehe. Dies gilt namentlich für die höheren Stände, in welchen die Ehen später und seltener geschlossen werden.

Während der Mann als der Stärkere, durch seine größere intellektuelle und körperliche Kraft und seine freie soziale Stellung, sich geschlechtliche Befriedigung mühelos verschafft, oder in einem Lebensberuf, der seine ganze Kraft beansprucht, leicht ein Äquivalent findet, sind diese Wege ledigen Weibern aus besseren Ständen verschlossen. Dies führt zunächst bewußt oder unbewußt zu Unzufriedenheit mit sich und der Welt, zu krankhaftem Brüten. Eine Zeitlang wird vielfach in der Religion ein Ersatz gesucht, allein vergeblich. Aus der religiösen Schwärmerei, mit oder ohne Masturbation, entwickelt sich ein Heer von Nervenleiden, unter denen Hysterie und Irresein nicht selten sind. Nur so begreift sich die Tatsache, daß die größte Frequenz des Irreseins bei ledigen Weibern in die Zeit des 25. bis 35. Lebensjahres fällt, das heißt die Zeit, wo Blüte und damit Lebenshoffnungen schwinden, während bei Männern das Irresein am häufigsten im 35. bis 50. Jahre, der Zeit der größten Anforderungen im Kampfe ums Dasein, auftritt.

Es ist gewiß kein Zufall, daß mit der zunehmenden Ehelosigkeit die Frage der Frauenemanzipation immer mehr auf die Tagesordnung gelangt ist. Ich möchte sie als Notsignal eines mit der fortschreitenden Ehelosigkeit immer unerträglicher werdenden sozialen Verhältnisse des Weibes in der modernen Gesellschaft betrachtet wissen, einer berechtigten Forderung an diese, dem Weibe ein Äquivalent für das zu verschaffen, worauf es von der Natur angewiesen ist, und was ihm die modernen sozialen Zustände zum Teil versagen.«

Und Dr. H. Ploß sagt in seinem Werke »Das Weib in der Natur und Völkerkunde« Achte Auflage, 2. Band, S. 606. Leipzig 1905. , indem er die Wirkungen erörtert, die mangelnde Befriedigung des Geschlechtstriebs für unverheiratete Frauen im Gefolge hat: »Es ist im höchsten Grade bemerkenswert, nicht allein für den Arzt, sondern auch für den Anthropologen, daß es ein wirksames und niemals versagendes Mittel gibt, diesen Prozeß des Verwelkens (bei alternden Jungfrauen) nicht nur in seinem Fortschreiten aufzuhalten, sondern auch die bereits geschwundene Blüte, wenn auch nicht ganz in der alten Pracht, doch in nicht unerheblichem Grade wieder zurückkehren zu lassen, nur schade, daß unsere sozialen Verhältnisse in den allerseltensten Fällen seine Anwendung zulassen und ermöglichen. Dieses Mittel besteht in einem regelmäßigen und geordneten Geschlechtsverkehr. Man sieht nicht eben selten, daß bei einem bereits verblühten oder dem Verwelktsein nicht mehr fernstehenden Mädchen, wenn sich ihm noch die Gelegenheit zur Ehe bietet, bereits kurze Zeit nach seiner Vermählung alle Formen sich wieder runden, die Rosen auf den Wangen zurückkehren und die Augen ihren einstigen frischen Glanz wieder erhalten. Die Ehe ist also der wahre Jugendbrunnen für das weibliche Geschlecht. So hat die Natur ihre feststehenden Gesetze, welche mit unerbittlicher Strenge ihr Recht fordern, und jede vita praeter naturam, jedes unnatürliche Leben, jeder Versuch der Anpassung an Lebensverhältnisse, welche der Art nicht entsprechen, kann nicht ohne bemerkenswerte Spuren der Degeneration an dem Organismus, dem tierischen sowohl als auch dem menschlichen, vorübergehen.«

Es entsteht nun die Frage: Erfüllt die Gesellschaft die Anforderungen an eine vernünftige Lebensweise insbesondere des weiblichen Geschlechts? Und falls sie verneint wird, entsteht die Frage: Kann sie dieselben erfüllen? Müssen aber beide Fragen verneint werden, so entsteht die dritte: Wie können dieselben erfüllt werden?


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