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Mit dem Entstehen des Feudalstaats verschlechterte sich der Zustand einer großen Zahl Gemeinfreier. Die siegreichen Heerführer benutzten ihre Gewalt, um sich großer Länderstrecken zu bemächtigen; sie betrachteten sich als Herren des Gemeinguts, das sie an die ihnen ergebene Gefolgschaft: Sklaven, Leibeigene, Freigelassene meist fremder Abstammung, auf Zeit oder mit dem Rechte der Vererbung vergaben. Sie schufen sich dadurch einen Hof- und Dienstadel, der ihnen in allem zu Willen war. Die Bildung eines großen Frankenreichs machte den letzten Resten der alten Gentilverfassung ein Ende. An die Stelle des Rates der Vorsteher traten die Unterführer des Heeres und der neu aufgekommene Adel.
Allmählich geriet die große Masse der Gemeinfreien durch die fortgesetzten Eroberungskriege und Zwistigkeiten der Großen, für die sie die Lasten zu tragen hatten, in einen Zustand der Erschöpfung und Verarmung. Der Verpflichtung, den Heerbann zu stellen, konnten sie nicht mehr nachkommen. An ihrer Stelle warben die Fürsten und der hohe Adel Dienstleute, dafür stellten die Bauern sich und ihr Besitztum in den Schutz eines weltlichen oder geistlichen Herrn – denn die Kirche hatte es verstanden, binnen wenigen Jahrhunderten eine große Macht zu werden –, wofür sie Zins und Abgaben leisteten. So wurde das bisher freie Bauerngut in ein Zinsgut umgewandelt, das mit der Zeit mit immer neuen Verpflichtungen beschwert wurde. Einmal in diese abhängige Lage gekommen, währte es nicht lange, und der Bauer verlor auch die persönliche Freiheit. Hörigkeit und Leibeigenschaft gewannen immer mehr an Ausdehnung.
Der Grundherr besaß die fast unumschränkte Verfügung über seine Leibeigenen und Hörigen. Ihm stand das Recht zu, jeden Mann, sobald er das 18. Lebensjahr erreicht hatte, und jedes Mädchen, sobald es 14 Jahre alt geworden war, zu einer Ehe zu nötigen. Er konnte dem Mann die Frau, der Frau den Mann vorschreiben. Dasselbe Recht hatte er gegen Witwer und Witwen. Als Herr seiner Untertanen betrachtete er sich als Verfüger über die geschlechtliche Benützung seiner weiblichen Leibeigenen und Hörigen, eine Gewalt, die in dem jus primae noctis (Recht der ersten Nacht) zum Ausdruck kam. Dieses Recht besaß auch sein Stellvertreter (Meyer), falls nicht auf die Ausübung desselben gegen Leistung einer Abgabe verzichtet wurde, die schon durch ihren Namen ihre Natur verrät: Bettmund, Jungfernzins, Hemdschilling, Schürzenzins, Bunzengroschen usw.
Es wird vielfach bestritten, daß dieses Recht der ersten Nacht bestand. Dasselbe ist manchen Leuten recht unbequem, weil es noch in einer Zeit geübt wurde, die man gern von gewisser Seite als mustergültig für Sitte und Frömmigkeit hinstellen möchte. Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie dieses Recht der ersten Nacht ursprünglich eine Sitte war, die mit der Zeit des Mutterrechts zusammenhing. Mit dem Verschwinden der alten Familienorganisation erhielt sich anfangs der Gebrauch in der Preisgabe der Braut in der Brautnacht an die Männer der Genossenschaft fort. Aber das Recht schränkt sich im Laufe der Zeit ein und geht schließlich auf das Stammesoberhaupt oder den Priester über. Der Feudalherr übernimmt es, als Ausfluß seiner Gewalt über die Person, die zu seinem Grund und Boden gehört, und er übt dieses Recht, falls er will, oder er verzichtet darauf gegen eine Leistung von Naturalien oder Geld. Wie real dieses Recht der ersten Nacht war, geht hervor aus Jakob Grimms »Weistümer«, I, 43, woselbst es heißt: »Aber sprechend die Hoflüt, weller hie zu der helgen see kumbt, der sol einen meyer (Gutsverwalter) laden und ouch sin frowen, da sol der meyer lien dem brütgam ein haffen, da er wol mag ein schaff in geseyden, ouch sol der meyer bringen ein fuder holtz an das hochtzit, ouch sol der meyer und sin frow bringen ein viertenteyl eines schwynsbachen, und so die hochtzit vergat, so sol der brütgam den meyer by sim wib lassen ligen die ersten nacht, oder er sol sy lösen mit 5 schilling 4 pfenning.«
Sugenheim Geschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft und Hörigkeit in Europa bis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. St. Petersburg 1861. meint, das jus primae noctis als ein Recht des Grundherrn stamme daher, daß er die Zustimmung zur Verheiratung zu geben hatte. Aus diesem Rechte entsprang in Béarn, daß alle erstgeborenen Kinder einer Ehe, in der das jus primae noctis geübt worden war, freien Standes waren. Später wurde dieses Recht allgemein durch eine Steuer ablösbar. Am hartnäckigsten hielten, nach Sugenheim, an dieser Steuer die Bischöfe von Amiens fest, und zwar bis zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts. In Schottland wurde das Recht der ersten Nacht von König Malcom III. zu Ende des elften Jahrhunderts durch eine Steuer für ablösbar erklärt. In Deutschland bestand es aber noch weit länger. Nach dem Lagerbuch des schwäbischen Klosters Adelberg vom Jahre 1496 mußten zu Börtlingen seßhafte Leibeigene das Recht damit ablösen, daß der Bräutigam eine Scheibe Salz, die Braut aber 1 Pfund 7 Schilling Heller oder eine Pfanne, »daß sie mit dem Hinteren darein sitzen kann oder mag«, entrichtete. Anderwärts hatten die Bräute dem Grundherrn als Ablösungsgebühr so viel Käse oder Butter zu entrichten, »als dick und schwer ihr Hinterteil war«. An noch anderen Orten mußten sie einen zierlichen Korduansessel, »den sie just damit ausfüllen konnten«, geben Memminger, Stälin und andere, Beschreibung der württembergischen Ämter. Heft 20. (Oberamt Göppingen.) Hormayr, Die Bayern im Morgenlande. Anmerkung S. 38. Siehe Sugenheim, a.a.O., S. 360. . Nach den Schilderungen des bayerischen Oberappellationsgerichtsrats Welsch bestand die Verpflichtung zur Ablösung des jus primae noctis noch im achtzehnten Jahrhundert in Bayern Über Stetigung und Ablösung der bäuerlichen Grundlasten mit besonderer Rücksicht auf Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Preußen und Österreich. Landshut 1848. . Ferner berichtet Engels A.a.O., S. 97. , daß bei den Walisern und Skoten sich das Recht der ersten Nacht durch das ganze Mittelalter erhielt, nur daß hier, bei dem Fortbestand der Gentilorganisation, nicht der Grundherr oder sein Vertreter, sondern der Clanhäuptling, als Vertreter sämtlicher Ehemänner, dieses Recht ausübte, sofern es nicht abgekauft wurde.
Es besteht also kein Zweifel, daß das Recht der ersten Nacht nicht nur während des Mittelalters, sondern noch bis in die Neuzeit bestand und eine Rolle im Kodex des Feudalrechts spielte. In Polen maßten sich die Edelleute das Recht an, jede Jungfrau zu schänden, die ihnen gefiel, und sie ließen hundert Stockstreiche dem geben, der sich beklagte. Daß die Opferung jungfräulicher Ehre auch noch heute dem Grundherrn oder seinen Beamten als etwas Selbstverständliches erscheint, das kommt nicht nur, weit häufiger als man glaubt, in Deutschland vor, sondern auch sehr häufig, wie Kenner von Land und Leuten behaupten, im ganzen Osten und Südosten Europas.
In der Feudalzeit waren die Eheschließungen im Interesse des Grundherrn, denn die daraus erwachsenden Kinder traten zu ihm in dasselbe Untertänigkeitsverhältnis wie ihre Eltern; seine Arbeitskräfte wurden dadurch vermehrt und hoben sein Einkommen. Daher begünstigten geistliche und weltliche Grundherren die Eheschließungen ihrer Untertanen. Anders gestaltete sich das Verhältnis für die Kirche, wenn sie Aussicht hatte, infolge von Eheverhinderungen durch Vermächtnis Land in kirchlichen Besitz zu bringen. Das betraf aber in der Regel nur die niederen Freien, deren Lage durch Umstände, wie sie angedeutet wurden, immer unhaltbarer wurde, und die ihr Besitztum an die Kirche abtraten, um hinter den Klostermauern Schutz und Frieden zu suchen. Andere wieder begaben sich gegen Leistung von Abgaben und Diensten in den Schutz der Kirche. Häufig verfielen aber auf diesem Wege ihre Nachkommen dem Los, dem ihre Vorfahren entrinnen wollten, sie gelangten allmählich in die Hörigkeit der Kirche, oder man machte sie zu Novizen für die Klöster.