Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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20. Nov.

In einer mittleren norddeutschen Stadt kam jemand neulich auf den Einfall, an den Litfaßsäulen Plakate mit den zehn Geboten Gottes anzuschlagen. Weder Aufschrift noch Unterschrift; nur die Worte Gottes allein. Es kamen Leute, blieben verwundert stehen, lasen, was alles der Mensch da soll und nicht soll, und die Menge der Neugierigen, Staunenden, Nachdenklichen wuchs. Viele fanden diese Forderungen übertrieben; es war ja sicher gut gemeint, aber doch eine zu starke Zumutung an den Menschen. Manche vermuteten in dem Verfasser einen jener bewundernswert rein gesinnten, aber unpraktischen Idealisten, die mit der menschlichen Natur ungenügend bekannt sind. Es wäre freilich schön, wenn der Mensch so wäre, daß er solche Forderungen erfüllen könnte, doch vorderhand ist er halt noch nicht so weit, und so weit wird er wahrscheinlich in dreimalhunderttausend Jahren auch noch nicht sein. Mit sittlichen Ansprüchen aber, denen nun doch einmal niemand gewachsen sei, werde wenig geholfen. Uebrigens gab es in der Menge einige alte Leute, die sich erinnern wollten, ähnliches früher schon einmal gehört zu haben. Nur ein junger Mensch beteuerte, fortan nicht mehr ruhen zu wollen, bis ihm der Versuch gelungen wäre, mit diesen Geboten ernst zu machen; an dem Armen sollen schon vorher Zeichen eines verstörten Wesens bemerkt worden sein und er steht jetzt unter Beobachtung. Uebrigens erschien einige Tage später neben diesem Plakat ein anderes, da pries Paul Steegemann, der geniale Verleger Dadas, Kurt Schwitters Anna Blume an, gewissermaßen die Wacht am Rhein des deutschen Dadaismus. Das interessierte doch das Volk noch mehr und da waren die zehn Gebote dann wieder vergessen.


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