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2. Januar
»Das Erkenntnisproblem. Wie man mit der Radiernadel philosophiert. Eine philosophische Trilogie mit einem Vorspiel« von Ernst Marcus (zweite verbesserte Auflage, Verlag Der Sturm, Berlin W9, 1919). Diese Schrift tut die Tat Kants dar: nämlich, daß er uns vor das ungelöste Erkenntnisproblem stellt und so dem Kopernikus, der es dereinst lösen wird, »die Basis« schafft. Was uns Kant eigentlich zu sagen hat, wird hier auf vier Seiten mitgeteilt (Seite 91 bis 95). Und klarer als von Kant selbst. Sonst wären uns alle Kantianer erspart geblieben. Hat denn aber Kant also nicht schreiben können? Ich kenne nicht viele Deutsche von seiner aufhellenden Sprachgewalt, es wäre zu seltsam, wenn er nur gerade das, worauf es ihm eigentlich ankam, nicht hätte verdeutschen können. Dann ließe sich aber nur allenfalls noch annehmen, daß es ihm eben gar nicht darauf ankam. Und er hätte vielleicht also, worauf es uns jetzt bei ihm ankommt, selber gar nicht gewußt, sondern achtlos nur so nebenher gefunden und selber den Wert seines Fundes gar nicht erkannt? Daß er sich selbst mit Kopernikus verglich, bewiese nichts gegen diesen Verdacht. Er kann das sichere Gefühl gehabt haben, ein Kopernikus zu sein, aber ohne noch zu wissen, wovon. Und eben um das zu erfahren, fing er vielleicht zu schreiben an. Vielleicht ist das überhaupt immer das geheime Motiv des Schreibens, des produktiven Schreibens: man will mehr über sich erfahren, als man weiß. Der Schaffende fühlt zunächst immer nur einen inneren Zwang, etwas loszuwerden. Was aber, weiß er noch gar nicht. Und auch nachdem er es an den Tag gebracht, erkennt er selbst es oft genug noch immer nicht. Wir wissen besser als Goethe, was sein »Faust« enthält. Um einen vermeintlichen Irrtum Newtons zu berichtigen, schrieb er die Farbenlehre, ahnungslos, daß er der Menschheit damit eine neue Weltanschauung gab. Er müßte jetzt einmal Chamberlains und Gundolfs Goethe-Bücher lesen, um sich verstehen zu lernen, wofern das nicht etwa selbst im Himmel noch seine Fassungskraft übersteigt. Und man wird geradezu behaupten dürfen, daß ein Werk, um produktiv zu sein, mehr enthalten muß, als sein Schöpfer will und weiß, es beginnt erst dort, wo der Wille seines Schöpfers verstummt. Gerade die Meister der höchsten Werke fühlen selbst, daß immer etwas ganz anderes herauskommt, als sie meinen; und eben dieses Gefühl ist es recht eigentlich, woran sich ihre Produktivität immer von neuem wieder entzündet. Plato fängt immer wieder einen neuen Dialog an, weil ihn keiner an das Ziel bringt, auf das er losgeht: der echte Meister sieht sich am Ende des Werkes stets Gott sei Dank seiner eigenen Absicht entführt. Leonardo malt bald den Dionysos, bald den Johannes, bald die Mona Lisa, doch es wird niemals der Dionysos, noch der Johannes, noch die Mona Lisa, sondern immer dasselbe Lächeln der Seele springt immer wieder daraus auf. Und wenn die bewundernswerte Deutung Johannes Aquilas (»Die Glaubensfrage«, zweiter Band des »Grundproblems der Kultur«, Karl Vogelsang Verlag, Wien, IX., Säulengasse 12) recht behält, hätte Wagner im »Lohengrin«, ohne sein Wissen, ja wider seinen Willen, den katholischen Glauben dramatisiert: Oberhaupt und Inbegriff der weltlichen christlichen Kultur wäre der König, die menschliche Vernunft Telramund, durch den Bund mit Ortrud, dem Unglauben, dem »Prinzip der Diesseitskultur«, zu hoffärtigem Aufstand gegen die ewige Ordnung verführt, Elsa die erbsündige, doch heilsdurstige und hilfsbereite Menschenseele, Lohengrin selber der Glaube, Herzog Gottfried der Seelenfriede in Gott; und Wagner, der aus dem mittelalterlichen Gedicht den Lohengrin in einer, wie er es selber nennt, »zwielichtig mystischen Gestalt« empfing, die sich ihm erst »verwischen« mußte, bevor er das »Mißtrauen«, ja den »Widerwillen« dagegen überwinden konnte, der niemals katholische, damals aber gar überhaupt ungläubige Wagner, der den Stoff entzaubert und vermenschlicht zu haben meinte, hätte, nach Aquilas Worten, »unbewußt und gegen seine ihm bewußte Geistesverfassung, getrieben von einem inneren Müssen, dessen Logik seinem Bewußtsein nicht zugänglich war, in genial-intuitiver Hingabe an den bildlichen Sagenstoff eine vom ersten bis zum letzten Wort streng folgerichtige und schärfstsichtiger Kritik gegenüber stichhaltige dichterische Bearbeitung der katholischen Dogmatik über den Glauben geschaffen.« Dies sucht Aquila nun am Texte selbst »vom ersten bis zum letzten Wort« zu beweisen, allen Einwänden, die man aus Wagners eigenen Bekenntnissen etwa dagegen vorbringen wird, im voraus mit einem geheimnisvollen Ausspruch Wagners selbst begegnend (in einem Brief an Roeckel): »Der Künstler steht vor seinem Kunstwerk, wenn es wirklich ein solches ist, wie vor einem Rätsel, über das er in dieselben Täuschungen verfallen kann wie der andere.« Hier gesteht also Wagner ein, wie wenig der echte Künstler um sein eigenes Werk weiß. »Die wahre Produktionskraft liegt doch am Ende immer im Bewußtlosen«, sagt Goethe, und: »Ich glaube, daß alles, was das Genie als Genie tut, unbewußt geschehe.« Vielleicht gerade das Genie zeigt uns am deutlichsten, wie klein auch der höchste Mensch ist: in seinen gewaltigsten Augenblicken bringt er es nur allenfalls dazu, der Apparat von Wahrheiten zu sein, deren er selbst sich so wenig bewußt wird, wie der Telegraphendraht etwa der durch ihn rinnenden Nachricht.