Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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29. Mai

Seit Burckhard fortging, ist mir kein Abschied mehr so schwer geworden wie von Willi Handl. Da zerbricht mir der reinste Spiegel; keines anderen Freundes unbestechlicher Blick gab mir je mein Bild heller durch Neigung verschönt zurück! Was sich so gemeinhin Freund zu nennen pflegt, das will doch immer etwas mit uns, wenn es nicht gar von uns etwas will; es zerrt nur an uns herum. Er aber war mir so von Herzen gut, daß er mich gelten ließ; er nahm mich hin. Doch einen Menschen hinzunehmen, und freudig, nicht mit einem duldsamen Achselzucken bloß, sondern mit der verstehenden Kraft immer bereiter, niemals eifernder Liebe, das ist fast übermenschlich. An die dreißig Jahre kannten wir uns und gleich hatten wir uns so rein erkannt, daß das Verhältnis immer dasselbe blieb; wir hatten gar nicht erst not, einander zu sehen, einander auch nur zu schreiben; das Gefühl, einander zu haben, war uns genug. Ich wurde rasch immer älter, er blieb immer jung, denn er war ein geborner Jüngling. Deshalb hat er vielleicht auch so bald fort müssen. Willi Handl als alter Herr, nein, es wäre wirklich undenkbar. Er hatte was vom ersten Morgenwind, so heimlich, eilig und gelind! Es muß gut zwanzig Jahre her sein, daß ich einmal, in die Berggasse biegend, auf ihn stieß; es ist mir unvergeßlich bis auf den heutigen Tag: er flog mit seiner jungen Braut einher, sie wirbelten nur so dahin in ihrem flüggen Glück und waren, kaum daß sie mich winkend angeblitzt, schon wieder lachend weg, wie von ihrer eigenen Seligkeit verweht, während ich, damals doch selber noch eher ein Fant, ihnen lange nachsah, fast ein bißchen neidisch; noch heute seh ich die zwei durch die Luft sausen, dahin und davon, ein tanzender Stern! Und nun gefiel es dem Schicksal aber, das so grausame Proben liebt, diesen Morgendwind, diesen Sternenglanz in die Fron des Journalismus zu spannen: Ariel als Prager Korrespondent der »Neuen Freien«! Ein Dichter ging damals verloren. Aber vielleicht überschätzen wir das, ob ein Dichter zum Dichten kommt. Vielleicht weiß das Schicksal schon, was es will. Vielleicht hat das Schicksal im Grund immer recht. Denn die heitere Würde, mit der er in dumpfer Enge doch immer auf seiner stillen Höhe blieb, nichts Aeußeres bis an sich selbst kommen und durch kein aufgedrungenes Ungemach sich im holden Wohllaut seines immer dankbaren Gemüts jemals stören ließ, der lächelnde Mut zum Leben, zu jeder Art Leben, das sichere Gefühl des eigenen Werts, das alles wies ihm einen Rang an, den man auch durch die schönsten Gedichte nicht erreicht. Niemand mehr als er hat mir den Verdacht bestätigt, von allen Künstlern sei doch, wer, statt sich erst an allerhand abgesonderten Gestalten zu verzetteln, den sogenannten »Werken«, lieber gleich dem Leben selber seine Gestalt gibt, der höchste. Und er blieb sich treu, ich habe nicht viele gekannt, denen ich das nachsagen kann. Und ich habe keinen gekannt, in dem sich die schönsten Gaben des Wieners, des echten, von der jetzt aussterbenden Art, anmutiger gesellten: der unbestechliche Blick fürs Echte, liebevoller Spott, Heiterkeit bei tiefem Ernst, gewissenhafter Leichtsinn, Urteil, das sich nicht rühren, mit Güte, die sich durch das Urteil nicht beirren läßt, so sicheres Selbstgefühl, daß es auf jede Bestätigung durch Applaus oder Erfolg verzichten kann, Ehrfurcht vor den Geheimnissen um uns, Lust an den Erscheinungen, Leid an der durchschauten Eitelkeit der Welt, das sich aber nicht viel daraus macht, und selbst bis in den Alltag hinein noch eine Nähe tragischer Empfindung, ja tragischer Erkenntnis des uns verkettenden Trugs, bei der einem zuletzt wirklich nichts übrig bleibt als geschwind noch, bevor es uns in der Hand zerrinnt, mit diesem lächerlichen lieben Nichts unseres ach! wie dummen, aber ach! so schönen Lebens ein bißchen zu spielen. Er hätte noch in der Ecke eines Stifter-Romans gute Figur gemacht. Er war einer von den letzten Oesterreichern; sie haben sich in Berlin ja noch am ehesten erhalten. Und wenn es erst gar keinen mehr geben wird, bemerkt Europa vielleicht, daß doch eigentlich schad um sie ist.


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