Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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27. Mai

Als Wilhelm Scherer, der Unvergeßliche, mit Ottokar Lorenz zusammen eine Geschichte des Elsasses schrieb, nahm er sich vor, darin einmal »die Schicksale eines bestimmten Landstrichs darzustellen wie die allseitige Entfaltung einer Persönlichkeit, eines Individuums«. Das ist jetzt bald fünfzig Jahre her und damals schrak man noch vor solcher Verwegenheit zurück, es schien noch unerlaubt dreist, Wissenschaft mit so viel Phantasie zu treiben. Es war noch ganz wie zu Goethes Zeit, dem man auch durchaus nicht zugeben wollte, »daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien«, so sehr er darauf pochte, »daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe«, und gelassen voraussagte, »daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten«. Er hat richtig prophezeit, jener Umschwung ist längst geschehen, ja man kann sagen, daß die Wissenschaft gerade die Leistungen, deren wir uns jetzt am liebsten rühmen, der immer vordringlicheren Beihilfe von Poesie verdankt, wie denn etwa die Naturwissenschaft von Jahr zu Jahr immer mehr ein spannender, höchst aufregender, abenteuerlicher Roman geworden ist, um eben die Zeit, als die Romanschreiber anfingen, immer wissenschaftlicher zu werden. Was einst Bandello oder Boccaccio, das sind jetzt Wilhelm Meyer, Bölsche, Floericke, die Erzähler des »Kosmos«, dessen amüsante Bändchen an Reiz bald selbst Karl May nicht zu scheuen haben. Unter diesen Poeten der Naturwissenschaft ist mir Raoul Francé der liebste, nicht bloß durch sein herrliches, mich seit Jahren immer von neuem wieder beglückendes »Leben der Pflanze«, sondern weil vielleicht in unserer ganzen Zeit kein anderer die Natur so sehr mit den Augen Goethes sieht. Was Goethe »wissenschaftliches Beschauen« nennt, wozu ihm das gemeine Sehen nicht genügt, sondern »die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben«, dieses Schauen ins Herz der Erscheinungen, dieses Schauen in Ehrfurcht, Andacht und Liebe, das in der Erfahrung überall nach der Idee sucht, überall das Ideelle im Reellen anerkannt, hat heute niemand reiner als dieser romantische Monist am Scheidewege zwischen Häckel und dem heiligen Franziskus. Und wie sich im ungeheuren Wogendrang seiner kosmischen Empfindung dennoch eine fast pedantische Strenge des Details aufrecht hält, das ist unvergleichlich: jedes Insekt spricht ihm von Aeonen, doch vergißt er nicht, auch an der Ewigkeit noch die Staubfäden zu zählen; er bleibt auch als Visionär noch von der peinlichsten Akribie. Jetzt aber hat er sein Meisterstück erbracht: »München. Die Lebensgesetze einer Stadt« (Verlag Hugo Bruckmann, 1920). Das ist eigentlich eine Falschmeldung, denn im Grunde geht es hier ja gar nicht um München, und es geht nicht um die Lebensgesetze dieser einen Stadt, sondern das Gesetz, nach dem überhaupt Städte leben, will er zeigen, München ist nur ein »Gleichnis«, es ist ihm nur ein Beispiel: indem er uns das »Gesetz« erkennen läßt, wodurch München eben das werden mußte, was es ward, sollen wir ein höheres Gesetz empfangen: das der »Einheit von Natur und Kultur«. Ein ganz dünner Faden ist es, den er spinnt, aber daran hängt ihm die Welt, und so hängt er auch das Schicksal Münchens aus Urzeiten bis auf den heutigen Tag daran. Im Geologischen ruht der Bios Münchens, den er nun aus dem Edaphon durch Pflanze und Tier über den Menschen der Urzeit in wechselnden Rassen bis in die Gegenwart verfolgt. Ihm enthält die Bodenkarte den Schlüssel zum Fatum der Stadt. Schon Klima, Flora und Fauna zeigen ihm München als Fremdenstadt. Es ist schon, bevor es Stadt ist und bevor es Fremde hat, für Wetter, Flora und Fauna eine Fremdenstadt. Es hat fünferlei Boden, so hat es auch fünferlei Floren und Faunen. Und ganz ebenso hat es heute noch fünf Typen von Menschen: einen »Schottermenschen«, den Alt-Münchner, einen »Lehmmenschen«, den Vorstädter, vom Süden her einen »Moränenmenschen«, den Oberlandler, von Nordwest her einen »Moormenschen«, den Dachauer und schließlich, wie schon Fauna und Flora von Gästen wimmeln, auch noch einen »Zugroasten«, den Schwabinger. Wie die Moorgewässer andere Wesen enthalten als der auf Lehm ruhende Westen und Osten der Stadt, und wieder andere der Schotter der Altstadt, dieselben Unterschiede zeigt er uns auch in der äußeren Erscheinung, im inneren Sinn, in der Tracht, in der Mundart, in den Gewohnheiten der Menschen jeder Schicht bestätigt. Alles wäre dann unausweichlich von aller Ewigkeit her vorbestimmt mit einer so furchtbaren, unerbittlichen Gewalt tragischer Ananke, daß dagegen der Fatalismus Zolas etwas kindisch Rührendes hat; und dem lieben alten Wörtchen Freiheit bliebe kein noch so winziges, engstes Eckchen mehr in dieser grauenhaft jansenistischen Welt. Ich begreife nicht, wie man auch nur einen Tag noch mit solchem Dogma weiterleben mag; es lohnte sich mir dann nicht mehr, morgen die Strümpfe wieder anzuziehen. Aber was als Dogma mir unerträglich wäre, mag ich gern als höchst fruchtbares Aperçu gelten lassen, als methodischen Behelf zur Ordnung unserer Erfahrung, die, zur Abwechslung auch einmal so angesehen, uns manches Geheimnis verrät; und morgen wollen wir sie uns dann aber wieder anders ansehen! Das Aperçu verliert dadurch nicht an Wert; man darf ja nur, wie Goethe gegen Newton bemerkt, ein Aperçu nicht »erstarren« lassen. Wenn Francé sich am Schlusse dieses wunderbaren Buchs rühmt, eine neue Kulturwissenschaft sei damit geschaffen, so darf er das mit vollem Recht: wer uns einen Faden gibt, Erscheinungen wieder einmal anders zu reihen, schafft eine neue Wissenschaft, denn wir nähern uns dadurch immer dem Geheimnisse wieder von einer anderen Seite. Das Geheimnis hat ihrer so viele, daß es uns nie an neuen Wissenschaften fehlen wird. Wir werden uns immer wieder von einer anderen Seite nähern und das Geheimnis wird bleiben. Wenn er freilich durch diese seine neue Wissenschaft die »von der Menschheit in namenlosen Schmerzen gesuchte Harmonie mit dem Unendlichen« erreicht glaubt, so vergißt er, daß Erkenntnis dazu niemals genügt, solange sie nicht unmittelbar durch die Tat erlebt wird. Jene Harmonie will nicht bloß erkannt, sie will vom Menschen selbst getan sein. Sonst schließt »die hohe Intuition« auf eine Art, die schon Mephisto nicht sagen durfte, sondern nur andeutet mit einer Gebärde, die den Faust ausrufen läßt: »Pfui über dich!« Aber zur lebendigen Tat dieser Harmonie kann ich mir freilich einen schöneren Weg nicht leicht denken als durch diesen sternenhellen Münchener Roman.


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