Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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16. Oktober

Vor Jahren ging ich einst nescio quid meditans nugarum durch die Stadt Graz dahin, als ich mich, unweit vom Joanneum, auf einmal von einem erstaunlichen Geschöpf angesprungen sah, das mit Gebärden, die den Taubstummen verrieten, ungestüm, zugleich aber so bezaubernd herzlich in mich drang, mitzukommen, daß ich nicht widerstehen konnte: die Stille der leeren Gasse, die Jugendglut in den Augen des unverhofften Gefährten, das Märchenhafte der ganzen Begegnung sind mir unvergeßlich. Es war Gustinus Ambrosi, der ja seitdem in Wien zu einer nicht ganz ungemischten Berühmtheit gelangt ist; in Wien bricht Ruhm oft über jemand herein, einen Unschuldigen oder einen Schuldigen, um ihn dann zuweilen ebenso plötzlich wieder zu verlassen, als er ihn unverhofft heimgesucht hat. Nun ist eine Ambrosi-Mappe (Verlag Eduard Strache, Wien und Leipzig) erschienen, mit einem Geleitwort Felix Brauns. Es sind teils Bildnisse, teils Visionen. Da denkt man oft auf den ersten Blick, an Michelangelo, noch öfter an Rodin. Mir wäre doch eigentlich lieber, man dächte dabei gleich an Ambrosi. Den aber fühlt man nur. Daß man ihn immer wieder fühlt, daß er in den fremden Sprachen doch Eigenes zu sagen hat, daß aus dem Aufwand erborgter Gebärden hervor zuletzt doch immer wieder das Antlitz ganz persönlichen Leids, ganz persönlicher Lust mit unvergeßlich reinen Zügen emportaucht, das macht mir diesen wngewissen Künstler menschlich so wert. Selbst im Kitsch noch, zu dem er eine fatale, modern italienisch anmutende Neigung hat, bleibt er edel; und es hat etwas Rührendes, von welcher Unschuld auch seine Posen noch sind. Ein wunderschöner Mensch, knabenhaft nach Größe verlangend, in der Empfindung sicherlich ganz echt, läßt sich vielleicht von jugendlicher Ungeduld, vielleicht auch nur von seiner allzu geschickten Hand, gewiß ganz unbewußt, zum Bluffen verlocken; es ist gar nicht so selten, daß gerade sehr vornehme Menschen künstlerisch unehrlich werden (und menschliche Gaukler hinwieder oft die lautersten Künstler). Es könnte freilich aber auch sein, daß er, was gerade vielfältig Begabten in der Ratlosigkeit ihres Reichtums leicht geschieht, daß er einfach an die falsche Kunst geraten ist, daß Bildhauerei nicht seine Muttersprache wäre. Ich erinnere mich, daß ich schon in Graz damals irgendwie zunächst auf einen Musiker riet, und seine der Mappe beigefügte Photographie bestätigt mir diesen Verdacht durch die Musikern eigentümliche Neigung des gleichsam von inneren Gewalten niedergezogenen Kopfs (den der trotzige Beethoven freilich gerade darum selbstüberwindend zurückwarf) und durch den Musikermund, der zu lauschen scheint. Und Ambrosi bildet nicht bloß, er dichtet auch; und selbst wenn er zu bilden meint, wirds zuweilen fast eher zum Gedicht. Hat er nur die für ihn bestimmte, gerade seiner Eigenart gemäße Kunst noch nicht gefunden oder genügt ihm keine, braucht er alle? Braucht er alle, weil er für jede einzelne zu reich oder weil er für jede einzelne zu schwach ist? Stürzt sein Pathos aus innerem Ueberschwang hervor oder aus einer Ohnmacht? Und wenn er sich immer wieder ins Theatralische verliert, ist er innerlich so viel, daß er, was er ist, auch noch spielen muß, um sich ganz auszudrücken, oder spielt er, weil ihm, was er ist, zu wenig ist? Da wären wir wieder vor der Grundfrage seiner, der neuen Generation: Hat sie recht, wenn sie vom Künstler verlangt, jede Möglichkeit, die sich jemals, seis auch nur als Wunsch, in ihm ankündigt, um jeden Preis, seis auch um den der Selbstvergewaltigung, zu verwirklichen, oder hatte doch vielleicht eher meine recht, die sich beschied, niemals bis an ihr Ende zu gehen, es sich lieber leicht zu machen, aber in ihren bequem gezogenen Grenzen das Vollkommene von sich zu verlangen? Es hat fast etwas Heroisches, wie jetzt jeder junge Bildhauer nach der Stirne Michelangelos, jeder junge Dichter nach der Stirne Pindars um den Lorbeer greift, aber ich weiß nicht, ob ich nicht lieber als ein halber Pindar doch ein vollkommener Kotzebue bin. Uebrigens, Pindar: der Inselalmanach auf das Jahr 1921 enthält einen sehr merkwürdigen Aufsatz Franz Dornseiffs (aus einer Einleitung zu einer neuen Übertragung) wonach Pindar selber das, was wir unter »pindarisch« zu verstehen seit Klopstock gelehrt worden sind, gar nicht wäre, sondern in seinen »reif archaischen Festliedern für vornehme Sportsieger des V. Jahrhunderts« erklängen die »frühen einfachen Töne des unberührten griechischen Mittelalters«, dieses spricht aus Pindars »Textbüchern zu Kantatenaufführungen« noch ein letztes Mal »mit ernster spröder Stimme«, seine Welt ist der griechische Land- und Geldadel, eine Oberschicht, deren Anfänge wir in der Odyssee sehen, »er pflegt noch die alte, feine, etwas gezierte Kunst, die eine ganz bestimmte gute Gesellschaft« voraussetzt und unterhalb ihres Standes nichts kennt«. Danach müßten wir von Dornseiff zum erstenmal einen leserlichen deutschen Pindar erwarten dürfen. Herrlich! Denn mir ist's, wenn ich mich an der Urschrift zerquält hatte, dann aber nach der berühmten Uebersetzung des wackeren alten Friedrich Tiersch um Hilfe griff, bisher immer wieder passiert, daß ich da wirklich noch eher das Original verstand.


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