Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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28. April

Einem jungen Dichter, der sich zutraut, mythische Gestalten abgeschiedener Zeiten durch einen Hauch der unseren zu beleben (wie das Walter Eidlitz in seinem Moses, in seinem Herostrat versucht hat), wüßt ich jetzt einen guten, zum Ausdruck gerade dieser Stunde bereiten, nur auf den Weckruf wartenden Stoff: den Herakles beim Syleus. Das ist ein Fragment des Euripides, von dem bloß, durch den Philo Judaeus, ein paar Zeilen erhalten sind, genug, um uns das Ungeheure der Situation fühlen zu lassen: Herakles, der geborene Herr, wird einem gemeinen lydischen Mann untertan, der freie Herakles wird des niedrigen Syleus Knecht. Und das Stück besteht nun eben darin, daß wir mit Augen sehen, wie dies gar nichts ändert: Herr bleibt auch als Knecht der Herr, der Gemeine bleibt gemein, äußeres Schicksal kann der inneren Bestimmung nichts anhaben; Gewalt wird in ihrer ganzen Ohnmacht gezeigt. Denn eher, sagt Herakles dem Lydier, eher werden die Sterne sich unter der Erde verkriechen, eher steigt die Erde zum Himmel empor, als daß du mich mit einem Wort dir huldigen hörst! Und Hermes steht dabei, den Herakles preisend, den keine Niedrigkeit erniedrigen kann. Ja, der Syleus selbst, der arme Kerl, muß zugeben, mit einem Knecht, der besser als sein Herr ist, sei nichts anzufangen; und dich, gesteht er dem Herakles, braucht man ja bloß anzusehen und jeder erschrickt, solche Flammen sind in deinen Augen, und auch wenn du schweigst, sagt dein Geist, daß du nie gehorchen, sondern immer herrschen wirst. Wie das schließlich beim Euripides ausging, wissen wir nicht, aber es muß den Sinn der Griechen unvergeßlich bewegt haben, denn es kehrt, aus dem Erhabenen ins moralisierend Lehrhafte zugespitzt und mit einer Schlußwendung ins bürgerliche Rührstück, als eine der Anekdoten wieder, die der Boulevard von Athen um die dankbare Gestalt des hündischen Diogenes spann. Von diesem wird nun genau dieselbe Geschichte des Herakles erzählt: auch aus ihm vermag keine Knechtschaft einen Knecht zu machen. Auf der Fahrt nach Aegina von Seeräubern gefangen, wird er auf den Sklavenmarkt Kretas gebracht; einer geht vorüber und hätte Lust, ihn zu kaufen, will sich aber erst vergewissern, wozu der Bursche wohl nutz ist, und fragt ihn, was er denn eigentlich kann. »Menschen beherrschen«, antwortet ihm Diogenes. Das verlangt sich der aber gar nicht und geht weg. Indessen kommt ein reicher Korinther des Weges, den winkt Diogenes her und sagt ihm: »Kaufe mich, du wirst es nicht bereuen, denn du brauchst einen Herrn!« Und siehe, der stolze Korinther kauft ihn richtig, bringt ihn heim und setzt ihn zum Herrn über sein Haus, sich selber wie seinen Söhnen und dem ganzen Anwesen zu hohem Segen, so daß sie sich, als nach Jahren der herrische Knecht stirbt, über seinen Verlust alle gar nicht trösten können. Hier ahnen wir, was diese Geschichte dem Griechen eigentlich bedeutet, was er mit ihr im Grunde meint: sich selber, sein eigenes Schicksal, seine Selbstzerstörung, aber auch seine sogar mitten in der Selbstzerstörüng noch fortwirkende, sogar noch eben diese Selbstzerstörung wieder überwindende Selbstbehauptung sieht er in jener Geschichte symbolisch verklärt voraus. Denn derselbe ruhelose Geist, durch den Griechenland zersetzt worden ist, stellt es nun auf einer höheren Stufe ja wieder her: als dem Griechen nichts mehr bleibt, weist ihn der Geist auf einen unzerstörlichen Besitz, er weist ihn ins eigene Selbst zurück; er hat ihn um alles gebracht, aber dann gibt er ihm auch einen dies alles ersetzenden Begriff dafür: den der inneren Autarkie. Freiheit, Vaterland, Würde, Macht und Recht hat dies Griechenvolk durch eigene Schuld verwirkt, zum Unkraut aller Völker ist es worden; da, jeder sinnlichen Gegenwart beraubt, holt es sich seine Zukunft aus dem Geiste: gerade dieses sinnlichste Volk entdeckt die Seele. Was die Griechen uns noch heute sind, gerade das wurden sie doch eigentlich erst, als sie nichts mehr waren. Was wäre das Abendland ohne Aristoteles, was wären wir ohne Plotin? Und war nicht der Hellenismus der erste weltgeschichtliche Versuch eines Barock? Dies alles aber ist in jener Geschichte schon ahnungsvoll angekündigt, in der Geschichte vom Herrn, den keine Knechtschaft knechten kann, weil, was einer an sich selber hat, vom äußeren Schicksal unbedingt bleibt. Es zeigt die ganze Genialität des Griechen, daß er sich das schon im voraus sagt, lange bevor er es eigentlich nötig hat. So genial sind wir nicht. Jetzt aber wären doch auch wir so weit, daß auch wir uns endlich auf uns selbst besinnen müßten, auf unseren inneren Besitz, auf das, was keinem Volke, selbst wenn ihm das Vaterland unter den Füßen zergeht, genommen werden kann. Wohlan, ihr jungen Dichter, greift ihn auf, den Herakles bei Syleus, den Diogenes in Korinth, es soll euch nicht gereuen! Er hätte doch auch noch das für sich, daß er so vieldeutig ist; jeder im Publikum wird sich was anderes darauf reimen können. Der Alldeutsche nationalistisch: wir das Herrenvolk, Syleus der Franzos, Hurra! Doch es ließe sich auch ins Soziale kehren und auf den Edelmann anwenden, dem man den Adel abspricht und der doch, auch wenn man ihm noch dazu sein Gut nimmt, edel bleibt, weil ihm, selbst wenn er einwilligt, gemein zu werden, dies beim besten Willen so wenig gelingt als dem Schieber, sich ein fürstliches Dasein zu kaufen: die Macht des Bluts stände der Ohnmacht des Geldes gegenüber. Ich aber, wenn ich ein junger Dichter wäre, drehte mir den Stoff so, daß der Herakles gar nichts dagegen hat, Knecht zu werden, warum denn nicht? zur Abwechslung einmal; und so sagt er mit der Kundry freudig: »Dienen, dienen!« Und eben dieser dienstbereite Sinn wärs, wodurch er seinen eingeborenen Adel, wodurch er sich als Herrn zeigt. Ja mir geschähe, wie ich mich kenne, sicherlich, daß ich das Stück auf den Kopf stellte: jener Diogenes, der protzend verlangt, »Menschen zu beherrschen«, wäre mir wirklich, was er in Athen hieß: ein Hund, und der andere, der Korinther, der lächelnd einwilligt, einen Sklaven als Herrn über sich und sein Haus zu setzen, der wäre mir der wahre Herr und er würde mir, ich wette, unter der Hand natürlich wieder zum »Unmenschen«, zum Dr. Jura aus dem »Konzert«, mit dem Ergebnis, das eben hier auf Erden schon einmal den geborenen Herren meistens die Rolle des Knechts und den geborenen Knechten die des Herrn vom launischen Schicksal zugeteilt wird, was auch viel lustiger ist und an der Wirklichkeit ja nichts ändert, weil doch selbst in der Rolle des Knechts der geborene Herr stets am Ende wieder den geborenen Knecht beherrscht; und das Glück für beide ist nun: der Herr merkt's, der Knecht aber nie, denn daran allein erkennt man die geborenen Herren, daß sie sich ja nichts merken lassen!


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