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9. Januar
In den Mitteilungen der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft zu Frankfurt am Main findet sich ein höchst merkwürdiger Beitrag von Cornel Schmitt und Hans Stadler über den »Amselgesang und seine Beziehung zu unserer Musik«. Schon Bernhard Hoffmann, in seinem Buch »Kunst und Vogelsang«, Alwin Voigt, im »Exkursionsbuch für Vogelstimmen«, Oppel in einem Aufsatz über »Kuckucksruf und Amselschlag«, hatten eine Art Musikgeschichte der Vogelwelt versucht (in der, nach Oppel, die Singdrossel die Stelle Mozarts einnimmt, während er in der Amsel einen Richard Strauß zu hören meint), hier aber können wir jetzt die liebe Künstlerin an ihrer Arbeit belauschen. Diese fängt als »leises Studieren« an, die Amsel übt sich erst »plaudernd« ein, bevor ihr Vollgesang erschallt. Dieses »Plaudern« klingt zunächst ganz schüchtern, um eine Oktave höher, als sie später singt, mit vielen Pausen und noch ohne rechtes Selbstvertrauen, anderen Vogelsang nach dem Gehör nachahmend. Erst allmählich, durch solche Vorübungen sicher geworden, wagt sie sich selber auszudrücken und versucht ein eigenes Motiv, das sie bald immer kühner recht nach der Kunst abwandeln lernt; die Schwestern hören es ihr rasch ab und eignen es sich an, wobei sie ganz menschlich verfahren und auch den banalen Einfall dem feineren vorziehen. Beobachtung hat ergeben, daß auch unter den Amseln immer das »musikalisch Wertlose« den größten Erfolg hat. Beobachtung zeigt ferner, daß der Amselgesang »nichts Bleibendes« ist, er wechselt von Jahr zu Jahr, von Ort zu Ort, von Amsel zu Amsel, »wenn er auch gewisse Aeußerlichkelten wie die Triolenmanier, das Punktieren, das Benutzen der Akkorde, die steigende Tendenz des Schlusses beibehält.« Der Triller ist der Amsel versagt, den haben nur Nachtigall, Buchfink und Waldkauz; auch das Crescendo, worin die Nachtigall Meisterin ist, kennt die Amsel nicht. Jeder junge Frühling bringt ihr neue Motive, von denen dann eins oft den ganzen Sommer beherrscht, das Jahr darauf aber in derselben Gegend nicht mehr gehört wird. Reizend ist die Schilderung einer Singschule von Jungamseln, die stundenlang um die Wette bis zur Heiserkeit üben, in der Mittellage meistens bald sicher, aber noch die Höhe verfehlend, unermüdlich immer wieder von vorn beginnend, bis es ihnen schließlich doch gelingt, den vorsingenden Eltern Tonlage, Rhythmus und Intervalle abzuhören und die Linie ganz rein getroffen wird. Nun fanden die Beobachter aber unter den Amselmotiven auch allerhand altbekannte Melodien: »Du lieber Schwan«, »Auf in den Kampf«, »Ich bin die Tochter des Regiments«, »Puppchen«, »Brüderlein fein«. Wie soll man das erklären? Hat der Komponist sein Lied einmal von einer Amsel gehört oder hört sie's den Menschen ab? Die Beobachter haben einmal eine der alten Kirchentonarten, die man die myxolydische nennt, von Amseln gehört, und es wäre möglich, daß wir überhaupt die alten Kirchentonarten dem Vogelsang verdanken. Wahrscheinlicher aber ist, daß die Amsel stiehlt, nicht der Mensch. Sie zeigt auch sonst Neigung dazu: Das Personal der Eisenbahn in Basel ist eine Zeitlang bei der Arbeit des Verschiebens durch Nachahmung der üblichen Signalpfiffe gefoppt und gestört worden; man argwöhnte Bubenstreiche, fand aber dann, daß es Amseln waren, deren »Meisterschaft so weit ging, daß sie verstanden, getreu verschiedene individuelle Eigentümlichkeiten nachzuahmen, die das Personal beim Pfeifen sich angewöhnt hatte . . .« . . . Mir bestätigt dieser Aufsatz auch wieder, wie recht ich habe, wenn ich unser ganzes Verhältnis zu Tieren falsch finde, weil es ja viel zu wenig individualisiert. Man sagt mir nach, ich sei ein Hundefreund, und wundert sich, wenn ich dann ärgerlich antworte: Mit einigen Hunden bin ich sehr befreundet, andere sind mir gleichgültig und manche kann ich nicht ausstehen, das kommt nämlich ganz auf den Herrn Hund an! Aber wir sind so gewohnt, nur noch in Abstraktionen zu leben, daß wir uns überall an die Gattung halten, ein bloßes Gedankending, von uns ersonnen zum Schutz gegen das Individuelle, dessen urlebendige Kraft uns den Atem nimmt. Das Ziel aller Erziehung scheint im Grunde doch immer nur, daß uns die Wirklichkeit eskamotiert werden soll: der Hund, die Katze, das Veilchen, lauter Abbreviaturen der Natur, in denen kein Leben mehr schlägt. Den Hund, die Katze, das Veilchen, den Wind, die See, das Morgenrot, dies alles gibt es ja gar nicht als nur bei Gott allein: in der Idee, doch sobald sie dann uns erscheint, verschwindet sie, sie selbst erscheint uns ja nie, sondern was uns erscheint, ist immer etwas ganz Singulares, Einmaliges, Unwiederholbares, um dessen Seligkeit wir uns nun betrügen, wenn wir Verbildeten überall nur noch das Einerlei von abgezogenen ausgetrockneten Typen sehen. Wie singt die Amsel? Eine herrlich, die nächste miserabel, es kommt ganz auf das Exemplar an, ebenso wie's bei den Menschen auf das Exemplar ankommt, nicht aber darauf, ob er ein Engländer, ein Deutscher oder ein Neger ist. Indem wir aber als Kinder schon uns mit so groben Sortierungen, als: dies ist ein Frosch und das ein Planet! begnügen lernen, verarmt die Welt für uns und wir fühlen ihr höchstes Wunder nicht mehr, nämlich: daß alles in ihr ein Unikum ist, nicht zwei Tautropfen einander gleich, aber freilich jedes dieser unersetzlichen Unika zugleich auch wieder ein Analogon aller – wer die Kraft hätte, daß er den Doppelsinn aller Kreatur, ganz Unikum und doch aber durchaus Analogon zu sein, durchdringen könnte, dem würde das Geheimnis der Erscheinung offenbar.