Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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28. Nov.

Im Oktoberheft des von Otto Kaus herausgegebenen »Sowjet« werden Betrachtungen über die Schundliteratur angestellt, zu der »Ungebildete« ja genötigt sind, so lange die Kunstliteratur sich einer Geheimsprache bedient. Und merkwürdig sei, daß gerade »je universaler die Weltgemeinschafts- und Verbrüderungsgefühle werden, welche in den letzten Jahren viele Autoren von sich aussagen, desto exklusiver die Form und die Sprache wird, in der sie es tun, bald versteht sie nur mehr ein ganz kleiner Kreis von Eingeweihten: der Dichter schließt jedes atmende Geschöpf in seine Seele ein, aber die Kluft zwischen den Millionen unterdrückter Menschen und seinem Buch ist unübersteigbar.« In der Tat ein schreiendes Mißverhältnis: immer klarer empfinden schon seit den achtziger Jahren die Geistigen den unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem Geist und allen irdischen Gewalten, immer mehr hoffen sie, vertrauen sie nur noch auf das Volk, aber indem sie sich dem Volke darum immer mehr zu nähern trachten, finden sie sich von ihm nur immer weiter entfernt, weil sie ja, mit ihm fühlend, mit ihm denkend, doch längst nicht mehr mit ihm reden können. Die Sprache ist ein Verkehrshindernis geworden, und zwar, wunderlich genug!, gerade seit die »Gebildeten« und das Volk begannen, ungefähr dieselben Worte zu gebrauchen. Im Mittelalter schied sich die Mundart der Wissenschaft und der Kunst noch rein von der des Volkes: der Denker wie der Dichter sprach Latein, das Volk mit der Zunge seines Stammes. Das Unglück fängt erst mit dem »Schriftdeutsch« an, das der »Gebildete« von vornherein verdirbt, weil er unwillkürlich aus dem Latein, das er gewohnt ist, unheimische Bräuche hereinträgt, weil er es unwillkürlich lateinisch »konstruiert«, wodurch es denn gleich von Anfang an dem Volke verdächtig ist und immer unbehaglich bleibt, ja fast unheimlich. Daß die Sprache des deutschen Denkers, des deutschen Dichters zwar der Sprache des Volkes ähnlich klingt, aber befremdend und anstrengend für das Volk, daß sie dem Volke von obenher klingt, daß es das Gefühl hat, dazu stets erst sozusagen den Hut abnehmen zu müssen, das erschwert unter uns jede Verständigung zwischen Geist und Volk. So blieb uns kein Ausweg als der in die Musik, die denn auch den Deutschen zm Muttersprache geworden, ja die das einzige Gemeingut aller Deutschen ist, das einzige, was sie sich als Nation fühlen läßt; ihre gemeinsamen Angelegenheiten sind immer nur von der deutschen Musik besorgt worden. Und nur, wenn die Dichtung sich der Musik nähert oder aber aus den alten Brunnen der Mundarten schöpft, kann sie hoffen, auch über den engen Stand der »Gebildeten« hinaus zu wirken, nicht bloß Staunen und einen dürftigen Respekt des Volkes erregend, sondern es ins Herz treffend. Wer im Dialekt dichtet, heißt bei uns ein Volksdichter; das ist bezeichnend: fast als ob wir uns überhaupt nicht vorstellen könnten, daß auch ein hochdeutsches Gedicht einmal ins Volk geht. Und wie dicht an der Mundart hält sich der »Sturm und Drang«, wie wunderlich fällt dem jungen Goethe gleich immer wieder der Volkston ins pindarisch angestimmte Wort, wie hängen Brentano, die Brüder Grimm, Görres, Uhland, ja Mörike noch an den Lippen des Volkes! Und ebenso dann doch auch wieder Arno Holz und der junge Hauptmann! Inzwischen aber war im »Jungen Deutschland« aus dem Dichten und dem öffentlichen Reden ein Beruf, ein Gewerbe geworden, worin nun, wer es trieb, vor allem auffallen wollte, um die Kundschaft anzuziehen: es entstand der »Literat«, dessen Wort überhaupt nichts mehr zu sagen hat, sondern nur noch glänzen soll, ihn schmücken, sein Geschäft vor anderen auszeichnen, eigentlich also nur als wohlarrangiertes Schaufenster wirken soll. So wird die Sprache jetzt zum Plakat, das seine Schuldigkeit getan hat, wenn es nur grell und schrill genug ist, um den vorübereilenden Passanten so zu verblüffen, daß er vor Schreck einhält und neugierig aufblickt. Die Sprache hört auf Mitteilung zu sein, sie ist nur noch Anruf. Wie jene modischen Namen, aus den Anfangsbuchstaben von Worten gebildet, Aege oder Oaka oder Dete, sinnlos, nichtssagend, aber eben durch ihre Fragwürdigkeit aufreizend, so verliert auch die Sprache selbst allmählich jeden eigenen Sinn, sie tut den Dienst der Verständigung nicht mehr, ihr eigentlicher Reiz wird jetzt, unverständlich zu sein, so völlig, daß man händeringend fragt, was denn dies um Gottes willen zu bedeuten habe! Der »Ausdruck« emanzipiert sich immer mehr von jedem Inhalt, der Ausdruck drückt nichts mehr aus, der Satz wird zur Charade, die Literatur zur Rätselecke der Nation. Nur einer Zeit, die bloß noch der Ungewißheit alles Daseins gewiß war, an gar nichts Festes, den menschlichen Vereinbarungen Entrücktes mehr glaubte, ja den bloßen Begriff der Wahrheit, einer wirklich wahren, einer sich auf alle Fälle, selbst ohne Zustimmung und ohne Zutun des Menschen, ja gegen diesen bewährenden Wahrheit verloren hatte, konnte dies erträglich sein. Jetzt aber taucht aus ihr eine neue Jugend hervor, wieder nach Sinn, Gehalt und Bedeutung des Lebens, nach etwas Standhaftem und Stichhaltigem in uns, und nicht bloß in, sondern auch über uns verlangend, und gerade dieses ungeheuere Verlangen nach Ernst, nach dem tiefsten innern Selbst der Erscheinungen sieht sich nun an diese ganz zum bloßen Spiel, ganz Willkür und Eigensinn und Laune gewordene Sprache gewiesen, ja selber in ihre Fallen verfangen! Ein Geschlecht, zum Bersten voll von dem, was es alles zu sagen hat, soll dies in einer Sprache, deren stärkster Reiz es ist, ganz nichtssagend geworden zu sein! Das ist der höchst paradoxe Fall des Expressionismus: er muß sich jetzt erst wieder eine Sprache schaffen, eine nicht bloß in sich mit sich selber spielende, sondern ausdrückende, mitteilende, verständigende Sprache. Die Gefahr ist, daß er dabei selber auch wieder an eine willkürliche, statt der notwendigen, gerät. Und recht eigentlich die Lebensfrage der Expressionisten ist es darum, ob unter ihnen ein Sprachgenie sein wird, ein schöpferisches, das wieder einmal dem verborgenen Quell den Urlaut unseres Volkes abzuhören vermag, wie Luther einst, wie der junge Goethe, wie die Brüder Grimm. Aber bisher hat diese neue Jugend noch immer die Sprache nicht wiedergefunden, sondern auch wieder nur ihren Jargon. Denn wirklich in den Jargon, in ein Rotwelsch, einen Slang, wenn auch sehr preziöser Art, gerät die Rede der Expressionisten unwillkürlich immer wieder. Das hat seinen Reiz, denn es zwingt den Hörer, wenn er halbwegs einen Sinn erraten will, zu hochgespannter eigener Mitarbeit; er ist schon sehr stolz, wenn es ihm nur ungefähr gelingt, sich überhaupt irgend etwas dabei denken zu können. Gerade dem Redner aber, der wirklich etwas zu sagen hat, wird diese Zweideutigkeit aller Reden zum Hindernis, er ringt vergebens mit ihr und leicht geschieht's ihm, daß er an ihr erstickt. Das empfand ich jetzt wieder sehr stark beim Lesen der »Geburt« von Fritz Uhl. Dieses ist offenbar eine der großen Abrechnungen, womit hochgesinnte Jünglinge beim Eintritt ins Leben, bevor sie sich es nun aneignen und es für ihre Sendung gebrauchen werden, gern noch einmal alle Vergangenheit um sich versammeln, zum Abschied noch einen letzten Blick auf die Welt, wie sie vor ihnen war, werfen und sie dann entlassen, tief bei sich gewiß, daß jetzt, mit ihnen selbst, eine neue beginnt. Dieses Gefühl der Berufung zum Richteramt über die Gegenwart, zur Entscheidung, wie viel vom Erbe der Väter Geltung behalten, wie viel verworfen werden soll, zur Gesetzgebung der Zukunft, ein Gefühl, das recht eigentlich die starken Generationen ankündigt und von den bloß übernehmenden, bloß vermittelnden unterscheidet, gibt sich in Uhls rhapsodischem Entwurf (den er selbst eine »Komposition« nennt, damit eingestehend, daß er über allen bestimmten Gattungen vagiert) mit großer Willenskraft kund. Etwas gewaltiges fühlt der Leser hier unternommen, es treibt ihn, atemlos taumelt er mit, von Seite zu Seite gewärtig, daß Ungeheures geschehen wird. Geschieht es? Ja, das weiß ich eben eigentlich nicht! Ich blieb, wenn ich ganz aufrichtig sein soll, zuletzt erschöpft zurück, als ob ich Großes erlebt hätte, doch nur in einem Traum, auf den ich mich aber erwachend dann durchaus nicht mehr besinnen konnte, von dem ich nichts als Schweiß, eine nachzitternde Furcht und das Aufatmen, entronnen zu sein, behielt. Und fraglich ist, ob vielleicht auch der Dichter selbst sich seines Traumes nicht mehr erinnern kann oder aber bloß noch nicht die Kraft hat, ihn in Gestalt zu beschwören. Die Schönheit dieser Dichtung ist ihr stolzer Schritt, ihr Eilmarsch: sie geht so tapfer darauf los, sie geht im Sturm entgegen! Aber wem? Wohin? Es mag an mir liegen, daß ich das nicht weiß, ich alter Mann. Die Jugend mag diesen jungen Dichter besser verstehen, weil sie ja, was er zu verkünden hat, alles schon selber weiß. Wozu dann aber eigentlich erst noch überhaupt Verkündigung, wenn sie nur den erreicht, der sie schon selber hat? Gerade weil ich so stark das Eigenwort dieser Jugend auf ihren Lippen liegen fühle, kann ich mir nicht daran genügen lassen, daß sie nur immer heftig winkt und große Zeichen ihrer Aufregung gibt: es wird Zeit, daß sie sich mitteilen lernt! Der Augenblick ist zu groß, als daß diese Jugend, die jetzt über unsere Zukunft, ja vielleicht, ob uns überhaupt noch eine Zukunft beschieden ist, entscheiden wird, ihre geistige Wirkung auf einen geheimen Kreis von Adepten oder Mitverschworenen beschränken dürfte! Zum erstenmal wagt unsers deutsches Volk jetzt, selbst sein Schicksal aus eigener Kraft frei zu bestimmen. Der Dichter ist der geborene Vertrauensmann des Volkes, sich selber will es von ihm ausgesprochen hören! Was aber sollen uns da Dichter, die das Volk sich erst übersetzen lassen müßte?


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