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Im Oberamt Crailsheim liegt, ein wenig abseits des Schienenstrangs, im grünen, stillen Tälchen des Speltach in verborgener Einsame, umsäumt von Wald und Wiesenland, der gründische Brunnen. Von dem geht in der Gegend das Wort, daß noch niemals ein forschender Mensch seinen Grund gefunden habe, und daß seine Wasser Gegenstände, und wären sie auch schwer, nicht untersinken lassen. Wer es versucht und einen Stein in den Born wirft, wird tatsächlich staunen, wie langsam und bedächtig der zur grünen Tiefe geht: das macht, daß die Wasser mit ziemlich starkem Druck zur Höhe quellen. Als einmal ein Müllerknecht mitsamt seinem Fuhrwerk das Unglück hatte, im tückischen Brunnen seinen Untergang zu finden, da trug, die Quelle den Leichnam auf der Oberfläche, und als ein andermal ein Lebensmüder sich vor den Übeln der Welt ins kühle Reich der Wasser flüchtete, da ließen ihn die steigenden Wirbel nicht hinabkommen, obwohl er sich mit einem Stein beschwert hatte. Die Geheimnisse der Wassertiefe müssen dem Menschengeist eben verschlossen bleiben. Doch kristallklar ist die quellende Flut, und begnadete Augen, welche an einigen Tagen im Jahr tiefer zu schauen vermögen als andere, die sehen's drunten blinken und leuchten, und kristallene Herrlichkeiten zeigen sich dann auf dem Grund. Und jedermann weiß es, daß drunten in den grünen Tiefen des Brunnens Meerfräulein hausen. Menschenflüchtig und weltabgeschieden müssen diese heute in strenger Bannung leben. Ehedem war das anders gewesen. Da durften sie noch hie und da aus der Einsame der Wasserwelt heraufsteigen ans Licht der Sonne und mit den Menschen traute Zwiesprach halten. Da kamen sie denn öfters ins Dorf Gründelhardt, und den Leuten Liebes zu erweisen, das war dann ihr Höchstes. Auch Prophetinnen waren sie und verkündeten den Menschen die Zukunft voraus. So war es den Gründelhardtern längst vor der Reformation durch die Meerfräulein kundgegeben worden, daß einstmals Männer kommen, die Meßopfer und katholischen Gottesdienst abschaffen werden. Auch in der nahen Bantzenmühle waren die Fräulein des gründischen Brunnens oft und gern gesehene Gäste. An manchem Abend hielten sie dort Einkehr, um einige geruhsame Plauderstündchen zu genießen. Einstmals jedoch verspäteten sie sich. Sie kehrten erst nach dem Hahnenschrei in ihre Wasserwohnung zurück, und seit der Zeit dürfen sie nimmer auf die Erde kommen, und kein Sterblicher hat sie jemals wieder gesehen. Seit jenen Tagen aber ändert der Brunnen seinen Ort, Er ist jetzt schon an der dritten Stelle, und wie man heutzutage schon sieht, weiden die Wasser in nicht sehr ferner Zeit abermals einen neuen Born sich brechen. Wer also eine wandernde Quelle sehen will, der fahre zum gründischen Brunnen bei Gründelhardt.
(Mündlich. C. Schnerring-Crailsheim)