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Über dem Steinlachtal lag ein herrlicher Sommertag. Die Ährenfelder glänzten golden im Sonnenschein, und hoch in den blauen Lüften jauchzten die Lerchen. Am Wildbett des Steinlachflusses hinauf, den grünen Albbergen zu, schritt ein Mann. Die schwarze Kutte kennzeichnete ihn als Mönch, wennschon das dunkle Kraushaar, das in reicher Fülle sein Haupt umwallte, nicht dazu passen wollte. In der Hand trug er einen derben Knotenstock mit scharfer Eisenspitze und um die Schultern eine schwarze Ledertasche an breitem Riemen. Darein steckte er die weißen Blüten des Baldrians und die gelben Ähren der Wollblume, die in großen Mengen das Ufergebüsch umsäumten.
Bei der Einmündung eines Baches verließ er den Flußlauf und stieg nun weglos die Halde empor, die den Absturz eines gewaltigen Bergrückens bildet. Oben am schattigen Waldrande lag ein grauer Felsblock, von Moos und Flechten reich besetzt. Auf ihn ließ sich der Wanderer nieder, um das liebliche Bild zu genießen, das sich von hier aus seinen Augen bot. Tief unter ihm lag jetzt das Steinlachtal im Schmuck seiner goldenen Ährenfelder und grünen Weideplätze. Dazwischen tauchte da und dort ein kleines Gehöft oder ein einzelnstehendes Haus auf mit altersgrauem Strohdach und umgeben von einem rohgefügten Holzzaun. Größere Ortschaften fehlten, denn man schrieb damals erst das 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Drüben über dem Neckartale, das als dunkler Streifen deutlich zu erkennen war, dehnten sich grüne Wälder und Höhen aus, weit und immer weiter, bis sie endlich in blauer Ferne mit dem Horizonte verschmolzen. – »Wie herrlich ist doch dieses Land!« sagte der Mönch bewundernd. »Und wie schade ist es,« setzte er mit tiefem Seufzer hinzu, »daß es von heidnischer Finsternis so tief umhüllt ist. Ach, wer die Bande lösen könnte, mit denen der böse Feind es umstrickt hat!« In tiefer Bewegung sank er auf die Kniee, hob die Hände zum Himmel auf und rief: »Herr, zeige mir den Weg zum Herzen dieses Volkes! Du hast für alle Menschen dein Blut vergossen, so nimm auch sie auf in die Herde deiner Schafe!«
Geraume Zeit verharrte er in stillem Gebet, dann stand er auf, bekreuzte sich, warf die Tasche wieder auf den Rücken und schritt am Waldsaume dahin. Einigemal versuchte er in den Hochwald einzudringen, um auch dort heilsame Kräuter zu pflücken. Dornige Hecken und dichtes Gebüsch verwehrten ihm aber überall den Eintritt. Endlich bemerkte er im Gesträuch eine kleine Lücke. Er schritt darauf zu und entdeckte einen schmalen Fußpfad, der ihn in den Wald hineinführte. Waldesdunkel und geheimnisvolle Stille umgaben ihn hier. Mächtige Buchen reckten ihre Wipfel zum Himmel empor, jeden Strahl der Sonne mit ihrem grünen Blätterdache aufsaugend. Nachdem er etwa eine Viertelstunde gegangen war, senkte sich der Weg plötzlich in eine Schlucht. Man hörte eine Quelle rauschen, und eine Gruppe uralter Bäume wurde sichtbar. Dichtes Farnkraut wucherte ringsum, und mitten drin stand ein Altar aus Steinen, wie ihn die Germanen ihren Göttern zu erbauen pflegten. Reste von Kohle und Asche lagen darauf, ein Beweis, daß noch vor kurzer Zeit auf ihm geopfert worden war.
Anfangs stand der Mönch überrascht still. Dann aber trat er raschen Schrittes auf den Altar zu und rief: »Hab' ich dich endlich erwischt, Satanas? Hier also ist der Ort, wo du mit höllischem Gift die Seelen der unglücklichen Talleute füllest! Aber ich will dir das Handwerk legen! Zerbrechen will ich deinen Altar, wie einst die Altäre Baals zerbrochen worden sind!« Schon hatte er mit grimmigen Fäusten einen Stein herausgebrochen, um ihn in die Tiefe zu schleudern, da hielt er plötzlich betroffen inne. Aus den Steinen grinste ihm ein wunderliches Bild entgegen; ein Männlein mit dickem Kopf und verzerrten Zügen, das sich eben mit gespreizten Beinen zum Sprunge zu rüsten schien. Der Mönch besichtigte den Altar von allen Seiten und fand noch mehr solcher Steinbilder in ihn eingefügt: noch ein anderes, dem ersten ähnliches Männchen, doch kleiner; sodann den Kopf eines Widders, eines Stiers und eines Schweins, und über jedem dieser Bilder einen Ring mit Zacken und Strahlen, gleich einer Sonne. »Wie merkwürdig,« sagte er, »noch nie habe ich Ähnliches bei alemannischen Altären gefunden. Man könnte meinen, die Bilder seien christlichen Ursprungs und wollten den Spruch predigen: »Gott lässet seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte.«
Nach einigem Besinnen fuhr er fort: »Aber vor einer Torheit hat mich der Anblick dieser Bilder bewahrt. Nicht durch die rohe Gewalt meiner Hände soll dieser Altar zerstört werden; denn grollend würde das Volk sich von mir abwenden und sein Herz noch mehr verstocken als seither. Die Macht meiner Liebe soll ihr Herz weich machen, dann wird dieser Altar von selbst zerfallen!« Mit einer Kohle, die er vom Altar genommen, zeichnete er ein Kreuz auf das Gestein. »In diesem Zeichen, das die Welt erlöst hat,« sagte er, »will ich siegen!« Dann ging er in tiefem Sinnen den Weg wieder zurück, den er gekommen war.
Bruder Walbrecht, so wollen wir den Mönch nennen, hatte seine Klause inmitten des Steinlachtales auf einer kleinen Anhöhe aufgeschlagen. Auch ein kleines Kirchlein, aus Holz und Stroh gebaut, stand dabei. Vor mehr als einem Jahr war er mit einigen Brüdern vom Kloster Reichenau am Bodensee ausgezogen, um den heidnischen Alemannen am Neckarflusse das Evangelium zu verkündigen. Nach einigen Kreuz- und Querfahrten war er ins Steinlachtal gekommen, wo er nun mit großem Eifer den Gekreuzigten predigte. Aber die Herzen der Steinlachleute waren hart, und Walbrechts Predigt wollte nicht fruchten. Wohl kamen sie am Sonntag aus Neugier zu seinem Kirchlein, holten auch dann und wann heilsame Tränklein und Sälblein bei ihm; aber von ihren Göttern Wuotan, Donar und Frena wollten sie nicht lassen. »Deinen Gott kann man ja nicht sehen,« sagten sie, »wie sollen wir dann glauben, daß er da ist und helfen kann?« Nachdem Walbrecht den Altar im Walde gefunden hatte, verdoppelte er seinen Eifer und seine Anstrengungen. Er suchte die Armen und Kranken auf, lehrte die Kinder allerlei Künste und Fertigkeiten und unterwies die Männer im Obst- und Weinbau. Die Leute ließen sich das gerne gefallen. Nur der Adaling Belso, der im oberen Tal seine Siedelung hatte, wollte von alledem nichts wissen. Er ging dem Mönch, wo er nur konnte, aus dem Weg, besuchte sein Kirchlein nicht und verbot auch seinen Leuten jedweden Umgang mit ihm. Walbrecht versuchte einigemal, Einlaß in den Edelhof zu bekommen, wurde aber stets schroff abgewiesen.
Nun geschah es im Frühjahr, als der Schnee schmolz und das Erdreich aus langem Winterfrost auftaute, daß eine böse Krankheit die Kinder des Steinlachtals heimsuchte. Viele wurden von der Seuche dahingerafft und immer neue von ihr ergriffen. Der Adaling Belso hatte 3 Söhne, jung und frisch wie Fohlen, die Freude und der Stolz seines Herzens. Wie durch ein Wunder waren sie von der Seuche verschont geblieben. Belso schrieb es dem Umstande zu, daß die Waldfrau täglich dreimal mit zauberkräftigen Kräutern die Stube ausräucherte und dadurch die bösen Geister bannte. Auch hatte sie den Knaben Anhängerlein gemacht, gefüllt mit der heiligen Asche des Altars im Walde und besprengt mit dem Wasser der heiligen Quelle. Belso glaubte nicht anders, als ihnen könne die Seuche nichts anhaben. Aber er täuschte sich. Eines Tages erkrankten die zwei jüngsten auf einmal und nach kurzer Zeit waren sie Leichen. Die Eltern waren fassungslos. Und als nun auch der älteste, ein blondgelockter Knabe von 12 Jahren, der Augapfel des Vaters, von der tückischen Krankheit ergriffen wurde, kannte sein Schmerz keine Grenzen mehr. Alles Räuchern und Beschwören der Waldfrau war vergeblich, und die Mutter, halb wahnsinnig vor Schmerz und Angst, bestürmte ihren Mann mit Bitten und Tränen, den Mönch holen zu lassen, ob nicht vielleicht er noch helfen könne.
Anfangs wies Belso seine Frau mit Entrüstung zurück. Als aber die Krankheit sich mehr und mehr steigerte, da überwand er alles Bedenken und sandte einen Boten zu Walbrecht mit der Bitte zu kommen. Walbrecht machte sich ohne Zögern auf den Weg. Schon an der Pforte kam ihm die Edelfrau entgegen und führte ihn eilig zu dem Gemach, in dem der Knabe lag. Der Adaling erwiderte den Gruß des eintretenden Mönchs nicht. In dumpfem Schmerze vor sich hinbrütend, saß er auf der langen Bank, die sich an der Wand hinzog. Walbrecht öffnete zuerst die Fensterläden, um den erstickenden Rauch, den die Waldfrau gemacht hatte, ausziehen zu lassen. Hierauf trat er zu dem Knaben, der, in Decken und Felle eingehüllt, bewußtlos im Fieber lag, machte über ihn das Zeichen des Kreuzes und flößte ihm Arznei und stärkenden Wein ein. Dann sank er vor dem Lager auf die Kniee nieder, hüllte das Gesicht in beide Hände und murmelte Gebete in einer fremden Sprache. Die ganze Nacht lag er so. Nur von Zeit zu Zeit erhob er sich, um dem kranken Kinde Arznei und Wein zu geben. Dann kniete er wieder vor dem Bette nieder. Die Mutter hatte sich auf einen hölzernen Schemel niedergelassen, der Vater verharrte in seinem dumpfen Schweigen. Eintönig plätscherte durch die Stille der Nacht der Brunnen im Hofe. Zuweilen auch spielte ein Windstoß mit den Zweigen des Holunderbaumes vor dem Fenster oder mit den klappernden Pferdeschädeln, die hoch oben am First des Hauses zu Ehren des Wuotan aufgehängt waren. Als der Hahn im nahen Stalle den Morgen ankündete, zeigte sich leichter Schweiß auf der Stirne des Knaben. Bald brach er aus allen Poren hervor. Der Atem wurde jetzt leichter und regelmäßiger. Und als die Morgensonne ihre ersten Strahlen in die Stube warf, da schlug der Knabe zum erstenmal wieder die Augen auf und schaute verwundert den fremden Mann an. Die Krisis war überstanden, die Krankheit gebrochen. Mit einem Freudenschrei stürzte sich die Mutter über ihr Kind. Der Vater konnte das Wunder kaum fassen. Zitternd vor Erregung trat er zu Walbrecht und sagte: »Dein Gott hat gesiegt; er ist mächtiger als unsere Götter. Sag, was muß ich ihm geben, da er mein Kind errettet hat?« Doch Walbrecht winkte ihm zu schweigen. »Später wollen wir darüber reden; jetzt laß das Kind ruhen,« flüsterte er.
Unter Walbrechts Pflege ging die Genesung des Knaben rasch vonstatten. Bald war alle Gefahr beseitigt. Da war ein Staunen unter den Talleuten. Alle wollten nun Walbrechts Hilfe haben, und er tat, was er konnte. Glücklicherweise hatte die Seuche ihr Ende erreicht. Kein Kind fiel ihr mehr zum Opfer. Nun war es ausgemacht, daß der Christengott geholfen hatte, und alles wollte ihm jetzt dienen und sein Wohlgefallen erwerben. Schon am Fest der Himmelfahrt konnte Walbrecht die Erstlinge unter den Talleuten in seinem Kirchlein taufen. Zu ihnen gehörte auch Belso mit seiner Familie. Da er im Tal großes Ansehen genoß, so folgten seinem Beispiel andere, und bald war das ganze Steinlachtal dem Christentum gewonnen. Die Waldfrau, die sich von den alten Göttern nicht trennen konnte, wanderte aus, und der Altar im Walde stand einsam und verlassen.
Belso, der Adaling, hatte damit nicht genug. Er fühlte sich dem Christengott gegenüber als Schuldner, und Tag und Nacht sann er darüber nach, wie er die Schuld wohl tilgen könnte. Eines Tages trat er in Walbrechts Klause und sagte: »Ich muß dem Gott, der mir mein Kind aus Krankheit und Tod errettet hat, ein Opfer bringen. Sage mir, wird er eine Kirche annehmen, die ich ihm bauen will?« Walbrecht sprach: »Tue, was du in deinem Herzen hast, ich will dir helfen, so gut ich es vermag.« Und er sandte Boten nach Reichenau ins Kloster und bat den Abt um Brüder, die erfahren waren im Bauen und im Zurichten von Steinen. Sie erbauten auf einem sonnigen Hügel über dem Buchbachtale, nahe bei Belsos Hofe, ein Kirchlein aus Stein, wie sonst ringsum im Lande keines zu schauen war. Als Vorbild nahmen sie eine altrömische Kapelle, wie sie Bruder Lambertus, der Baumeister, im welschen Lande gesehen hatte. Das Kirchlein ließ er so stellen, daß durch ein rundes Fenster in der östlichen Wand die Sonne zur Zeit des längsten Tages herein schien und mit ihren Strahlen das Zeichen des Kreuzes hervorbrachte. Auf besonderen Wunsch Walbrechts wurden die Steinbilder des verlassenen Altars im Walde in die Giebelseite des Kirchleins eingesetzt und dazwischen das Kreuz, zum Zeichen, daß der Christengott den Sieg davongetragen habe über die heidnischen Götter und ihre Altäre.
Noch heute steht auf dem kleinen Hügel bei Belsen, am Fuß des Farrenbergs, die »Heidenkapelle«. Obgleich schon einigemal erneuert und auch vergrößert, hat sie doch ihre ursprüngliche Form treu behalten. Deutlich erkennt man die runde Lichtöffnung und die wunderlichen Steinbilder, unterbrochen vom christlichen Kreuz. Schon mancher Gelehrte hat sich den Kopf zerbrochen, woher sie ursprünglich stammen möchten, und auch das Volk hat sie mit allerlei Deutungen und Sagen umwoben. Die Geschlechter, die darüber Auskunft geben könnten, schlummern schon längst hinter dem Gitter, durch das der Blick auf den kleinen Friedhof fällt, der die Kapelle umschließt. Droben aber der Bergwald, der es auch weiß, gibt sein Geheimnis nicht preis. Er schüttelt auf solche Fragen unwillig sein Haupt und rauscht sein Lied weiter, heute wie gestern und wie vor tausend Jahren.
(K. Rommel-Reutlingen.)