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Setzen Sie ihr ganzes Vertrauen auf die Gnade Gottes. Sie ist unbegrenzt und bereit, Sie in ihren Schutz aufzunehmen.«
So endete Pater Lawrence eine lange und tiefaufregende Besprechung mit Bernard Massinger. Letzterer, welcher sehr schwach auf dem Bette lag, wohin man ihn gebracht hatte, hielt sein Gesicht von seinem ehrwürdigen Freunde abgewendet und weinte unaufhörlich. Seine Seele, beim Anblick seines tief beleidigten und leblosen Bruders von unerträglichen Gewissensbissen gepeinigt, hatte das so lange bewahrte Geheimniß aufgegeben, und lag jetzt zerknirscht und tief beschämt vor dem Gott der Büßer. Dem Beichtvater seiner Jugend, der so glücklich zur Hand war, hatte er ein volles Bekenntniß abgelegt, und der gute Priester, der seine Gesinnungen ausgezeichnet fand, freute sich mit einer Art engelgleichen Triumphes über die so lang gewünschte, so gnädig und plötzlich bewirkte Bekehrung. Sie hatten häufige Unterredungen, deren letzte Bernard damit schloß, daß er den Priester bat, sogleich die verwaiste Familie in London davon in Kenntniß zu setzen.
»Reisen Sie selbst hin, Pater, und sagen Sie ihnen meine ganze Ungerechtigkeit. Hier sind einige Papiere« – und er zog aus seiner Brusttasche das Packet, das er am Abend zuvor dorthin gesteckt hatte.
(Hier mag bemerkt werden, daß er aus Furcht, es möchte eine Entdeckung gemacht werden, wieder umgekehrt war, als er fast am Ende seiner Reise sich befand, um sich zu vergewissern, ob Selwyn die Nachbarschaft von T– wirklich verlassen habe, und daß er auf der kleinen Station infolge des Unfalls zurückgehalten wurde und so unverhofft mit der Person, die die er so sorgsam vermied, in Berührung gebracht worden war.)
»Hier sind Papiere, die meine Eröffnungen bestätigen und näher erläutern werden. Geben Sie dieselben meinem Neffen; an ihm will ich gut machen, was ich nicht mehr sühnen kann gegen – gegen –. Sagen Sie ihm, sagen Sie Therese, daß ich sie um Verzeihung anflehe – daß ich, wenn ich sterbe, wie es wohl bald geschehen wird, ohne ihre Verzeihung nicht in Frieden scheiden kann.«
»Ich hoffe, sie wird gern gegeben werden – bald werden Einige aus der Familie hier sein, um es Ihnen zu sagen. Seine ältesten Söhne werden kommen müssen – ja.«
Der Priester schwieg, denn Bernard stieß einen zitternden, wehklagenden Seufzer aus, da er merkte, daß der Pater auf das Leichenbegängniß des Vaters anspiele, dessen Leiche einige Ellen entfernt lag.
»Reisen Sie rasch, Sir, und kehren Sie rasch zurück, um mich ganz mit meinem lang beleidigten Gott zu versöhnen. Jede Stunde wird für mich schmerzlich sein, bis Sie wieder hier sind.«
»Ich werde mich beeilen, Bernard; und ich werde Ihnen schreiben, sobald ich die Familie gesehen habe. Kann ich Sie jetzt sicher verlassen? Hoffen Sie fest?
»Ja, Gott sei Dank. Trotz der Vergangenheit hoffe ich. Sonst – doch beten Sie, Pater, daß nie ein Sonst für mich eintreten möge. Leben Sie wohl. Beeilen Sie Sich.«
Mr. Lawrence reiste demgemäß in Hast nach London, und brachte der Familie seine wichtigen und verschiedenartigen Nachrichten. Diese schwierige Pflicht hatte ihm einige Pein zum voraus bereitet; er fühlte sich jedoch bald erleichtert, als er fand, daß die Kinder zwar tiefen Schmerz empfanden, aber ihre Sympathie sogleich von dem verlornen Vater auf die lebende Mutter übertrugen. Therese hingegen stand bleich und kalt da und schien keine Thränen für den ihr so plötzlich entrissenen Gatten zu finden. Dem guten Priester gefiel der Ausdruck nicht, welcher über ihre Züge schlich, als er seine Trauerbotschaft verkündete; es war ein frostiger und strenger Ausdruck, der jenem milden, matronenartigen Antlitz sonst ganz fremd war. Mit der Schwäche, die den meisten sanften, steten Prüfungen unterworfenen Leuten eigen ist, suchte Therese für ihre erregten Gefühle irgend eine sichtbare Ableitung; sie fand sie nicht im Wehklagen über den Todten, sondern im Groll gegen den Lebenden – ein Gefühl, das in ihr jedes christlichere oder weiblichere verdrängte.
»Ich werde ihm nie verzeihen!« sagte sie, Strenge in ihrem Auge und in ihrer Stimme. »Er hat uns ein Unrecht zugefügt, das nie wieder gut gemacht werden kann. Durch ihn war unser ehliches Leben voll Kummer und Entbehrungen. Kann seine Reue meinen Gatten für die Jahre harter, schwerer Arbeiten entschädigen, welche oft sein armes Gehirn überbürdeten, während er sich abmühte, Nahrung für diese Kinder herbeizuschaffen? Und all dieß wußte jener Mann – er wußte es, und doch konnte er seinen Bruder so behandeln! O, es war ein bitteres, bitteres Unrecht! Ich werde es nie vergeben.«
Mr. Lawrence schüttelte den Kopf, während er diesen und ähnlichen Ausdrücken zuhorchte.
»Sie sprechen, mein Kind, in natürlicher Erbitterung; sie wird jedoch vorübergehen. Sie werden, ich weiß es, den Eingebungen würdigerer Gefühle Gehör geben.«
»Mutter,« sagte Georg, den man rasch aus der Stadt geholt hatte, »es war alles sehr hart, doch vergessen Sie es. Ich für meinen Theil, ich spreche an Stelle des armen Vaters, ich kann nicht anders, als unserm Oheim verzeihen.«
»Das ist leicht zu sagen, Georg,« entgegnete seine Mutter. »Denk' an unsere Prüfungen – denk' an das grausame Loos Deines Vaters.«
»Therese, mein Kind, der Geist des Bösen läßt Ihre Seele über die Vergangenheit brüten, aber ich wiederhole Ihnen, Sie müssen vergeben. Nichts wünscht jener arme, reuige Mann, der jetzt krank darniederliegt, so ernstlich, als Ihre Verzeihung. Halten Sie nicht damit zurück. Lassen Sie mich ihm die Versicherung bringen, um die er bittet. Es ist das Einzige, was sein Leiden erleichtern kann.«
»Er verdient das Leiden,« lautete ihre Antwort.
Da der gute Priester für den Augenblick nicht im Stande war, sie zu sanfteren Gefühlen zu bringen, so konnte er blos hoffen, das Gebet und die Zeit würden erfolgreicher sein, als seine Ermahnungen. Er verließ London am folgenden Abend, begleitet von Georg und Alfred, welche mitreisten, um den Ueberresten ihres Vaters jene Ehre zu erweisen, welche von den Umständen gestattet wurde. Als die Todtenschau vorüber war, wurde der Leichnam »Georg Massinger's« sorgsam in den Grüften der Dorfkirche beigesetzt, bis es möglich wurde, ihn in sein Familiengrab abzuholen.
Nachdem diese trübe Pflicht vorüber war, verweilten die Jünglinge in der Nachbarschaft um ihres neugefundenen Oheims willen, der sie nach London zu begleiten wünschte, sobald er die Reise ertragen könnte. Wie man sich denken kann, war ihre erste Zusammenkunft mit ihm sehr peinlich; und er, ergriffen von der demüthigsten Zerknirschung, wollte sich erheben, um auf seinen zitternden Knieen von der Familie Verzeihung zu erflehen, der er solches Unrecht zugefügt hatte; aber mit Gewalt war er von seinem ältesten Neffen daran verhindert worden. Dieser junge Mann, jetzt der anerkannte und bald der gesetzlich eingesetzte Besitzer eines großen Herrengutes, nahm bei diesem Wechsel eine treffliche Haltung an. Als er von Mr. Lawrence die Neuigkeit erfahren hatte, zeigte er für kurze Zeit eine große Erregung und einige hingeworfene Bemerkungen verwirrten den Priester. Aber als dieß vorüber war, entfaltete er eine Männlichkeit des Gefühles, und eine Rücksicht für seinen Oheim, die alle Bewunderung verdiente.
Als Bernard Massinger's Gesundheit sich etwas gebessert hatte, kehrte er nach London zurück, wo er aus mehreren Gründen für den Augenblick zu bleiben wünschte, und nahm seinen zeitweiligen Aufenthalt in einer abgelegenen Vorstadt. Dort schloß er Frieden mit seinem so lange verlassenen Gott und lehnte sein brechendes Herz an den mütterlichen Busen der Kirche, welche den schlimmsten Sünder in tröstender Verzeihung aufnimmt. Dort unterlag auch seine Gesundheit zum zweiten Male einem Anfall, der ihn in einem sehr schwachen Zustand zurückließ. Seine geduldige Ergebung war so groß wie seine Reue, und erbaute seine Neffen, die ihn täglich besuchten, in hohem Grade. Er schien nur einen irdischen Wunsch zu hegen – die Verzeihung Theresens zu erlangen, welche noch immer in ihrem Groll beharrte, keine Frage stellte, keine Botschaft sandte, und keiner ihrer Töchter erlaubte, den Oheim zu besuchen, der nur bezahlte Pflege genoß und durch ihre freundliche Dienstleistung überaus getröstet worden wäre. Dieses unwürdige Gefühl gab ihren Zügen einen Anflug unfreundlicher Zurückhaltung und hielt sie unglücklicher Weise ab, ihre Gedanken jenen lang vernachlässigten katholischen Pflichten zuzuwenden, die sie jetzt frei und ohne Unterbrechung erfüllen konnte.
Ihre überraschten und bekümmerten Kinder nahmen ihre Zuflucht zu Waffen, die selten erfolglos sind, und nachdem sie eine neuntägige Andacht ohne sichtliche Wirkung beendigt hatten, begannen sie vertrauensvoll eine andre. Es war rührend zu sehen, wie die Kinder im Gebet für die Mutter rangen, die ihnen jetzt ein so trauriges Beispiel gab; und ohne Zweifel war es ihrem pflichtgemäßen Eifer zu verdanken, daß die Gnade ihr Herz heimsuchte und endlich über die bittern Gefühle der Natur triumphirte. Offenbar wurden diese Wirkungen des kindlichen Gebetes durch ein unerwartetes Ereigniß. Mr. Lawrence hatte an Marie Croßly geschrieben, mit der er stets einen liebreichen Briefwechsel unterhielt, und ihr den Tod Selwyns und die darauf gefolgten Enthüllungen berichtet. Es geschah dieß auf Verlangen Bernards, der wünschte, daß die Wahrheit, die früher oder später ihr Ohr erreichen mußte, ihr ohne Uebertreibung sobald als möglich mitgetheilt werde. Mr. Lawrence sah zwar voraus, daß diese Nachricht bei Maria Croßly sowohl Kummer als Dank hervorrufen werde; aber auf die Ergebnisse, die unmittelbar folgten, war er kaum vorbereitet.
Als er eines Abends nach einem langen Besuche den an Leib und Seele kranken Bernard verließ, sah er eine Droschke heraufkommen und zum Hause des Kranken fahren. Eine verschleierte, schwarzgekleidete Dame stieg aus. Sollte es Therese sein? dachte er sich und kehrte um, um ihr in's Sprechzimmer zu folgen. Als er eintrat, wendete er sich mit einem Ausruf der Freude um und erblickte die bekannten Züge von Maria Croßly.
»Ei Marie, mein Kind?«
»Sie sind überrascht, theurer Pater. Ah, vielleicht erhielten Sie meinen Brief nicht? Ich schrieb Ihnen, daß ich komme, und bat Sie, mit mir hier zusammenzutreffen.«
»So muß der Brief in meiner Heimath liegen. Ich bin beinahe den ganzen Tag hier gewesen,« erwiederte er; dann betrachtete er mit freundlicher Aufmerksamkeit ihr Gesicht und vermuthete vielleicht etwas von dem, was kommen sollte.
Ernst und einfach sprach sie kurze Zeit mit ihm; er horchte sinnend zu, ohne ein Wort zu sagen, dann ging er die Stiege hinauf, um Bernard auf ihren Besuch vorzubereiten. Diese, obgleich sorgsam mitgetheilte Nachricht regte den Kranken tief auf.
»Marie hier?« wiederholte er. »Um des Himmels willen, führen Sie sie zu mir.«
Obwohl er so ungestüm nach ihr verlangte, zitterte er, als ihre Tritte näher kamen, und verbarg sein Gesicht in beiden Händen, ein Bild der Niedergeschlagenheit und der Scham.
Ein Uebermaß von Gefühlen, den zärtlichsten, die eines Weibes Herz bewegen können, spiegelte sich in ihren Augen, als sie auf dem so gebeugten Haupte ruhten, und mit engelgleicher Freundlichkeit in Stimme und Geberden berührte sie sanft seine Hände und sprach:
»Sieh mich an, Bernard. Wende dich nicht von mir ab.«
Ihre Augen trafen sich in einem langen, überaus beredten Blick. Es bedurfte keiner Worte, sie verstanden einander vollkommen. Sie kniete neben seinem Bette nieder – der Priester schaute schweigend auf sie, und Bernard schluchzte hörbar im Kampfe mit seiner Erregung. Als er wieder Worte hervorzubringen vermochte, sprach er:
»Marie, Du bist ein Engel an Güte. – Ich, guter Himmel, welch Elender bin ich!«
»Bernard, was Du in den Augen Gottes bist, das und das allein sollst du auch in den unsrigen sein. Kostbarer bist Du in seinen barmherzigen Augen jetzt, als Du es vielleicht je gewesen bist. Du hast bereut – Du hast Deine Irrthümer abgeschworen.«
»Ich habe es – ja – Dank sei Seiner Gnade.«
»Ich erwartete dieß stets,« flüsterte Marie, die in ihrer erfüllten Hoffnung nun den Lohn von den inbrünstigen Gebeten sah, womit sie jenes irrende, aber ihr stets theuere Leben verfolgt hatte.
»Du weißt,« fuhr sie mit der höchsten Einfalt und Anmuth fort, »Du weißt, was unsre lange Trennung verursachte; nie hatte sich meine Liebe geändert, aber Du wurdest, was ich nicht billigen konnte. Nachdem dieses Hinderniß beseitigt ist, ist alles wieder, wie es zuvor war.«
»Meine lebenslängliche Liebe! – du kommst, mir dieses zu sagen?«
»Ja, Bernard, und nie werde ich dich verlassen. Hier ist jetzt mein rechter Platz, dich zu pflegen, dich zu trösten, so lange Gott uns beide erhält.«
»Es ist zu viel Barmherzigkeit!« sagte Bernard schwach, aber mit einer tiefen Farbe auf seinen hageren Wangen. »Hören Sie es, Pater?«
»Ja!«
Der Priester war auf einmal ungewöhnlich schweigsam. Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, ging er ruhig hinaus, und seine Augen glänzten vor Freude, als er die Thüre hinter sich schloß.
Bis der Abend das Zimmer verdunkelte, blieben die beiden in stillem, doch glücklichem Gespräche beisammen. Nicht oft fließt menschliche Liebe in so seltsamem Laufe dahin, um zuletzt doch zum Frieden zu führen. Ja, Friede von nun an – dachte sich Marie, als sie auf ihn, den stets Geliebten, sah, für den jetzt ihre Liebe zunahm, da er krank, allein, in menschlicher Achtung gesunken, aber glücklich in der Gnade Gottes wiederhergestellt, dalag. Derselbe feste Grundsatz, der sie zurückgeschreckt hatte, einen irreligiösen Mann zu heirathen, machte sie gleichgiltig gegen geringere Rücksichten, als dieses große Hinderniß beseitigt war. Der Schritt, den sie gethan hatte, mochte von oberflächlichen Beobachtern getadelt werden – beide mochten arm, er vielleicht siech sein für den Rest seiner Tage – sie mißachtete all dieß, seitdem sie rechtschaffen mit ihm zusammenleben, seitdem sie ihn als längst versprochene Braut pflegen konnte. So fühlte sie in der Güte ihres aufrichtigen Herzens, und dieses Gefühl sprach sie ohne Zweifel aus, während Bernard sein großes Glück kaum zu fassen vermochte.
Fühlen mochte er es wohl, denn dieses liebliche Geschöpf war eine werthvolle, von vielen begehrte Perle. Sie besaß eines jener Gesichter, über welche die Zeit, wie es scheint, keine Macht hat, und abgesehen davon, daß eine ruhige Weiblichkeit an die Stelle der Jugend getreten war, war sie die Marie der früheren Tage. Das Landleben, das sie stets geführt, und eine in religiöser Heiterkeit ruhig dahinwandelnde Seele hatte es den Jahren verwehrt, den lächelnden Lippen und Augen die Anmuth zu nehmen, den Umriß des lieblichen Kopfes, der mit schönem braunen Haar gleich einer Krone umrahmt war, zu ändern, oder den Wangen, die sanft und rein wie jene eines Kindes waren, einen verstörten Anflug zu verleihen. Ihr Aeußeres zeigte, was sie war: eine gute, reizende Frau, deren Einfachheit und Ernst gleich liebenswürdig erschienen und eine Seele abmalten, die durch Prüfungen geläutert und durch wahre Religion verschönert war.
Nach einiger Zeit kam Mr. Lawrence die Stiege herauf, um unmittelbare Anordnungen zu besprechen. Sie sollten sich sobald als möglich verehelichen – das war abgemacht. Marie wollte inzwischen ihren Platz am Bett ihres Verlobten nicht verlassen, um durch ihre zärtliche Pflege seine zerrüttete Gesundheit sobald als möglich wieder herzustellen.
Ruhig und voll des Trostes war jetzt Bernard's bisher getrübter Geist, da er ihre Pflege genoß und beständig das süße Antlitz vor sich hatte, welches das einzige Licht seiner sterblichen Augen war, mochte er schlafen oder wachen, und stets erklang ihre holde Stimme an seinem Kissen. Oft und ohne Rückhalt sprachen sie über die Vergangenheit; alle Einzelnheiten wurden durchgegangen, bis das ganze Geheimniß klar vor ihr lag.
»Erzähle mir doch,« sagte sie bei einer Gelegenheit, »wann Du zum ersten Mal mit Mrs. Morgan bekannt wurdest. Es muß in früher Jugend gewesen sein, und doch erwähntest Du nie ihren Namen, so vertraut wir auch damals waren.«
»Nein, ich machte zum ersten Mal ihre Bekanntschaft, als ich eine gute Handlung ausübte, und da ich Lob vermeiden wollte, sprach ich nicht davon; das war anfangs der einzige Grund meines Schweigens. Wie es kam? Auf folgende einfache Weise. Zu jener Zeit hatte Mrs. Morgan eine Tochter, ein häßliches Geschöpf, ungefähr in meinem Alter (ich war damals erst fünfzehn Jahre), und es traf sich, daß ich sie aus großer Gefahr errettete. Mrs. Morgan ließ sie zufällig allein im Hause, und während ihrer Abwesenheit fing der Ort durch einen unerklärten Zufall Feuer. Ich ging auf einem meiner Spaziergänge eben vorüber, und da ich Rauch durch die offne Thüre herausdringen sah, trat ich ein und fand das arme, krüppelhafte Mädchen in Gefahr und ganz unfähig, sich zu rühren. Es war nicht schwer, es fortzubringen, und die Flammen, die nicht hoch waren, auszulöschen; der Unfall würde aber ein furchtbares Ende genommen haben, hätte mich die Vorsehung nicht eben vorübergeführt. Die Dankbarkeit der armen Mutter war außerordentlich, denn sie war jenem Kinde mit unbegrenzter Liebe zugethan. Von jenem Tage an liebte sie mich, weil ich es gerettet hatte – ja, sie liebte mich – die arme Mutter!«
»Nach diesem Vorfall besuchte ich sie zuweilen, jedoch nicht oft; zu jener Zeit aber, Marie, hatte ich nicht die entfernteste Idee von allem, was sie mir später sagte, noch vermuthete ich, daß sie früher irgendwie mit meiner Familie bekannt war. Dieser Stand der Dinge dauerte ungefähr drei Jahre; eines Tages fand ich sie ungewöhnlich erregt, und da sagte sie mir, sie habe eben meinen Bruder Georg gesehen, der gegen ihre Erwartung am Leben sei; und an jenem Tage bekannte sie mir zuerst ein Geheimniß, das sie so lange verschwiegen hatte.«
»Du weißt, daß man an dem Tage, da mein Vater plötzlich starb und ich geboren wurde, glaubte, mein Bruder sei am Fieber gestorben. Hast Du nie gehört, daß seine Amme und der Gentleman Oberst Grice, dessen Obhut mein Vater den Knaben anvertraut hatte, mitten in der Verwirrung jenes Tages mit der Nachricht zur Chase kamen, daß der Knabe in ihrer Gegenwart gestorben sei? Dieß war eine Lüge, zu der sie wegen Förderung ihrer eignen Absichten, wie Du sehen wirst, ihre Zuflucht genommen hatten. Er war nicht gestorben, obwohl seine Krankheit eine so gefährliche Wendung nahm, daß man einige Tage an seinem Aufkommen zweifelte; allmählig jedoch genas er wieder, und nun gewahrte man, daß er sein Gedächtniß völlig verloren hatte. Ein seltsamer Umstand, nicht? Obwohl der Knabe wenigstens zehn Jahre alt gewesen sein mußte, erinnerte er sich an nichts mehr, was vor seinem Anfall geschehen war.«
»Ich habe früher von einem solchen Vorfall gehört,« bemerkte Marie.
»Nun, meine Liebe, dieß war ein glücklicher Zufall für seinen Vormund, und er begünstigte seine Absichten. Jener Oberst Grice war nämlich ein Busenfreund meines Vaters und theilte seine intoleranten Gesinnungen gegen den Katholizismus. Er dachte daher, er vollziehe eine löbliche Handlung, wenn er die ihm wohlbekannten Absichten meines Vaters auf eine protestantische Erziehung des Knaben ausführte. Vielleicht hast Du im Laufe Deines Lebens gesehen, wie wunderlich religiöse Manie den Geist verwirren kann, und wie weit zuweilen ihre blinde Herrschaft manche Leute treibt? Bis zum Aeußersten bigott, wie selbst Mrs. Morgan es mir bezeugte, scheint der Oberst in jenen falschen Schlüssen, welche so leicht unsere Auffassung des Rechten und des Unrechten umwölken können, sehr geschickt gewesen zu sein. Nachdem er vorsätzlich die Verwandten des Knaben in Bezug auf dessen Dasein getäuscht hatte, brachte er ihn hierauf mit seiner Amme (eben jener Mrs. Morgan) zu einem entfernten Landsitz in der Absicht, dort jene strenge Vormundschaft auszuüben, womit ihn, wie er sich selbst überredete, mein verstorbener Vater betraut habe. Aber bald traf es sich, daß Oberst Grice ein Besitzthum in Amerika erbte; und als ihn dieß nöthigte, seinen Aufenthalt drüben zu nehmen, entschloß er sich, Georg mitzunehmen und ihn in Unwissenheit über alle diese Umstände zu erhalten, bis er alt genug wäre, die Grundsätze seiner Erziehung festzuhalten, und dann sicher die Wahrheit erfahren dürfte. Ursprünglich ward beschlossen, daß auch Mrs. Morgan mitreise (sie war eine entfernte Verwandte des Obersten und war als Wittwe mit zwei Kindern ihm zur Last gefallen); doch der Zufall verhinderte dieß und beeinflußte so wesentlich mein Loos, wie Du sehen wirst.«
»Am Abend vor ihrer Einschiffung gerieth Georg, während er mit ihren Kindern spielte, über eine Kleinigkeit in Zorn (er war seit seiner Krankheit sehr erregbar), und warf das kleine Mädchen einige Stufen hinunter, wodurch das arme Geschöpf schwer verletzt wurde und von jenem Tage an in der That ein Krüppel blieb. Mrs. Morgan, die ihr Töchterchen leidenschaftlich liebte, konnte von da an den Anblick Georg's nimmer ertragen, und ließ sich nun nicht mehr überreden, mit nach Amerika zu reisen. Sie erklärte jedoch dem Obersten, daß sie sein Geheimniß so lang bewahren werde, als er es wünsche; und so versah er sie mit anständigen Mitteln und ließ sie mit ihren Kindern in England zurück. Nach einigen Monaten vernahm sie, daß das Schiff nahe dem Ziel seiner Reise gescheitert sei; und da Oberst Grice und die meisten an Bord ertrunken waren, schloß sie, auch Georg sei umgekommen, und blieb jahrelang in diesem Glauben, bis sie ihn zufällig in der Stadt D– traf, in deren Nähe sie damals wohnte. Sie erkannte sein auffallendes Gesicht sogleich, und sein Name bestätigte natürlich die Identität. Zuerst bildete sie sich ein, er sei gekommen, um sein Erbe anzutreten; aber aus gewissen Beobachtungen ersah sie, daß er von seiner wirklichen Verwandtschaft nichts wußte, und so blieb es sein Leben lang, denn der kurz vor der Abreise von England eingetretene Verfall seines Gedächtnisses und der bald darauf erfolgte plötzliche Tod des Obersten begünstigten uns in unsern schlimmen Plänen. – Gott vergebe es uns beiden!«
»Erfuhret ihr je, wo er seine Jugendzeit verbracht und seine glänzende Erziehung erhalten hatte?«
»Diese verdankte er dem Edelmuth eines amerikanischen Gentleman's, eines Verwandten des Obersten Grice und gesetzlichen Erben seines Eigenthums drüben. Der arme Georg, den man ihm nach seiner Errettung aus dem Schiffbruche überbrachte, wurde von ihm freundlich aufgenommen und gut erzogen. Alle glaubten, er sei ein natürlicher Sohn des Obersten, der nie verheirathet war; und alle Umstände begünstigten diese Annahme. Dieß alles entdeckte Mrs. Morgan später mittelst geheimer, steter Nachforschungen; zu der Zeit jedoch, da sie mich mit der Nachricht von seiner Rückkehr erschreckte, wußte sie blos, daß er sich in D– befinde und auf eine gute, vom Dechanten versprochene Stelle warte.
»Marie, ich bin weit entfernt, nach Entschuldigungen für mein Betragen zu suchen, aber Du siehst, wie gefährlich die Versuchung, wie günstig jeder Umstand war. Es hatte den Anschein, daß Georg mit Hilfe seiner hohen Freunde und seiner Talente eine gute Stellung in der Welt einnehmen werde; er war voll Hoffnung und Geist und vermuthete nicht das Geringste von den Rechten, die ich stets als die meinigen betrachtet hatte. Durch ihre Liebe zu mir war die arme Mutter eine unheilvolle Rathgeberin und versprach mir feierlich Stillschweigen, falls ich den Stand der Dinge verborgen halten wollte. Dieß alles wirkte auf die Schwäche ein, die unglücklicher Weise meine Haupteigenschaft ist; ich schwankte, ich wagte es, scheinbare Gründe gegen die Gebote meiner klaren Pflicht aufzuführen, bis ich mich in einen unglücklichen, selbstgemachten Irrgang verwickelte und so immer tiefer in die Versuchung gerieth.«
»Aber ach, Marie, ich versuche es vergeblich, Dir den Zustand meines Geistes zu jener so unglücklichen Zeit zu schildern – unsägliche Angst und Furcht drückten meine Seele zu Boden. Ohne diese Last würde ich vielleicht den Muth gefunden haben, zu erfüllen, was meine Pflicht befahl; doch wie kann ich Dir sagen, was ich meine? o wie unglücklich war ich!«
Sie muthmaßte seine Meinung und streckte ihm die Hand entgegen, die er zärtlich zurückhielt.
» Diese Hand ward mir versprochen; ach, Du weißt, wie sie mein Alles war. Es war mir dieser Schatz versprochen, und der bloße Gedanke an seinen Verlust brachte mich vor Furcht in Verwirrung. Du weißt, Mr. Croßly war ein Mann, der auf solche Dinge sah, und ich fürchtete, er würde einem armen Manne die Braut vorenthalten, die er dem Erben der Massinger versprochen hatte.«
»Aber, Bernard, der Großvater war stets gerecht. Auf alle Fälle würde es etwas mehr erfordert haben als zurückgekommene Vermögensverhältnisse, um meine Gefühle gegen Dich zu ändern.«
»Meine Marie, ich weiß das jetzt; doch damals dachte ich wie ein junger Thor, und ich erhielt meinen Lohn oder vielmehr meine bittre Strafe für den Wunsch, Dein reines Leben mit einem ungerechten zu verbinden. Wie unerwartet und doch wie natürlich ist alles über mich gekommen! Um jene Zeit fing ich an, euch alle durch meine Vernachlässigung religiöser Uebungen und durch angebliche Glaubenszweifel zu betrüben; aber mein unerbauliches Betragen rührte in Wirklichkeit nicht von Zweifeln über unsern heiligen Glauben her. In meinem Herzen hatte ich nie den Schatten von einem Zweifel.«
»Dank sei Gott dafür!«
»Die Wahrheit ist einfach diese. Ich konnte die katholischen Pflichten nicht erfüllen, ohne mich entweder eines offenen Sacrilegiums schuldig zu machen, oder das Geheimniß meiner Seele im Beichtstuhl zu offenbaren. Für das erstere war ich nicht ruchlos genug – das andere würde augenblickliche Rückgabe erfordert haben, und das wollte ich nicht. Auf diese Weise wurde es zur Bewahrung meines Geheimnisses nothwendig, die Uebungen meiner Religion aufzugeben; und um in dieser unglücklichen Klemme einen falschen Frieden zu finden, bestrebte ich mich zunächst, die Sorglosigkeit allgemeinen Unglaubens zu erlangen. Es kam alles so leicht Marie, ein schlimmer Schritt führte zum andern, bis ich in einen Abgrund von Sünde und Gefahr gerathen war, den ich, ach wie wenig! voraussah, als ich zum ersten Mal von der offenen Wahrheit abwich. Indeß, obwohl ich ein unreligiöses Leben führte, konnte ich des Glaubens doch nicht loswerden; und welche Leiden er mir verursachte, welche Stunden der Gewissensbisse, das weiß allein Derjenige, der mir in seiner Barmherzigkeit die Gnade der Furcht ließ. O die vergeudeten Jahre, die Gefahr, der Wahnsinn! O Unschuld, Ehre, Liebe – wie hättet ihr, wäre nicht meine thörichte Feigheit gewesen, jene so elenden Jahre gesegnet!«
Ein tiefes Gefühl erstickte seine Stimme und ließ ihn schweigen, bis Marie mit süßen Versicherungen ihn getröstet hatte.
»Kannst Du wirklich,« fuhr er fort, »dem verzeihen, der Dein Herz so falsch beurtheilt hat? der so gröblich geirrt und Dich um Ehre und Reichthum gebracht hat? Engel an Güte, willst Du Dich wirklich herablassen, zu einem schwachen, entehrten …«
Hier fiel sie ihm mit zarten Vorwürfen in das Wort und bat ihn, sich solcher Gedanken zu entschlagen. Sie habe das glücklichste Loos erhalten, das die Welt ihr bieten könne – um das sie gefleht habe – ihn bekehrt und sich als seine liebende Gattin zu sehen. »So lange Du mir erhalten bleibst,« fügte sie innerlich mit einem Seufzer bei, da ihr oft der Gedanke kam, er werde des irdischen Trostes nicht lange bedürfen.
Das Eine jedoch, was noch für den Frieden Bernard's fehlte – die Verzeihung Theresens – wurde durch diese Vermittlerin erlangt. Bald nach ihrer Ankunft in London schrieb Marie einen langen, liebreichen Brief an ihre verwittwete Schwester; dann besuchte sie Therese und überbrachte ihr von Bernard die demüthigsten und rührendsten Bitten.
»Sage ihr,« trug er ihr auf, »daß mich der bitterste Schmerz in dem Augenblick durchbohrte, da ich entdeckte, daß sie durch eine unverhoffte Verbindung in die Folgen meiner Ungerechtigkeit verbunden werde. Sage ihr, Marie, daß, wenn ich dieß vorausgesehen hätte, meine Zuneigung für sie alle Versuchung überwunden haben würde. Wie tief ich mein Unrecht gefühlt habe, mag sie aus der Sorgfalt entnehmen, mit der ich sie und die Familie stets gemieden habe. Ich war ein Feigling – und wenn ich sie oder eines ihrer Angehörigen oft gesehen hätte, es hätte mich zum Wahnsinn getrieben.«
Die Unterredung der lang getrennten Schwestern war für beide ergreifend. Therese hatte mit Mißfallen von der beabsichtigten Heirath gehört, aber durch das vertraute Gesicht und die bekannte Stimme gerührt, erhob sich ihr Herz über die harten Gefühle der letzten Zeit und zerschmolz in Güte.
»Ich kann Dir nichts verweigern, Schwester,« sagte sie, als Marie in einem passenden Augenblick den Gegenstand berührt hatte. »Seitdem Du ihn erwählt hast, will ich alle Unbilden vergessen. Sage ihm, daß ich verzeihe – wie ich hoffe, daß sein Bruder ihm vergab.«
Die Anstrengung, welche diese Worte ihr kosteten, blieb nicht unbelohnt. Ihre Seele öffnete sich von da an der Gnade, welche auf Zutritt wartete, und bald wurde sie demüthig und voll Eifer in der Erfüllung jener religiösen Pflichten, die sie so lange versäumt hatte. Ihre Kinder gewahrten mit Freude, daß die Härte, die sie so oft an ihrer Mutter bedauert hatten, einer verzeihenden Liebe gewichen war, und daß sie jede Woche zu jenem Mahle ging, dessen Süßigkeit ihrer Zunge so manches Jahr fremd geblieben war.