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Grange – ein Meierhof, eine Meierei.
An einem Neujahrstage fiel auf Croßly Grange dichter Schnee.
Im Laufe der Nacht hatte es bereits tüchtig geschneit; in den ersteren Morgenstunden jedoch hellte sich das Wetter auf und versprach, für einige Stunden verhältnißmäßig schön zu bleiben. Später aber sammelten sich die Nebel wieder schwer und dunkelfarbig an, und abermals fiel der Schnee hernieder, zuerst in großen Flocken, dann überaus rasch und blendend und er drohte jeden Gegenstand in der Landschaft zu begraben. Bald war der Fahrweg der Grange vollkommen verschneit und die breite Lichtung mit Haufen halb eingeschneiter Gesträuche und seltsam geformter Hügel bedeckt, während die zarten, auf jeder Seite der Fenster des Gesellschaftszimmers befindlichen Geißkleeblumen unter ihrer unwiderstehlichen Last hilflos gegen die Scheiben sich beugten.
Mittag – und immer noch fiel der weiße Schleier weich und dicht aus dem Schooße des gelblichen Dunkels hernieder, das sich über die Scene gelagert hatte. Die Luft war drückend dick und regungslos, und es war so dunkel geworden, daß aus den Fenstern der Grange Lichter schimmerten.
In dem hübschen, vom Scheine eines großen Feuers gerötheten Gesellschaftszimmer schauten zwei Damen ängstlich auf das unfreundliche Wetter. Die jüngere hatte Challoner niedergelegt, aus welchem sie der gutmüthig aussehenden Dame, die unter vielen Kissen in einem weiten Armstuhl sich zurücklehnte, vorgelesen hatte, und sie suchte, während sie gelegentlich auf die begrenzte Scene hinausschaute, durch heitere Bemerkungen die Befürchtungen der besorgten Kranken zu verscheuchen.
»Gewiß, liebe Mutter, sie müssen jeden Augenblick hier sein; es ist sehr unwahrscheinlich, daß Mr. Burns sie durch eine Predigt heute Morgen zurückhalten wird; er wird den drohenden Sturm bemerkt und seine Heerde entlassen haben, ehe er begann. Sie müssen sogleich hier sein; sehen Sie, es ist beinahe eins!«
»Ich fürchte, sie werden, um Zeit zu ersparen, über jenen Arm des furchtbaren Moores setzen, anstatt rund herum durch die Hecken und das Dorf zu fahren,« seufzte Mrs. Croßly, welche mit Grund das Moor fürchtete; denn durch einen Unfall, der ihr dort während eines Schneesturms zustieß, war sie seit vier Jahren fast gänzlich an ihren Lehnstuhl gebannt. »Wären sie doch wie Du, Marie, in die Frühmesse gegangen! Ich wünschte, Dein Großvater hätte es gethan! O mein Himmel! denken zu müssen, er und Therese mit ihm wurden von solchem Unwetter überrascht! Bitte Gott, daß sie das Moor meiden!«
»O sei ruhig, liebe Mutter! sollten sie auf jenem Wege zurückkehren, so werden sie ihn zurückgelegt haben, bevor es dicht zu schneien begann. Horch' – ich glaubte, ich hörte Räder – nein! doch in wenigen Minuten, Mamma!«
Die Damen schwiegen einige Zeit.
»Sieh' nach Deinen Geißkleestöcken, Marie, wie sie das Zimmer verdunkeln! ein Bischen mehr Gewicht, und sie brechen ab, fürchte ich. Ach, armer Bernard, wie besorgt war er um sie! Denke nicht mehr daran, meine Liebe! Ich will nicht an schlimme Tage denken, sondern Deinem Beispiele folgen und muthig schweigen.« Nach einer Pause setzte sie hinzu:
»Dein Großvater hat heute Morgen, während Du fort warest, einen Brief von Bernard erhalten.«
Ihre Zuhörerin schaute auf, und rasche Röthe überflog ihr Gesicht.
»Ja, mein Kind! Er schreibt aus Rom, wo er einige Zeit sich aufhielt, da er Paris und alles Französische überdrüssig geworden, wie er sagt. Er schreibt nicht, wann er nach England zurückkehren wird, noch sonst viel. Der Ton seines Briefes verräth eine Niedergedrücktheit, eine Theilnahmslosigkeit an Allem, was ihn umgibt, und das ist sehr überraschend bei einem jungen Manne, der sich mitten unter neuen Scenen befindet. Ich ziehe daraus einige Hoffnung. Vielleicht ist er nicht im Stande, in irgend Etwas Befriedigung zu finden, bis er zu seinem Glauben und seinen Pflichten zurückgekehrt ist. Möge es Gott so gefallen!«
Marie senkte ihr geduldiges Antlitz und stimmte ernst in das Gebet ihrer Mutter ein, und für einige Augenblicke versanken Beide wieder in Gedanken.
»Ich behaupte, liebe Mamma, das ist der Wagen,« rief sie, indem sie aufschaute, um bei dem plötzlichen Erscheinen eines hübschen Phaëtons zu lächeln, den man bis ganz nahe auf dem Schnee nicht gehört hatte. »Doch es ist Jemand bei ihnen, laß mich sehen! Ei, das ist ja der liebe Vater Lawrence. Welch' süße Ueberraschung! Wahrhaftig, ich muß gehen, um ihn zu bewillkommnen.«
Bei diesen Worten eilte sie in die Halle, wo in einem Augenblicke der fröhliche Lärm einer willkommnen Ankunft herrschte. Therese, nachdem sie sich aus ihren Verhüllungen herausgewickelt hatte, sah überaus rosig und munter aus und trippelte zu ihrer Mutter mit einer Lebhaftigkeit, die ihr keine Zeit ließ, ihre Schwester weiter als mit einem flüchtigen Blicke ihres schönen Antlitzes zu begrüßen. Marie bemerkte es gar nicht in ihrer Freude, den guten und lieben Mr. Lawrence – ihren einstigen Pfarrer und Hausfreund, begrüßen zu können. Auch gewahrte sie nicht, ehe sie vom Empfange seines Wagens sich erhob, daß ihr Großvater mit einem Fremden sprach, der ersichtlich mit der Gesellschaft gekommen war. Ein Blick zeigte ihr, daß es ein junger Mann von höflichem Benehmen war, und sie eilte zu ihrer Mutter zurück, mit welcher Miß Croßly lachte und lebhaft plauderte.
»Liebe Mutter, es thut mir so leid, daß Du unsertwegen aufgeregt warst – wir hatten eine sehr kurze Predigt, und so war der Gottesdienst bald vorüber. Wir trafen Vater Lawrence in der Kirche, und drangen in ihn, mit uns nach Hause zu fahren. Werden wir, da er nun wieder unter uns ist, nicht einen unsrer alten glücklichen Neujahrstage haben?«
»Doch wie kam es, daß er heute in unsrer Kirche war?« fragte ihre Schwester. »Und wer ist jener Gentleman, Therese?«
»O, das ist Mr. Selwyn Grice, ein Freund von Vater Lawrence. Er ist sehr geschickt – aus London, glaube ich. Du weißt, die große Bibliothek im St. Mariencolleg soll geordnet und classificirt werden, oder so Etwas, und er ist durch Vermittlung von Vater Lawrence damit beauftragt. Ich hörte, wie sie Beide darüber mit dem Großpapa sprachen. Du wirst ihn sehr lieb gewinnen – er ist ein prächtiger Gesellschafter. O, nein, wahrhaftig, Mamma, es ist kein nasser Fleck an mir, ich bin ganz warm; doch ich will gehen und mich umkleiden.«
»Thue es, meine Liebe. Und Du, Marie,« rief Mrs. Croßly mit gastfreundlicher Geschäftigkeit von ihrem Stuhle aus, »geh' und gib alle sorgsamen Anordnungen. Mr. Lawrence und sein Freund werden Zimmer brauchen; sie werden natürlich die Nacht über hier bleiben.«
»Ich glaube, Mutter, sie werden noch länger verweilen,« bemerkte Therese munter, während sie sich zurückzog. »Es scheint mir, als sollten wir in Kurzem eingeschneit werden.«
Die Prophezeiung der Miß Croßly schien sich vollkommen zu bewahrheiten, und dieß gereichte der etwas später bei Tisch versammelten Familiengruppe zu großem Vergnügen. Mr. Lawrence sah in der That Etwas beunruhigt aus, als er bemerkte, er stehe im Begriffe, nach London zu reisen, und fürchte, die Straßen möchten für einige Tage unbefahrbar sein: – in den guten Zeiten der Kutschen von vordem konnten die Reisenden den Elementen nicht Trotz bieten, wie es jetzt von deren Söhnen geschieht. Aber er fand kein Bedauern, wenigstens auf Seiten der Damen der Familie, welche entzückt waren, ihn wieder einmal unter sich zu haben; und daß er unter solchen Umständen keines brauche, das war offenbar die bestimmte Ansicht des Mr. Selwyn Grice.
Was diesen Gentleman betrifft, war eine weitere Vorhersagung der Miß Croßly bald durch den günstigen Eindruck in Erfüllung gegangen, den er auf seine neuen Bekannten ausübte. Ein Antlitz voll Geist und Verstand, obwohl mit glatten Zügen, feine und leichte Manieren und eine Redegabe von ungewöhnlichem Glanze waren selbst für oberflächliche Beobachtung klare Anziehungspunkte; und als die Entdeckung folgte, daß er ein Mann von feinem Geschmacke und seltener Gelehrsamkeit sei, darf es nicht überraschen, daß Mr. Grice in jeder Gesellschaft gefiel, und, so jung er auch war, bereits großen Ruf in der literarischen Welt erlangt hatte. Marie glaubte zwar, bei aufmerksamer Betrachtung Zeichen eines raschen und unbeherrschten Geistes in seinen Augen und Geberden zu entdecken; doch vielleicht prüfte ihn diese junge Dame zu genau. Therese schien wundersam lebhaft; das sanfte Antlitz ihrer Mutter war selten so frei von leidendem Aussehen, und Mr. Croßly war ganz gegen seine Gewohnheit gesprächig und artig.
»Ich bemerkte, daß wir während der ganzen Zeit unseres Gottesdienstes heute Morgen das Vergnügen Ihrer Anwesenheit hatten,« sagte Herr Croßly zu seinem Gaste. »Ich hoffe, dieß wird während Ihres Aufenthaltes bei uns oft sich wiederholen. Darf ich fragen, ob Sie in der Lage sind, den Andachtsübungen unsres Glaubens beiwohnen zu können?«
»Wohl – nicht überhaupt,« lautete die Antwort, »obgleich in Ihrer Religion Vieles sich findet, was ich hoch bewundre. Ich wurde in den Grundsätzen der Hochkirche erzogen; doch ich bin weit entfernt von jener engherzigen Ansicht, welche die wahre Verehrung des Allmächtigen auf irgend eine besondere Secte oder Form beschränkt. Das fromme Herz darf sicher hoffen, daß seine Huldigung dem Schöpfer angenehm ist, wenn es im Gebete mit irgend einer Gemeinschaft wahrhaft aufrichtiger Anbeter sich niederbeugt, wie immer sie sich nennen mögen, oder wenn es seine freiwillige Anbetung in der Einsamkeit seiner eignen Worte darbringt.«
»Nehmen Sie sich in Acht, daß Ihr Geist der Freiheit Sie nicht zu weit treibt, Grice,« sprach Mr. Lawrence. »Erinnern Sie sich, wie Ihr Liebling, Southey, dafür in diesen Zeilen gelitten hat:
Geh' du und such' das Haus zum Beten,
Zum stillen Walde eil' ich fort,
Die Religion zu finden dort.«
»Ich erinnere mich, Sir, wie man ihn eben dieser Zeilen wegen anfeindete; doch ich kann nicht umhin, seiner Ansicht beizustimmen. Sagen Sie mir, wer kann an einem balsamischen Morgen in der Stille der Gefilde stehen, oder in dem wogenden Grase knieen, keinen Laut um sich als das sanfte Säuseln des Windes, keinen Blick als den des lächelnden Firmamentes, ohne daß er fühlt, wie seine Gedanken inniger und ungestörter zum Schöpfer sich erheben, als es mitten in der Eitelkeit und Unruhe einer stark besuchten Kirche möglich ist?«
»Sie fühlen vielleicht so, Mr. Grice,« fiel ihm sanft Mrs. Croßly in die Rede, »doch wir können mit Ihnen hierin nicht übereinstimmen, denn unser Morgengebet in der Kirche ist ein Opfer – das reine, dem allmächtigen Gott auf den Altären der katholischen Kirche und da allein dargebrachte Opfer. Dieß ist es, was unsere Priester befähigt, in wenigen Augenblicken selbst eine elende Scheune oder ein ärmliches Zimmer (sollten wir zufällig keine bessere Kirche haben) in einen gewählten und heiligen Ort zu verwandeln, einen Ort, zu dem unsere Gemeinden oft viele Meilen weit zwischen Hecken und Feldern andächtig hinströmen.«
»Ich muß bekennen,« sagte Mr. Grice, »daß in Ihrem Glauben etwas Großartiges zu liegen scheint. Ihr Weg liegt von Kindheit an unter Geheimnissen, die für Andere erschreckend und während dieses Lebens wenigstens für Sie selbst unbegreiflich sind; und doch nehmen Sie dieselben mit eben so viel Vertrauen an, als ob es klar beweisbare Thatsachen wären. Es ist auch unmöglich, den tiefen Eindruck abzuwehren, welchen die aufrichtige, von Ihren Gemeinden während des Gottesdienstes bezeigte Andacht hervorbringt. Ich wurde davon besonders diesen Morgen ergriffen – eine so anständige, aufmerksame Menge habe ich noch selten gesehen. Auch der Pfarrer scheint wohl ausgestattet zu sein und zu wissen, wie er seine Heerde zu führen hat; sein Vortrag, obwohl kurz und darum einfach, war voll praktischer Religion. Nebenbei bemerkt, ist nicht die D–kirche die nächste Zuflucht für einen Ketzer während eines Aufenthaltes in der Nähe Ihres Collegs? Und dann, unter wessen geistlicher Gewalt werde ich wohl stehen?«
»Mr. H– ist der Pfarrer der D–kirche,« erwiderte Mr. Croßly.
»O,« sagte Mr. Grice, »ein kleiner Gentleman von schlanken Formen und sehr dünner Stimme? Ich zweifle nicht, es ist derselbe. Ich erinnere mich, daß ich zufällig jenen Gentleman bei einer Tischgesellschaft traf, als ich vor etwa vier Jahren kurze Zeit hierin der Nachbarschaft mich aufhielt. Sein Bischof war der Wirth, und es waren viele Gäste da, meistens Geistliche. Da man nicht wußte, vermuthe ich, daß Mr. H– stets den Wein überging, lud man ihn herzlich ein, aus einem vollen Humpen zu trinken; doch Sie können sich unsere Ueberraschung vorstellen, als er in Verlegenheit kam, etwas einfältig lächelte und die Einladung in seiner affectirten Art mit den Worten ablehnte: ›Nein, ich danke Ihnen – ich – bin – nicht durstig.‹ Doch er ist ein guter kleiner Mann und ein tüchtiger Gelehrter,« setzte er bei, als die Zuhörer lachten.
»Ich erinnere mich an eine andre Anekdote desselben Gentlemans,« sagte Mr. Croßly. »Vor einiger Zeit starb mein Verwandter Thrale von der Thrale-Farm, und da gab es natürlich eine große Leichenfeier. Es war, bevor seine Familie übertrat,« bemerkte er seitwärts zu Vater Lawrence. »Das Haus war voll von Gästen; unter ihnen befand sich Mr. H–, und da viele derselben weit hergekommen waren, blieben sie die Nacht nach dem Leichenbegängnisse in der Meierei. Ich vermache, die Familie war deßhalb genöthiget, die Zimmer zu sparen, denn es wurde der Sarg vor seiner letzten Entfernung für kurze Zeit in den frühen Morgenstunden in das beste Zimmer gestellt; und ebenso geschah es, daß das nämliche Zimmer, vielleicht als Zeichen der Ehrfurcht, für die Nacht Mr. H– angewiesen wurde. Da Sie mit ihm, wenn auch nur flüchtig, bekannt sind, so werden Sie wissen, wie furchtsam er ist, und wie sehr er erschrickt vor gespensterartigen Erscheinungen. Wohl, er kleidete sich, wie es scheint, in aller Ruhe aus, ungestört durch irgend einen Verdacht, zu welchem Zwecke man das Zimmer kurz vorher benützt hatte; da wurde, eben als er die Bettvorhänge herniederließ, seine Aufmerksamkeit durch einen schwarzen, eilig in eine Ecke geworfenen Gegenstand angezogen. Er näherte sich ihm, langsam, ohne Zweifel, und wir können uns seine Gefühle denken, als er bei dessen Aufhebung ein langes prunkendes Bahrtuch entdeckte: die Todtengräber hatten es, als sie es vom Sarge abnahmen, sorglos beiseite geworfen, und so wurde es vergessen. Augenblicklich blitzte die Wahrheit vor ihm auf – der kleine Gentleman stürzte aus dem unheimlichen Zimmer und schrie in Tönen, in Folge deren viele Thüren aufgingen: ›Mrs. Thrale, Mrs. Thrale, o Mrs. Thrale! Wie konnten Sie mich in solche ein Zimmer legen?‹
»›Wie ich es konnte, Mr. H–?‹ rief die Wittwe, indem sie in ihrer Schlafhaube heraussprang. ›Ei, wen sollte ich sonst hineinlegen als Sie? Sie, ein Geistlicher und sich vor dem Todten fürchten? Ich schäme mich für Sie, Mr. H–!‹ Glauben Sie nicht, sie war zu hart gegen ihren Pfarrer?«
Die Damen erhoben sich hierauf vom Tische; und Mrs. Croßly schritt durch die starke und geschickte Stütze Mr. Selwyns leichter als gewöhnlich zu ihrem gewohnten Armstuhl. Er kehrte nicht augenblicklich zu dem Speisezimmer zurück, sondern zögerte mit einem Blicke des Mitleids, während ihre Töchter zärtlich ihre Kissen zurecht richteten.
»Eine traurige Art des Daseins, liebe Madam! Welchs' einen Grad von Geistesstärke müssen Sie besitzen, um Ihr Loos mit solch' musterhafter Geduld zu ertragen!«
Mrs. Croßly schaute sehnsüchtig auf den jungen Mann, der mit Gefühl sprach. Sie hätte ihm gerne eine jener Lehren gegeben, welche der Katholik aus der Betrachtung des Kreuzes schöpft – welches lehrt, daß Leiden eine Gnade ist – daß das betrübteste Leben das verdienstlichste sein kann, weil es jenem unsres göttlichen Vorbildes, des Mannes der Schmerzen, am meisten gleichförmig ist. Doch sie war nicht sicher, ob er sie auch ganz verstände, und so antwortete sie sanft:
»Sie wissen sicher, daß Leiden nicht lange durch menschliche Kraft, sondern allein durch die Kraft der Gnade ertragen werden können. Und Sie erinnern sich, was Job sagt: Soll ich blos das Gute aus der Hand des Herrn annehmen, und nicht auch das Schlimme? Ich habe viele Jahre ein glückliches Leben geführt, Mr. Grice, und ich darf mich nicht beklagen, daß Gott am Schlusse desselben eine Prüfung über mich gesandt hat.«
»Es war ein furchtbarer Unfall, denke ich – es muß natürlich einer gewesen sein,« fügte er mit einer kleinen Ungeschicklichkeit hinzu.
»O, in der That, Mr. Grice, es war so!« rief Therese. Dann, als er auf die Erzählung zu warten schien, fuhr sie in leiserem Tone fort:
»Mamma und ich waren in D– an jenem Nachmittage einiger Geschäfte wegen, und wir konnten erst kurz vor Abend heimkehren. Es hatte am Nachmittage geschneit und stärker, als wir glaubten. Da wir rasch heimkommen wollten, entschlossen wir uns, die Straße zwischen den Hecken zu verlassen, da sie einen weiten Umweg macht, und hießen John über jenen Theil des Moores fahren, über den wir heute Morgen fuhren. Wir fühlten uns vollkommen sicher, weil wir glaubten, mit dem Wege ganz vertraut zu sein. Ich vermuthe jedoch, in unserer Eile und bei dem dichten Schnee verfehlten oder verkannten wir unsere Grenzmarken von Anfang an. Doch, eben als wir anfingen, besorgt zu werden, hörten wir hinter uns schreien, wir sahen die Strahlen einer Laterne, und dann kam hastig ein Gentleman herbei, um uns zu sagen, wir seien ganz nahe am alten Schacht, dem wir gerade entgegenführen. Er eilte zu den Köpfen der Pferde vor, um John beim Umwenden zu helfen, doch sie konnten einige Zeit lang nicht dazu gebracht werden; und dann erschrack die liebe Mamma überaus und versuchte hinauszuspringen – und sie fiel – es war so schrecklich, daß ich kaum die Erinnerung daran zu ertragen vermag. Einen Augenblick war sie unter dem Rad – meine liebe Mutter!«
Sie hielt inne, um die Kranke zu liebkosen, welche ihre Wange streichelte und sie bat, zu enden.
»Kaum erinnere ich mich, wie es zuging, doch wir brachten die Mamma wieder in den Wagen, und da die Pferde beruhigt waren, fuhren wir langsam zurück, bis wir den Großpapa trafen, der ängstlich geworden war und uns entgegenritt. Hierauf gab er sein Pferd dem Fremden, der ärztlichen Beistand holte. Welch' schreckliche Zeit war das! Die Chirurgen hofften nicht, daß Mamma uns bleiben würde, doch glücklicher Weise ward sie uns erhalten. Sie können sich denken, wie oft wir des Fremden gedachten, welcher durch die Vorsehung sicher unser Leben rettete; doch wir sahen ihn nie wieder – nach unserm Wissen wenigstens, denn in unserer Aufregung gaben wir auf seine Züge ganz und gar nicht Acht. Der Knabe, welcher das Pferd zurückbrachte, kannte ihn nicht. Ich bin überzeugt, er muß verletzt worden sein, denn John sagte, daß, während er mit den Pferden rang, seine Hand verwundet wurde. Nun, wir können blos für sein Wohl beten, wo immer er ist.«
Mr. Grice, welcher die Sprecherin mit großer Theilnahme betrachtet hatte, stand nach Beendigung ihrer Erzählung einige Minuten in tiefen Gedanken da; dann verließ er, wie unbewußt, plötzlich das Zimmer und kehrte zu den Herren zurück.
Sie blieben nicht lange beisammen. Vater Lawrence schied zuerst, und man hörte ihn eine Weile in der Galerie außen auf- und abschreiten. Dann kam er herein, indem er sein Brevier zuschloß, und lächelnd gesellte er sich zu der kleinen Gruppe um den Kamin des Gesellschaftszimmers. Ihre Unterhaltung drehte sich natürlich um den neuen Gast auf der Meierei.
»Seine Gesellschaft ist bestimmt sehr einnehmend,« bemerkte Mrs. Croßly. »Wer ist es? Kennen Sie seine Familie?«
»Nun, mit seinen Familienverhältnissen bin ich nicht genau bekannt. Ich hörte ihn sagen, er habe keine lebenden Verwandten, er sei früh unter der Obhut eines Vormunds gestanden, eines Gentleman in der Armee, glaube ich. Er wurde mir vor einigen Monaten in London vorgestellt als ein junger Mann, der Ungewöhnliches verspreche und große Talente besitze; was er ohne Zweifel auch ist.«
»Ist er ein geborner Londoner?« fragte Marie.
»Ich glaube nicht. Er war lange Zeit in der Fremde, vorzüglich in Amerika.«
»Steht nicht der Großpapa in wundervoll guten Beziehungen zu ihm?« bemerkte Therese. »Im Allgemeinen liebt er die Bekanntschaften mit Jenen nicht, die außerhalb unserer Kirche stehen.«
»Dein Großvater hat einen bittern Grund dafür, wie Du weißt, meine Liebe,« sagte ihre Mutter; da jedoch der Gegenstand ihrer Bemerkungen eben eintrat, brachen sie das Gespräch ab. Ein fröhlicher gesellschaftlicher Abend schloß den Tag.