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Zehntes Capitel.
Die entzweite Familie.

Selwyn hatte seine Maßregeln so wohl vorbereitet und wurde von zelotischen Freunden so wirksam unterstützt, daß er noch im Laufe der nämlichen Woche einen Wohnort bezog, der in der Nähe eines hübschen Dorfes in einer Nachbargrafschaft lag. Der Ort war gut gewählt, denn er lag weit entfernt von jedem katholischen Gotteshause, eine Entbehrung, die Selwyn seiner Familie schon öfter auferlegt hatte, aber aus anderen Gründen: jetzt geschah es in der bestimmten Absicht, der Möglichkeit eines verstohlenen Kirchenbesuches vorzubeugen. Noch mehr, der Pfarrer, ein Bruder von Mr. Bonna, war bereits mit Gesinnungen der Freundschaft für den »neuerweckten« Gelehrten erfüllt; und da die Nachbarschaft eines besondern Rufes der »Frömmigkeit« genoß, so waren mehrere vornehme Familien bereit, die Sympathie ihres Pastors zu theilen und mit Bewunderung den Gentleman zu begrüßen, dessen Bekehrung mit all ihren interessanten Umständen reichen Stoff zu Klatschereien und absonderlichen Anekdoten abgab.

Diese Vorzeichen waren mehr oder weniger ungünstig für die neuen Ankömmlinge, die sich mit schwerem Herzen in ihrer Landwohnung niederließen. Zeitlichen Comfort hatten sie jetzt in Fülle. Denn da Selwyn in religiösen Kreisen, wo man seine glühende Feder mit Ungestüm erwartete, nicht geringes Aufsehen erregt hatte, so waren mehrere glänzende Verträge mit ihm abgeschlossen worden, und für die Zukunft fehlte es nicht an gutem, sicherm Einkommen. Armuth sollte, wie es schien, die Familie nie wieder belästigen; demungeachtet waren die Aussichten trübe – der häusliche Friede war dahin.

Begleitete die Mutter ihre Kinder? Ja. In einer peinlichen Unterredung mit ihrem Gatten gab sie das verlangte Versprechen – das Versprechen, daß sie bei Strafe ehelicher Trennung nie wieder in die religiöse Aufsicht des Hauses sich einmischen werde. Selwyn wußte selbst nicht, wie tief erleichtert er aufathmete, als sie in diesen Zwang einwilligte. Er betrachtete seine Gattin noch mit einer gewissen Zärtlichkeit, und eine unbeugsame Weigerung ihrerseits würde ihn wahrscheinlich, wenn auch mit Widerstreben, zu einer Abänderung seiner Maßnahmen veranlaßt haben. Allein sie war dessen nicht gewiß; und da sie Niemanden zu Rath zog als ihr eignes mütterliches Herz, wer kann sich über das Ergebniß wundern? Wie weit sie im Sinne hatte, ihre Einwilligung zu halten, dieß bleibt eine andre Frage. Unterdrückung erzeugt Verheimlichung, und die einst arglose und fromme Therese sucht ihr Gewissen mit dem Versprechen zu beruhigen, sie werde handeln – wenn sie es dürfe.

Wenn sie es dürfe – eine verlockende Phrase. Von nun an werden in diesem Hause zwei entgegengesetzte Prinzipien beständig im Kampfe liegen; der schwächere Theil hält es für klug, den stärkeren durch den Schein der Unterwerfung zu täuschen und unter diesem Deckmantel den Einfluß zu erhalten, der nicht ohne peinliches Ringen behauptet werden kann. Die Gattin steht gegen den Gatten, die Kinder gegen den Vater, Zwang herrscht wie ein eisernes Gesetz über Alle – ein Zwang, der nichts gewinnt, obwohl er siegreich erscheint. – Welche Früchte des Unglücks werden täglich in dieser entzweiten Familie gepflückt werden! Dieser Zustand war für Therese fast unerträglich und ihre Seelenstimmung bewirkte bald in ihrem Aeußern eine auffallende Aenderung. Ihre Söhne halten oft liebkosend den Glanz ihres rabenschwarzen Haares und ihr schönes, großes Auge bewundert; doch jetzt stahl sich allmählig ein schwacher Schalten von Grau über ihr Haupt, und verstörte Angst war der gewöhnliche Ausdruck des mütterlichen Antlitzes. Anfangs glaubte sie mit einem Gefühl stiller Ergebung, sie würde diesen aufreibenden Kampf nicht lange überleben; aber ein Blick auf die Kinder flößte ihr stets den sehnsüchtigen Wunsch ein, noch länger zu leben, und brachte sie zu dem Entschluß, um ihretwillen ihr Herz zu stählen – das Leid hinter sich zu werfen, und nöthigenfalls noch mehr zu tragen. Dieser Entschluß wurde noch mehr bestärkt durch den Argwohn: »Wenn mir etwas zustößt, wird gewiß Mrs. Overstein mich bald ersetzen.« Es mag sein, daß sie hierin Unrecht hatte, daß keine Schmeichelkünste Selwyn jemals verleitet hätten, einer Andern ihre Stelle einzuräumen – obwohl er manchmal zu ihr gesagt hatte: »Wenn mir etwas zustößt, so werden Mr. Bonna und Annabella die Vormundschaft über die Kinder übernehmen.« Dem sei indeß wie ihm wolle, der Gedanke that dem weiblichen Herzen gut, denn er machte ihr das Leben doppelt wünschenswerth.

Leben – ja, in der That! wie durfte sie sterben, so lang eines der Kleinen in Gefahr stand? Wie deutlich klang in ihren Ohren die Frage des P. Lawrence, als er sie zärtlich vor den leicht möglichen Folgen einer gemischten Ehe warnte. – »Wenn auch nur eine Seele dem Glauben entfremdet würde, welche Sühne kann geschehen?« Diese Frage, die sie jetzt oft wiederholte, war von besonderer Bitterkeit, seitdem sie eine Bemerkung gehört hatte, die ihr Gatte bei der bereits erwähnten Unterredung hatte fallen lassen. Er hatte mit einer Art prahlerischer Mäßigung gesagt, er werde, obwohl er entschlossen sei, seine Pflicht gegen die Kinder streng zu erfüllen, nie versuchen, sie selbst zu beschränken: sie solle in der Ausübung ihrer religiösen Pflichten stets frei sein, wie er es ihr einst versprochen habe. Versprochen! – er hatte mehr versprochen – und sie, von der Erinnerung aufgestachelt, machte sich in einigen schneidenden Vorwürfen Luft. Selwyn, dessen natürliches Feuer noch immer beim geringsten Hauche aufloderte, wurde erbittert und versetzte:

»Ich wüßte nicht, Therese, daß Du irgend ein Recht zum Reden hättest, denn meiner Ansicht nach bist Du stets in allen religiösen Uebungen schändlich nachlässig gewesen. Vergebens suchte ich an dir ein religiöses Vorbild.«

Es war dieß der gebührende Lohn dafür, daß sie ihre Pflicht ihm nachgesetzt hatte – daß sie seiner Laune oder seinem Wunsche auch dann nachkam, wenn beide ihren religiösen Pflichten untergeordnet hätten sein sollen; doch von seiner Seite ausgesprochen, war dieser Vorwurf fast zu scharf. Sie dachte an den Klageruf Wolsey's: » O hätte ich meinem Gott ebenso treu gedient!« und wiederholte ihn mit denselben Gewissensbissen. Und jetzt wich aus ihrem Herzen ein Gefühl, das bisher dort gewohnt hatte – das Gefühl der Gattenliebe. Sie hatte ihren Gatten treu geliebt unter Prüfungen, welche für eine gewöhnliche Neigung schon lange verhängnißvoll gewesen wären, unter Prüfungen, die hervorgerufen wurden durch launische und herrische Gemüthsart, durch Unglück, Krankheit und die äußerste Armuth; aber dieser letzte Schlag war zu schwer für ein zartes Herz, und zögernd wich unwiderruflich ihre Liebe. Wohl für Therese, wenn diese Prüfung die beabsichtigten Wirkungen hervorbringt – wenn sie dadurch, ob auch spät, zu jener Pflicht zurückgeführt wird, die sie wegen eines vergänglichen Menschen vernachlässigt hatte!

Nicht glücklicher als sie selbst waren die Kinder, die jetzt unter der strengsten Aufsicht lebten. Georg war nicht bei ihnen: er blieb in der Stellung, die er durch Mr. Deanes erlangt hatte; die väterliche Verantwortlichkeit suchte Selwyn dadurch zu erfüllen, daß er einige ernste Unterredungen mit dem Jungen hielt und ihn mit gefährlichen Büchern versah, deren aufmerksame Lesung er ihm anempfahl. Auch Helene war nicht zu Hause; bald nach ihrem Abzuge aus der Stadt war das arme Kind der Obhut der Mrs. Overstein übergeben worden. Es mag seltsam erscheinen, daß der Vater es nicht grausam fand, das warme, junge Herz von den geliebten Angehörigen zu trennen und es einer überaus widrigen Aufsicht zu unterwerfen; allein er hatte ja keine Zuneigung zu seinen Kindern und war von seinen »Ueberzeugungen« verblendet. In seiner Meinung öffnete er sich einen Anspruch auf die Dankbarkeit seiner Tochter, als er ihr versicherte, sie werde eine bequeme Heimath finden und mit Miß Overstein die Vortheile einer Erziehung ersten Ranges theilen.

»Ja, es ist wahr, Mamma,« sagte Helene, die ihre Mutter aufzuheitern suchte, als der Tag des Scheidens herannahte. »Ich werde alle Lehrer der Miß Overstein haben und daher eine glänzende Ausbildung erhalten; und wissen Sie, was ich zu thun gedenke? Ich werde lernen, Tag und Nacht – lernen aus allen meinen Kräften, und sobald ich zu einer Erzieherin tauge, werde ich sie allem zum Trotz verlassen und bei einer katholischen Familie als Gouvernante eintreten. Ich wage zu sagen, daß ich in wenigen Monaten die Befähigung dazu erlangen werde und so jenes schreckliche Haus verlassen kann. Dieser Gedanke hält mich aufrecht. Ja, Mamma, er hält mich aufrecht,« wiederholte sie schluchzend trotz ihres Muthes.

Der Tag war gekommen, an welchem der prächtige Wagen der Mrs. Overstein vor das Thor rollte, und Helene wurde rasch von ihrer weinenden Familie in den Wagen gebracht, wo sie zusammen sank und ihr Gesicht verbarg, während ihre Hände auf die weichen weißen Kissen schlugen, als ob ihr Schmerz unerträglich wäre. Therese vergoß bittre Thränen, während ihre Phantasie dem lieben Mädchen zu jenem ungewünschten Aufenthalt folgte, wo eine wachsame, unbarmherzige Aufsicht ihre täglichen Wege ausspüren, ihre religiösen Uebungen verbieten und vielleicht den Glauben selbst durch Herabwürdigung und Verleumdung zu ertödten suchen wird. Ein Loos hart zu ertragen für die arme Helene, noch härter zu denken für die Mutter! Bald jedoch beseitigte Anna diese ihre schwermüthigen Gedanken durch Liebkosungen und Worte des Trostes.

»Seien Sie guten Muthes, liebe Mamma – es wird hoffentlich nicht lange dauern. Ich kenne Helene; sie wird ausführen, was sie gesagt hat.«

»Ach, sie ist noch zu jung,« versetzte Therese verzweifelnd.

»Nicht ihrem Geiste nach, Mamma! – der ist männlich und fest. O ich vertraue ganz auf unsere liebe Nelly. Ich vertraue ihrem Muthe.«

»Gott gebe, daß es so sei,« erwiederte die Mutter etwas erheitert, denn sie verließ sich auf die Meinungen ihrer ältesten Tochter; und indem sie selbe hierauf zärtlich küßte, dachte sie an den großen Segen, der ihr noch gelassen war.

Auch Anna war sich nicht gewiß, welchen Weg sie unter den gegebenen Umständen verfolgen solle, und die Aussicht auf einen verlängerten religiösen Zwang verursachte ihr vielen Kummer. Sie hatte beabsichtigt, ihre Lage ihrem Seelenführer auseinander zu setzen; allein Selwyn, der eine solche Absicht vielleicht argwöhnte, hatte die ganze Familie so schnell auf's Land geschafft, daß es Anna unmöglich war, geistlichen Rath zu erholen. Therese steigerte die Verlegenheit ihrer Tochter durch rührende Bitten.

»Bleib' bei mir, mein Kind,« sagte sie flehend; bleib' um dieser Kleinen willen. Abgeschnitten von ihnen, muß ich schweigen, doch Du kannst Dir tausend Gelegenheiten verschaffen, um dem, was ihnen gelehrt wird, entgegenzuwirken. Bleibe wenigstens, bis sie älter sind. Anna, wenn Du uns verlässest, so ist meine einzige Hoffnung für sie vernichtet.«

Das uneigennützige Herz der Schwester gab nach, als sie auf die kleine liebkosende Schaar schaute; und sie sagte mit einem Seufzer:

»Ich weiß nicht, ob ich recht handle, doch ich kann sie nicht verlassen. Wenn es unrecht ist, so hoffe ich, daß es mir vergeben wird.«

Es bedurfte einer edlen Liebe, um zu bleiben und unterwürfig die Beschränkungen zu ertragen, die bald in voller Kraft sich geltend machten. Morgens und Abends mußten alle im Hause beten und Hymnen singen; jeden Sonntag wurden die Kinder regelmäßig in die nahe Dorfkirche zum Gottesdienst gesendet und während des übrigen Tages durch eine Last frommer Bücher und Abhandlungen erdrückt, die alle mit Ausfällen auf den Katholicismus reichlich versetzt waren. Mit diesen Maßregeln noch nicht zufrieden, pflegte Selwyn die Kinder in seinem Arbeitszimmer zu versammeln, und durch lange Auseinandersetzungen, Anklagen und Beschuldigungen, die er gelegentlich durch plumpe Spässe würzte, suchte er die Achtung für ihren Glauben zu vernichten und die Wirkungen früherer Lehren auszurotten. Für Therese war es anfangs ein peinliches Gefühl, bei solchen Gelegenheiten gegenwärtig zu sein; doch nach reiflicher Ueberlegung machte sie es sich zur unabänderlichen Regel, in der Nähe zu bleiben, still zu arbeiten, und sich jede Aeußerung zu merken, welche nach ihrer Meinung einen Eindruck auf die jungen Zuhörer machen konnte, damit selbe unmittelbar darauf durch Anna widerlegt würde. Mit unaussprechlichem Danke gegen Gott gewahrte indeß Therese, daß Selwyns Einfluß nicht im Stande war, die Kinder für die neuen Lehren zu gewinnen. Als ob sie den Glauben mit ihrer Milch eingesogen hätten, hatten sie bis jetzt diese gefährliche Prüfung siegreich bestanden, und den Zwang, gegen welchen sie nicht zu murren wagten, vergalten sie durch einen tiefen Abscheu vor Allem, was sie als »ketzerisch« bezeichnen konnten. Das widerstrebende Element war in Allen gleich mächtig, und ging selbst herab bis zu der kleinen Wacklerin, die eines Tages unter Scheltworten auf einen dicken Band (»die Geschichte der spanischen Inquisition«) losschlug, aus dem ihr Vater mit vielem Behagen vorzulesen pflegte, und dem sie unwillkürlich die Thränen ihrer Mutter zuschrieb. Selwyn dachte kaum daran, daß gar manchmal, wenn er alle in der Kirche glaubte (aus später erklärten Gründen war er selbst nicht lange ein regelmäßiger Besucher derselben), die größeren Knaben auf irgend einem Baume im Garten versteckt waren und die Gesichter gegen die nächste – achtzehn Meilen entfernte – katholische Kirche gewendet, im Geiste die Messe anhörten; und eben so wenig dachte er daran, daß die, welche zu dem verabscheuten Gottesdienste gingen, selten ein Wort von der Predigt anhörten, sondern in dem großen, tiefen und abgesonderten Kirchenstuhl versteckt, ihre Rosenkränze beteten und in jenen Büchern lasen, die sie aus dem allgemeinen Brande gerettet hatten, dem ihr Vater all diesen »papistischen Unrath« übergeben hatte.

Obwohl diese erfreuliche Erscheinung den Kummer der Mutter nicht wenig milderte, blieben doch manche nie versiegende Quellen der Angst übrig. Sie war besorgt um Paul, der noch zu Hause war, aber den Veranstaltungen seines Vaters gemäß jeden Tag seiner Abberufung entgegensah; sie ängstigte sich um Helene; sie ängstigte sich insbesondere um Georg. Dieser Junge kam alle vierzehn Tage auf Besuch nach Hause, und bald wurde es Allen klar, daß er sich sehr verändert hatte – er war nicht mehr der offenherzige, aufrichtige Jüngling, wie früher. Therese schrieb diese Veränderung dem Verkehre mit der Geschäftswelt zu, der häufig die liebenswürdigsten Seiten im Charakter eines Jünglings abreibt und ihn dem nicht geachteten Rathe der Mutter entfremdet. Sie nahm daher, als eine verständige Mutter, diese Prüfung mit maßvoller Stärke auf; doch blieb ihr ein unbestimmtes Gefühl von einem nahen Kummer und völlig konnte sie sich die wachsende Entfremdung ihres Sohnes keineswegs erklären.

Nach und nach begannen die Kinder mit bestürzten Gesichtern zu flüstern, Georg habe dieses gesagt, Georg habe jenes gethan; und die ungekünstelten Bemerkungen drangen wie scharfe Dörner in das besorgte Herz der Mutter.

Paul hätte die Befürchtungen seiner Mutter bestätigen können, wenn er gewollt hätte, denn eine Unterredung mit seinem Bruder zeigte ihm klar, was sie zu fürchten hätten. Da er aber die Beängstigungen seiner Mutter nicht vermehren wollte, so behielt er seine Bemerkungen für sich.

Eines Sonntags gingen die Jünglinge im Garten spazieren, indem sie auf die Postkutsche warteten, welche Georg in die Stadt führen sollte.

»Es ist nicht mehr als Freundschaft, wenn ich Dich warne, Paul, und so sage ich Dir, sieh Dich vor. Der Vater wird diese Woche in Betreff Deiner einen Antrag erhalten.«

»Worin besteht er, Georg?«

»O Du kannst es errathen: die alte Geschichte. Mr. Bonna wird hieherkommen oder in einigen Tagen schreiben. Er deutete mir am letzten Sonntag, als ich ihn nach dem Gottesdienste sah, so etwas an.« Paul schaute ernst über die schöne Landschaft hin und unterdrückte einen Seufzer.

»Schlimme Neuigkeiten, Georg. Aber sage mir, wie kamst Du in Mr. Bonna's Kirche?«

Sein Bruder schaute verlegen darein.

»Das geschah zufällig. Doch warum sind Dir meine Neuigkeiten unangenehm? Du solltest es für ein Glück halten, in eine Stellung versetzt zu werden, welche, wie diese, Dein ferneres Fortkommen nicht wenig befördert. Bist Du es nicht müde, hier zu leben und über Deinen Büchern zu brüten? Dieser Platz ist für Mädchen geeignet, aber nicht für Dich – ei, mir scheint fast, als würdest Du unter ihnen selbst zum Mädchen,« fügte er hinzu, indem er von seiner männlichen Höhe auf den zarten Jüngling herabsah, der, obwohl im selben Alter, doch viel jünger aussah.

»Ich wünsche, Georg, Du sagtest mir, warum Du in jene Kirche gingest. Einst gab es wenige Dinge, die wir vor einander geheim hielten.«

Georg lachte.

»Nun, wenn Du es als Zeichen des Vertrauens ansiehst, ich besuchte den Gottesdienst dort, doch warum ich hinging, um das wünsche ich wirklich nicht befragt zu werden. Wie Du mich ansiehst! Du hältst mich ohne Zweifel für einen großen Sünder.«

»In der That, Georg, ich war weit entfernt, einen solchen Schritt von Dir zu vermuthen. Sicherlich weißt Du …..«

»Predige mir nicht, Paul, und bedenke, daß ich weiß, was ich thue. Ich will Dir sagen, was es ist: Deine Ansichten sind sehr engherzig, weil Du hier so lange eingeschlossen bist. Ich hoffe, Du wirst sie fahren lassen, sobald Du fortkommst von hier.«

»Georg! wenn die Mutter Dich hörte!«

»Die Mutter!« wiederholte der junge Gentleman, indem er den Kopf in die Höhe warf. »Die Mutter ist eine liebe Frau, Gott segne sie! – Doch es gibt gewisse Dinge, über welche sie beschränkte Ansichten hat. Nach meiner Meinung ist die Religion sehr anziehend, wenn sie uns nicht mit jenen schweren Ketten belastet, welche nach der Meinung einiger Leute bei Verlust des Heils getragen werden. Sollen wir nicht …« Hier jedoch ließ sich das Rollen des Postwagens hören, und Georg verließ rasch seinen Bruder, um in das Haus zu gehen; Paul aber, zu sehr verletzt, um zu folgen, blieb im trüben Nachsinnen zurück.

In dieser Woche erhielt Selwyn einen Brief von Mr. Bonna, und sogleich nach dessen Durchlesung ließ er Paul in sein Zimmer kommen. Der Jüngling trat mit einem bezeichnenden Ausdruck auf seinem Antlitz ein, und setzte sich auf seines Vaters Geheiß schweigend nieder.

»Höre mich jetzt, Paul. Dieser Brief kommt von meinem Freund Bonna und er schreibt mir, es sei ihm nach großen Anstrengungen gelungen, etwas für Dich zu thun. Du wirst eine Stelle im Hause des gelehrten und frommen Lord H– erhalten;« er nannte einen Edelmann, der ob seiner grimmigen Intoleranz bekannt war. »Er bedarf eines Bibliothekars und Sekretärs. In dieser Stellung hast Du als junger Gelehrter alle Aussicht, in der Gesellschaft festen Fuß zu fassen – in christlicher Gesellschaft – und meine Seele wird von einer großen Last in Betreff Deiner befreit werden. Es ist etwas Vorzügliches für Dich, mein Junge: besser, als ich es gehofft.«

Der Sohn horchte mit glühenden, starren Augen und sagte nur:

»Wann wünschen Sie, Vater, daß ich die Stelle antrete?«

»Sobald als möglich. Ehe indeß die Sache ganz abgeschlossen wird, wünscht Lord H– Dich zu sehen, und so will ich morgen mit Dir zur Stadt fahren. Sei also für die Morgenpost bereit. Du kannst gehen, mein Junge.«

Paul betrachtete seinen Vater mit einem sehnsüchtigen, seltsamen Ausdruck in seinen beredten Augen, verließ jedoch das Zimmer ohne ein Wort. Auf der Stiege traf er Therese mit angstvollem Gesichte. Sie winkte ihm hinunter.

»Was hat er gesprochen, mein Lieber?«

Er erzählte es ihr, indem er hinzufügte: »Seien Sie guten Muthes, Mutter ich stehe fest.«

»Lord H–, o du mein Gott!« rief sie bekümmert aus. »Ach, er ist wüthend gegen uns. Du wirst jeden Tag die schädlichsten Briefe und Geschichten abzuschreiben haben. O Paul!«

»Mutter,« entgegnete er ernst, aber gefaßt: »Erinnern Sie sich, daß der erste Plan mißlang, vielleicht mißlingt auch dieser. Lassen Sie uns warten und sehen!«

Vater und Sohn fuhren am nächsten Morgen zur Stadt. Gegen ihre Erwartung kehrten sie erst am folgenden Tage nach Hause zurück, denn Selwyn, welcher Mrs. Overstein besuchte, hatte die Abendpost versäumt und war daher in der Stadt zurückgehalten worden. Paul brachte ungünstige Nachrichten mit; Lord H– billigte den ihm vorgeschlagenen Sekretär und wünschte den sofortigen Antritt der Stelle.

»Ich glaube, es war dem Vater nicht sehr recht, daß ich nochmals heimfahren sollte, doch ich sagte zu ihm, es wäre zu hart, Sie alle ohne ein Wort zu verlassen; ich würde morgen abreisen. Liebe Mutter, weinen Sie nicht!« Er schlang seine Arme um sie. »Ich kann es nicht ertragen, Schuld an Ihren Thränen zu sein. Hören Sie – werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, Sie dürfen meinetwillen keine Furcht haben?«

»Verlasse Dich nicht allzusehr auf Deine eigne Kraft, lieber Paul,« bemerkte Anna, die wahrscheinlich Georgs gedachte.

»Keineswegs, Anna,« erwiederte er bedeutungsvoll; doch wich er ihrem forschenden Blicke aus, um seine Mutter aufzuheitern. Und da er ihren Geist von dem traurigen Gegenstande ablenken wollte, so sprach er von Helene, die er heimlich einige Augenblicke gesehen hatte, und welche liebevolle und beruhigende Nachrichten heimsandte. Er erzählte, daß sie ihre Studien eifrig betreibe und dem Anscheine nach nicht unglücklich sei – wenigstens für jetzt. »Anfangs, sagte Helene, habe man Bekehrungsversuche mit ihr angestellt; doch mir scheint, sie müssen mürbe geworden sein bei ihrer Bearbeitung einer solch standhaften kleinen Papistin. Dann kam es mir auch vor, als sei Miß Overstein unsrer Nelly sehr zugethan. Ah, sie ist eine sehr schöne, junge Dame, Anna!«

Nach Beantwortung der zahlreichen Fragen über das theure abwesende Mädchen schlich er sich in den Garten hinaus. Dort gesellte sich seine älteste Schwester zu ihm, und schweigend gingen sie dahin, bis Anna an ihn die Frage stellte:

»Willst Du Dich mir nicht anvertrauen, Bruder?«

Er schaute in ihre treuen Augen und beantwortete ihren süßen, durchdringenden Blick mit einem Händedruck.

»Ja, Schwester, ich will es. Ich sehe, Du vermuthest, ich habe einen Entschluß gefaßt; und so ist es auch.«

Sie setzten sich auf eine rohgearbeitete Bank unter einige Bohnenbäume mit niedrig hängenden Zweigen. Anna sah Jahre lang nachher nie solche goldne Blüthen, ohne zugleich den schlanken Jüngling zu sehen, welcher mit erglühtem Antlitz und zitternder Stimme damals sein Herz ihrer mitfühlenden Liebe öffnete.

Seine Hände in die ihren gelegt, den Arm um ihren Arm geschlungen, bekannte Paul seiner Schwester, daß er einen mächtigen Ruf zum Ordensleben fühle. Seit Jahren schon habe er dieses Gefühl in sich getragen, und es sei zum festen Entschlusse gediehen, als er am Krankenlager des jungen Mark Rogers gewacht habe.

»Ich kann Dir nicht sagen, Anna, was ich während der Unterredungen dachte, die ich mit ihm gewöhnlich pflog. O, er sprach manchmal so schön, als ob der Himmel, dem er nahe stand, Einiges von seinem klaren Licht in seine gereinigte Seele tröpfelte und ihn die Dinge der Erde so sehen und beschreiben ließ, wie sie sind, wenn man sie ihres falschen Scheines entkleidet. Damals, Schwester, als er gestorben war und ich bei seiner kalten Leiche wachte, prägten sich alle Wahrheiten, über die wir oft gesprochen hatten, so fühlbar, so unauslöschlich meinem Geiste ein, daß ich überzeugt bin, daß nichts auf Erden ihre gesegneten Wirkungen vertilgen, oder auch nur schwächen kann. Ich fühle das Thörichte jeder Liebe, eine ausgenommen, das Nichts jedes Strebens, eines ausgenommen, so tief, daß ich nicht in die Welt treten könnte, auch wenn ich sogleich eines glänzenden Glückes sicher wäre. Nein, nein, ich kann mein Leben nicht über zeitlichen Dingen vergeuden: ich bin jenen der Ewigkeit verpfändet. Ich will ein guter Mönch, ein nützlicher Priester werden, wenn mir Gott seine Gnade dazu gibt.« Dieses sagte er mit ehrfürchtigem Ausdruck.

»Ich sehe, lieber Paul, Du fühlst tief. Hast Du je über einen so wichtigen Punkt geistlichen Rath erholt?«

»Natürlich; von Pater Clemens, als wir auf Woodhouse waren. Er billigte meinen Wunsch, hieß mich jedoch warten und beten, damit es Gott gefalle, seinen Willen in Betreff meiner zu erkennen zu geben. Ich war damals jung, wie Du weißt; seitdem habe ich überlegt und gebetet – und jetzt muß ich handeln. Anna, nie kann ich die Stelle bei Lord H– annehmen.«

»Nein, Paul, ich dachte – ich wußte das.«

»Nein,« sagte der Jüngling mit leuchtender Entrüstung in seinem Antlitze, »auch wenn ich meine gegenwärtigen Hoffnungen nicht hätte, wenn ich betteln müßte, könnte ich nicht einen Pfennig verdienen in einem von meinem Gewissen so verdammten Dienste. O, wie kann der Vater nur denken – doch er glaubt, er thue seine Pflicht. Möge Gott ihn eines Tages erleuchten.«

»Amen,« sagte ernst seine Schwester. »Doch, Paul,« fügte sie mit unfreiwilligem Schauder hinzu, »wie willst Du in dieser großen Schwierigkeit handeln? Bedenke Alles, was er sagen und thun wird.«

»Ich habe es überdacht, und ich bin gezwungen, einen Weg einzuschlagen, den ich nicht liebe, aber in diesem Falle nicht vermeiden kann. Nach des Vaters Absicht soll ich Morgen Mittag abreisen; ich muß also vorher heimlich fort. Ich muß fort – und vertraue auf den Schutz des Allmächtigen. Ich werde einen Brief an den Vater hinterlassen; doch ich fürchte, er wird, wenigstens für einige Zeit, nicht zu besänftigen sein. Nie wird er erkennen, wie sehr es mich schmerzt, ihn zu betrüben, allein in diesem Punkte kann ich nicht nachgeben, weder aus Liebe, noch aus Furcht.«

Er athmete tief auf; auch sie that es, und indem sie an ihre Mutter dachte, murmelte sie ihren Namen.

»Ach, geliebte Mutter,« wiederholte Paul mit Thränen in seinen Augen. »Wenn ich nur ihre Billigung erhalten könnte! Ach, wenn sie frei wäre, wie zärtlich würde sie mich segnen und ermuthigen! Doch, siehst Du nicht, Anna, daß es grausam wäre, ihr etwas von meiner Absicht wissen zu lassen, denn sie müßte mich entweder verrathen oder den Zorn des Vaters auf sich laden, wenn –. Nein, die Mutter darf nicht mit in die Sache hinein gezogen werden. Erzähle ihr, daß ich dieses sagte; und wie ich mich sehnte, ihr Alles anzuvertrauen.«

»Ach, Paul, ich fürchte die Entdeckung. Doch das ist ein feiger Gedanke. Du mußt Deine Pflicht thun. Aber wohin willst Du gehen? Du hast kein Geld – hast Du Freunde?«

»Liebe Schwester, wird es Dich verletzen, wenn ich Dir sage, es ist besser, daß Du es nicht weißt? Du könntest gefragt werden und in eine peinliche Lage kommen. Wenn Du es jedoch wünschest, will ich Dir auch dieses sagen.«

»Nein,« seufzte sie, »vielleicht ist es besser, wenn Du es nicht sagst; doch wie ängstige ich mich um Dich, da Du auf solche Weise fortgehst?«

Von ihrer schwesterlichen Angst überwältigt, vergoß sie Thränen. Der Jüngling suchte in seinem edlen Gottvertrauen ihren Schmerz zu lindern.

»Wo ist Dein Muth, Anna? Du wirst erfahren, daß ich wohl beschützt bin. Erinnere Dich an die Legende vom heiligen Felix und der Spinne, die wir als Kinder mit so großer Verwunderung zu lesen pflegten. Denke an ein Dutzend andrer Beispiele, die uns lehren, wie Gott jene behütet, die um des Gewissens willen Leiden auf sich nehmen; und sei versichert, daß ich des Schutzes nicht entbehren werde, obwohl ich unbedeutend bin und auf keine außerordentliche Hilfe hoffe. Sei guten Muthes, liebe Schwester, und vertraue auf Gott! Gib dem Kummer keinen Raum, und gestatte nicht, daß die Mutter sich ängstige. Sage ihr, daß ich euch sobald als möglich schreiben werde.«

Sie sprachen noch ein wenig mit einander; dann ging Anna in das Haus. Während hier die Mutter sorgsam Pauls Koffer für seine morgige Abreise packte, ergriff die besorgte Schwester eine günstige Gelegenheit, um für des Scheidenden unmittelbare Bedürfnisse ein passendes Bündel an Kleidern und Nahrungsmitteln zusammenzurichten.

In der frühen Morgendämmerung des folgenden Tages ging Paul fort. Therese war wach, denn Angst und Kummer um seinetwillen hatten ihren Schlaf verbannt, sie war wach, aber weit entfernt, zu vermuthen, daß die Tritte ihres scheidenden Sohnes über den Kies unter ihrem Fenster sich hinstahlen; sie lag wach da, wie ihre eigne, zärtliche Mutter wach dagelegen sein mochte, als sie einst zur Flucht sich erhob. O wie oft gedachte sie dessen mit Thränen, während sie nach gar mancher schlafloser Nacht die Dämmerung langsam anbrechen sah!


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