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Elftes Capitel.
Bekehrungssucht.

»Ich sehe wahrhaftig nicht, mein lieber Selwyn, daß wir bis jetzt sehr glückliche Fortschritte gemacht hätten; doch ich hoffe, die Ueberzeugung wird noch kommen und sie ihrer Täuschung entreißen. Unsre Anstrengungen werden sein wie die Tropfen auf den Stein – zuletzt höhlen sie ihn doch aus; gewiß, sie kommt mir in ihrem Starrsinn vor wie ein Stein – aber so sind alle Römischen.«

Dieß war nach einem langen Gespräch über Helene das Ende von dem Bericht der Mrs. Overstein, auf welchen Selwyn ernst lauschte, und er bat sie, in der Beaufsichtigung des eigensinnigen Mädchens doppelte Strenge anzuwenden.

Mrs. Overstein hatte einmal ihre Freude darüber ausgedrückt, daß die Tochter ihrem Vater gleich sehe; vielleicht fand sie diese Aehnlichkeit getreuer noch, als sie es erwartet hatte. Helene, obwohl sehr zärtlich, wo ihre Gefühle mit in's Spiel kamen, war ungewöhnlich fest, verständig und voll Selbstvertrauen; und die Umstände, in die sie versetzt wurde, vollzogen das natürliche Werk der Jahre, indem sie die starken Seiten ihres Charakters zu ihrer eignen Sicherheit, aber zur Ueberraschung und zum Mißvergnügen ihrer neuen Freunde, hervorkehrten. Diese guten Leute, überaus eifrig im Bekehren, hatten sie einer Behandlung unterworfen, welche einen furchtsamen Geist unterjocht haben würde. Sie wurde nicht blos von jeder Uebung ihrer heiligen Religion mit der äußersten Wachsamkeit abgehalten, sondern man brachte sie auch bei allen Gelegenheiten und zu allen Zeiten in die verschiednen protestantischen Kirchen und zwang sie, mit wehem Kopf und Herzen dazusitzen und die Predigten anzuhören, die alle denselben immer beliebten Gegenstand behandelten, die Thorheiten und Gottlosigkeiten »Roms.«

Gerade zu jener Zeit traf es sich, daß die päpstliche Curie eine Maßregel ergriff Die Wiederherstellung der kath. Hierarchie in England., welche England nicht begriff und daher darüber schmähte. Es erhob sich die unvernünftige, anfangs hochgehende, aber rasch wieder sinkende See des Volksvorurtheils mit lautem Geschrei: auf den Kanzeln wiederhallte es von feierlichen Warnungen und spitzigen Citaten; auf den Plattformen donnerten hochgeröthete Männer in schwarzer Tracht, welche mit wüthenden Anklagen sich selbst und ihre gleich unwissende Zuhörerschaft in ein Fieber eifriger Entrüstung hineinarbeiteten; und jedes Individuum, welches eine Zunge hatte, um gegen den »Angriff« auf die religiöse Sicherheit Englands zu deklamiren, glaubte sich zur Abwehr berechtigt. In dem prächtigen Gesellschaftszimmer der Mrs. Overstein wurde dieser Gegenstand täglich abgehandelt; und Damen, welche wahrscheinlich nie ein katholisches Buch geöffnet, noch nie in ihrem Leben mit einem Papisten vertraut gesprochen hatten, vergaßen die gewöhnlichen Gegenstände ihres süß frommen Geplauders, um gegen die Irrthümer jener Kirche, die unfehlbar sein soll, loszufahren, und beweinten mit sanften Thränen die thörichte Täuschung so vieler Tausende, die in ihren Ketten liegen.

Nicht geringe Anstrengung kostete es Helena, bei diesen Gelegenheiten die Geduld zu bewahren. Anfangs pflegte sie dem Geplapper mit Entrüstung zuzuhören, bis sie in Thränen ausbrach oder plötzlich das Zimmer verließ; mit der Zeit erlangte sie jedoch mehr Selbstbeherrschung. Jetzt hatte sie volle Gelegenheit, die große Unwissenheit über katholische Lehrsätze zu gewahren, welche die meisten Protestanten zur Schau tragen. Sie hatte eine solche Unkenntniß bei Personen, die doch zu den »Gebildeten« gerechnet wurden, für unmöglich gehalten und konnte nicht begreifen, wie solche Leute sich herausnehmen mochten, über Dinge abzuurtheilen, wovon sie augenscheinlich nicht das Mindeste verstanden. Sie war erst kurze Zeit im Hause, als z. B. eine Dame sie im Ernst fragte: »Glauben Ihre Leute an den heiligen Geist, Kind?« Eine andere, welche in sehr angenehmem Gespräch mit ihr begriffen war, ließ ihren Gegenstand fallen und sagte:

»Nun, meine Liebe, ich sehe, daß Sie hohen Verstand besitzen und daher im Stande sind, selbst zu urtheilen; Sie werden mich daher verpflichten, wenn Sie dieses Buch öffnen.« Und sie bot ihr einen kleinen, in Sammt gebundenen Band hin. »Ich bitte Sie, ihn mitzunehmen und zu prüfen. Sie werden nie, nie eine – Römische bleiben, wenn Sie blos dieses Buch öffnen. Fürchten Sie sich nicht, meine Liebe: es ist die Bibel,« setzte sie hinzu, als sie sah, daß ihre Zuhörerin mit höflicher Verbeugung dessen Annahme ablehnte.

»Diese ist eine verehrte Bekannte von mir, Madam! wir haben immer mehr als vier Exemplare des heiligen Buches zu Hause. Und was mehr ist,« fuhr Helena ruhig fort, »wir haben allein die wahre Uebertragung – die Uebersetzung aus der lateinischen Vulgata, aus dem griechischen und hebräischen Originale, in welchem die Testamente abgefaßt wurden, wie Sie wohl wissen.«

Vielleicht wußte sie es nicht – auf alle Fälle horchte sie mit solchem Staunen auf Helene, als ob sie in den eben erwähnten Sprachen redete. Das junge Mädchen konnte sich nicht halten, hinzuzusetzen:

»Ich wünsche, Madam – da wir einmal von diesem Gegenstande sprechen – Sie würden mir zeigen, wie Sie wissen, daß je eine Bibel geschrieben wurde, und daß diese es ist? Gehen wir darauf zurück, wenn es Ihnen gefällt. Sie werden genöthigt sein, das Zeugniß der katholischen Kirche anzurufen, welche treu die heiligen Schriften während der langen Jahrhunderte bewahrte, ehe man die Buchdruckerkunst kannte, und welche die Vermittlerin dieses kostbaren Bandes ist, der sich in diesem Augenblick in Ihren Händen befindet. Wenn Sie je wieder sagen, sie verbiete dessen Umlauf, oder wenn Sie ihn einem Katholiken als etwas vorher nie Gesehenes anbieten, so bin ich gezwungen, Ihnen zu sagen, Madam, daß Sie damit die Wahrheit geradezu beleidigen.«

Bei einer andern Gelegenheit wurde Helene von einigen Bemerkungen, welche ihre Ohren erreichten, höchlich ergötzt. Eine große Morgengesellschaft, die sich zum Besuche eingefunden hatte, beklagte den Abfall eines Gentleman – früher von einigem Ruf unter ihnen – der in seiner Nachbarschaft durch seinen Uebertritt zum Katholizismus eine gewaltige Aufregung hervorgebracht hatte.

»Sprechen Sie von dem armen Mr. –? O, ich habe solche schreckliche Neuigkeiten über ihn gehört,« rief eine Lady – eine Andeutung, welche ihr sogleich ein Dutzend aufmerksamer Ohren sicherte.

»Gewiß, es scheint unglaublich, daß so etwas in unsern Tagen geschehen kann – indeß man darf ja an einem solchen Orte, wie jenes Babylon ist, alles erwarten. Sie wissen, daß Mr. – nach Rom reiste, bald nach seinem unglückseligen Glaubenswechsel. Nun, während er dort war, fiel er in die Ungnade des Papstes und – werden Sie es wohl glauben, meine theure Mrs. Overstein? – man brannte ihm mit einem rothglühenden Eisen seine Augen – seine beiden Augen aus, ich versichere Sie.«

Ein Schauder bemächtigte sich des gesammten Kreises der Zuhörerinnen (nicht eine von ihnen bezweifelte diesen Bericht), und viele seltsame Vermuthungen wurden über die Ursache und die Wirkung dieser Bestrafung gewagt.

»Armer geblendeter Mann!« rief eine reiche alte Dame, die sich in kräftigen, schwankenden Tönen gefiel. »O daß der He–err jetzt die Augen seiner Se–ele öffnen und ihm den Gräuel des Weges zeigen möchte, den zu wa–andeln er sich erwählt hat.«

»Ach, ich wünschte, es wäre so, theure Mrs. Bickerby,« seufzte die Erzählerin. »Doch weit davon, ich höre vielmehr, er habe seine Buße – wie sie es nennen – demüthig hingenommen.«

»Der arme Unglückliche! vielleicht befürchtet er gar Schlimmeres!« rief Mrs. Overstein aus.

Die Thatsache war einfach die, daß der besprochene Gentleman während eines kurzen Aufenthaltes in Rom ziemlich heftig an einer Augenentzündung gelitten hatte – einem Uebel, das häufig englische Besucher der ewigen Stadt anfällt. Da Helene dieses zufällig wußte und überdieß den Gentleman seitdem in London gesehen hatte, wo seine Gesichtsorgane wieder in sehr gutem Zustande waren, machte es ihr Vergnügen, die Gesellschaft mit der Wahrheit bekannt zu machen; und auf diese Weise trug sie, wie zu hoffen ist, einiger Massen zur Vernichtung einer zwar lächerlichen, aber doch gut aufgenommenen Verleumdung bei.

Viele eben so abgeschmackte Dinge, wie die so eben erwähnte Geschichte, mußte das arme Mädchen anhören, da anfangs ihre Anwesenheit in den Empfangszimmern unabänderlich gefordert wurde, wahrscheinlich in der Hoffnung, es würde die Gesinnung, welche aus den Lippen der Besucher, männlicher wie weiblicher floß, auf ihren ernsten Geist irgendwie einwirken. Doch diese glückliche Idee erwies sich als nichtig. Miß Helene, überaus wohl unterrichtet, hatte etwas von dem Blitz ihres Vaters auf der Spitze ihrer Zunge; und wenn aus der Quere eine Aufforderung an ihre »Ueberzeugungen« gestellt oder eine scheinbar unschuldige Frage an sie gerichtet wurde, so antwortete sie zuweilen gemäß der Eingabe ihres »Witzes« und meistens mit unverkennbarer Wirkung. Sie zog daraus einen großen Nutzen. Da die Gesellschaft es für gefährlich fand, sich an dem zu reiben, was so gut zu stechen verstand, und da sie vielleicht insgeheim sich fürchtete, durch ihre junge Beobachterin in Verlegenheit gesetzt zu werden, so überließ man bald die kleine Lady sich selbst, und zuletzt fühlten sich alle mit Einschluß der Mrs. Overstein wohler, wenn sie nicht zugegen war.

Dabei ist zu beachten, daß diese Bemerkungen sich hauptsächlich auf die Damen und die jüngeren Männer der Bekanntschaft der Mrs. Overstein beziehen, welche blos einen schwachen Vorrath an allgemeinem Wissen besaßen, und daher keine Gegner für ein Mädchen waren, welches wohl unterrichtet war, und wenn man es zum Reden reizte, auch mit jedem Satze das Ziel traf. Zuweilen jedoch fanden sich andere Personen ein, welche sie trotz ihren Vorurtheilen achten mußte: Männer, bewundernswerth ob ihrer Gelehrsamkeit und aufrichtigen Güte, die mit freundlichem Mitleid auf das hübsche Mädchen sahen, als auf »ein Opfer der falschen Grundsätze ihrer Erziehung,« und die sich über ihre »Bekehrung« gefreut haben würden, aber zu artig waren, um eine Controverse über einen Gegenstand zu verfolgen, welcher ihr, wie sie sahen, unangenehm war. Einen besonders pflegte sie mit ehrfurchtsvollem Interesse zu betrachten. Er war Pfarrer jenes Kirchspieles, ein begabter, würdiger Mann mit wohlwollendem, mildem Antlitz und einer Stimme voll sanfter Güte; und stets kam er in Gesellschaft von hübschen Töchterchen. Die in seiner Nähe sitzenden Kinder betrachteten Helene gewöhnlich mit unerschütterlicher Aufmerksamkeit und mit einem Ausdruck auf ihren offenen Gesichtern, der klar zeigte, mit welcher Abneigung man sie gewöhnt hatte, auf irgend etwas Papistisches zu blicken. Anna, der es widerstrebte, in den Augen dieser Kinder fort und fort als eine Art Währwölfin zu gelten, versuchte es oft, sie durch Freundlichkeit zu gewinnen doch es war umsonst. Ihr Vater – der trotz seiner Frömmigkeit sehr bigott war – hatte die jungen Geister mit unduldsamen Gesinnungen getränkt, und nichts vermochte die Wirkungen dieser sorgsamen Erziehung zu zerstören. Empfindet er kein warnendes Vorgefühl der Zeit, wo der Hauch des wahren Glaubens seine Seele berühren und machtvoll gleich dem Trompetenstoß gegen Jerichos Mauern die Wälle seines bisher strengen und unzugänglichen Vorurtheils niederwerfen wird? wo er dankbar sein Leben hingeben würde, wenn er das, was er gelehrt, ungeschehen machen könnte, und wo er mit feierlichem Drängen versuchen wird, für die spät gefundne Wahrheit auch diese geliebten Töchter zu gewinnen, die seine Bemühungen mit Entsetzen abweisen und über ihren einst verehrten Vater trauern werden, als ob er in seinem hohen Alter aberwitzig geworden und der Schande anheimgefallen wäre? Er sieht nichts von all dem voraus – und doch sollte es so kommen.

In jener Familie war eine Person – Miß Overstein – an der Helene ein Interesse nahm. Dieses Gefühl wurde jedoch in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft sanft zurückgehalten, da die junge, eben erwähnte Dame, die einige seltsame Begriffe von katholischen Sitten und Gebräuchen in sich aufgesogen hatte, willens schien, sich in bescheidner Ferne zu halten. Doch das Eis selbst würde kaum seinen Frost bewahrt haben, wenn man es in Berührung mit Helene gebracht hätte, und so wich die Zurückhaltung allmählig freundlicher Gesellschaftlichkeit. »Ich kann sie nicht ganz begreifen,« dachte Helene still für sich, nachdem sie ihre neue Freundin etwas ausgeforscht hatte. »Ich glaube, es steckt etwas in ihr, trotz ihren Mienen.« Miß Overstein, ein Bild der liebenswürdigsten Mattigkeit, schien nämlich durch die schwindenden Tage hinzuschreiten, als ob das Leben eine Szene wäre, die man ausschlafen müsse, und als wäre sie für keine der großen Pflichten desselben verantwortlich. »Ich fange an sie zu begreifen,« dachte Helene etwas später. »Es schlummert ein guter Theil in ihr, wenn er nur erweckt werden könnte. Sie ist von ihrer Mamma sehr verschieden.« Das rasche Mädchen hatte bald die Schwäche dieser jungen Dame entdeckt, und sie sagte zu sich selbst: »Sie ist reine Aeußerlichkeit; sie würde mich eben so gerne bekehren, um meinem Vater zu gefallen und meine Mamma zu ärgern, als aus irgend einem würdigeren Grunde. Bevor ich hieher kam, glaubte ich sie fürchten zu müssen; doch sie ist keine beherzte Feindin!«

Durch diese Betrachtung ermuthigt, erneuerte sie ihren Vorrath von Geduld, und mit frischem Eifer suchte sie sich jene Mittel zu sichern, durch welche sie ihrer gegenwärtigen Lage zu entrinnen hoffte. In diesem standhaft verfolgten Ziel wurde sie von Umständen unterstützt, die selbst ihre Erwartung übertrafen. Miß Overstein, obwohl bereits erwachsen, hatte doch ihre Bildung noch nicht »beendet,« und täglich stellten sich eine Anzahl Lehrer ein, deren Besuche bei der Ankunft der ernsten Helene aufhörten unnütz zu sein.

Am Tage nach Selwyns Besuch bei Mrs. Overstein traf es sich, daß die jungen Damen allein beisammen waren – Helene hatte ein italienisches Buch in Händen und gedachte sinnend der Heimath, an welche das Antlitz ihres theuren Bruders Paul, den sie einige Augenblicke gesehen hatte, ihre Seele lebhaft erinnert hatte. In diesem Augenblick war ihr starker Muth etwas niedergedrückt, denn das Loos ihrer Mutter erschien ihr sehr hart, und die Zukunft der jüngeren Glieder der Familie gefährlich und ungewiß. Während sie so nachsann, hörte sie Miß Overstein tief seufzen, und indem sie auf die junge Lady blickte, die mit ungewöhnlicher Ermattung ihrer Züge auf einer prächtigen Ottomane lehnte, konnte sie die Frage nicht unterdrücken:

»Was fehlt Ihnen, Cäsarina?«

»Nichts, Helene – gar nichts! Ach, welch' eine nutzlose Lebensweise ist das!«

»Die Ihre? Ich muß gestehen, auch ich habe es mir oft gedacht,« versetzte lächelnd Helene.

Miß Overstein wendete ihren Kopf, um ihre Gefährtin mit sanften, lauschenden Augen anzuschauen; nach einer Pause frug sie:

»Wie kann ich es ändern? ich wollte, ich könnte es; aber in meiner Lage scheint es nichts zu geben, was von mir gefordert, – nichts was von mir geschehen könnte.«

»Glauben Sie das nicht, Cäsarina. Jeder Mensch in der Welt hat etwas zu thun und etwas zu verantworten, wenn es nicht geschieht. Doch was veranlaßt Sie plötzlich, über diesen Gegenstand nachzugrübeln?«

»Warum sind Sie den ganzen Tag müssig?« lautete die Antwort der Miß Overstein. Sie brauchte nicht mehr zu sagen, denn Helene folgte unwillkürlich dem durch diese Worte angeregten Gedankengang – Worte, die sie mehr als einmal halb lächelnd, halb vorwurfsvoll zu wiederholen wagte, wenn ihre Gefährtin von einer ungewöhnlich langen Gleichgiltigkeit befallen wurde. In Wahrheit war es für Anna, deren häusliche Erziehung völlig verschieden gewesen, lange ein Gegenstand der Verwunderung, wie man beständig und mit so wenig Unruhe die Zeit vergeuden konnte. Zu Miß Overstein's Gunsten muß jedoch bemerkt werden, daß Nelly's Bemerkungen über diesen Gegenstand die empfindlichsten und schärfsten waren, die man je an sie gerichtet hatte, und daß sie, sobald die schlummernden, aber sehr feinen Kräfte ihres vernachlässigten Geistes getroffen waren, der Anregung mit einer Aufrichtigkeit und Aufmerksamkeit entsprach, welche Gutes hoffen ließen.

»Was kann ich thun?« wiederholte nach einer weiteren Pause die junge Lady. »Ich glaube, meine Stellung verpflichtet mich zu ungewöhnlichem Müssiggang. Ich bin nicht Schuld daran, sondern ward dazu geboren, das ist mein Trost. Sie wissen, Nelly, wie die Tage kommen und gehen. Ich gehe oft in die Kirche, und zu einer Zeit glaubte ich, die Armen regelmäßig besuchen zu müssen, und ich that es auch; doch es ist unnöthig für mich, sie persönlich in Dingen zu unterweisen, die andere besser verstehen, als ich, um so mehr, da ich weiß, daß die guten Geschöpfe nur auf eine Gabe warten. So finde ich es für besser, ihnen mein Almosen zu schicken, als es persönlich zu vertheilen. Ich nähe ein bischen, wie Sie wissen, doch wie wenig! Ich zweifle, ob ich drei Kinder in sechs Monaten kleiden könnte! Ein Geschenk leistet größeren Dienst, als alle meine Arbeit; darum bleibe ich müssig wie zuvor.«

Helene hatte nicht selten bemerkt, daß ihre Geschenke edelmüthig und häufig waren. Sie setzte sich neben die Lady, die da saß mit einer Miene, als ob sie ein schwieriges Räthsel lösen sollte. »Ach,« dachte das junge Mädchen, »wenn dieses liebe Geschöpf katholisch wäre – wenn sie jene Interessen und Beschäftigungen kennte, wie ein Katholik sie im täglichen Leben findet, so hätte sie nicht nöthig, über ungekannte Pflichten und nutzlose Stunden zu seufzen!« Sie durfte jedoch ihre Gedanken nicht aussprechen; daher sagte sie in der gutmüthigen Absicht, ihre Gefährtin aufzuheitern:

»Fassen Sie Muth, Cäsarina. Unsre Mängel erkennen, ist der erste Schritt zur Besserung. Sie sind wenigstens nicht müssiger als viele Damen Ihrer Bekanntschaft, welche die Zeit damit todtschlagen, daß sie fast jede Stunde ihres Lebens zu Besuchen und Plaudereien verwenden. Sie huldigen dem Müssiggang, ich gebe es zu,« setzte sie lachend bei, »aber in Ihrem Müssiggang liegt kein wirkliches Unheil, wie bei jenen.«

»Sie werfen mir eine sehr sonderbare Art von Trost hin, Helene. Ich vergeude allerdings nicht viel Zeit mit Ankleiden und Besuchmachen; aber vielleicht nur deßhalb, weil beides so große Anstrengung erfordert! Doch nein, ich kümmere mich wirklich nicht um solche Dinge; sie sind nichts werth. Die Wahrheit ist, ich habe eben meine Augen geöffnet, um zu sehen, daß ich verdorben worden bin. Das ist die Wahrheit, Nelly.«

»Nicht ganz, Cäsarina, oder Sie würden nicht fühlen, wie Sie jetzt fühlen. Ich habe große Hoffnungen, daß bald,« sie hielt inne, denn ein kleiner, weißer Rosenkranz war aus ihrem Corsett geglitten und zu Miß Overstein's Füßen hingefallen. Es war dieß das letzte katholische Ueberbleibsel, das sie besaß, und sie schätzte es so hoch, daß sie ängstlich erröthend ausrief:

»Ich hoffe, Sie werden es nicht sagen.«

»Sie wissen, Helene,« erwiederte die andre ruhig, »ich habe nie an religiösen Streitigkeiten Antheil genommen, und habe es auch nie im Sinne. Doch lassen Sie mich sehen! Was ist das? Ein Rosenkranz? Wozu dient er?«

»Ach, Cäsarina, er ist von solchem Nutzen und eine so theure Hilfe beim Beten, daß ich ihn nicht für eben so viele Perlen hingäbe, als da an dieser kleinen Schnur Kügelchen sind. Seien Sie nicht betreten hierüber, und glauben Sie nicht, es sei dabei irgend eine Zauberei, oder ein finstrer Aberglauben mit im Spiele! Alles ist einfach zu erklären, hätte ich nur die Macht dazu! Wenn Sie für einige Augenblicke alles vergessen wollen, was Sie ohne Zweifel gegen diesen frommen Brauch gehört haben – all jene Beschuldigungen von leerer Wiederholung,« »sinnloser Verdummung« und so fort, so will ich versuchen, Ihnen zu zeigen, was ein Katholik wirklich über diesen Punkt denkt.«

»Ich habe keinen vernünftigen Einwand gegen Ihre Auseinandersetzung, Nelly.«

»Dann sehen Sie hieher, Cäsarina! Zuerst bemerken Sie, daß dieser Rosenkranz in fünf Zehner oder Decaden von Perlen mit je einer größeren Perle zwischen je zehn abgetheilt ist. Bei jeder dieser größeren Perlen beten wir ein »Vaterunser«, bei jeder dieser zehn kleinen beten wir ein »Ave Maria,« und schließen bei dieser trennenden Perle mit einem »Ehre sei dem Vater«. Verstehen sie wohl, diese Perlen sind einfach dazu bestimmt, unserem Gedächtniß zu Hilfe zu kommen und uns durch die Berührung, während wir sie leicht halten, zu zeigen, wann die gebührende Zahl von Gebeten gesagt ist. Dieß bewirken sie ohne den Geist zu stören – denn, Cäsarina, während wir diese Gebete wiederholen, sind wir gewöhnt an einige heilige Ereignisse zu denken – »Mysterien« nennen wir sie – die sich hauptsächlich auf das Erdenleben unsres Herrn beziehen. Protestanten wissen wenig, welchen Kreis heiliger Mysterien ein Katholik an sich vorüberziehen läßt – welche Familiengemälde aus dem sterblichen Leben des Welterlösers und seiner demüthigen Mutter vor den Augen seines Geistes aufsteigen, während die Hand durch diese viel geschmähte Schnur gleitet.

Der ganze Rosenkranz besteht aus fünfzehn Betrachtungspunkten, die folgendermaßen geordnet sind: fünf freudige, fünf traurige und fünf glorreiche Geheimnisse. Die fünf freudigen bezeichnen jenen Theil des Lebens unseres göttlichen Herrn, der verfloß, ehe Er sein öffentliches Predigtamt begann. Das erste Geheimniß erinnert uns an den Gegenstand, welchen dieses Bild vorstellt,« sagte Helene, indem sie abbrach und auf einen schönen Kupferstich der »Verkündigung« hindeutete. Wenn wir nun versuchen, uns das zu vergegenwärtigen, was der Zweck der Herabkunft des Engels war: die Menschwerdung des lang ersehnten Messias, der Hoffnung seines Volkes, so haben wir Stoff zu tiefem Nachdenken, oder nicht? Ich sah heute Morgen, wie Sie in sehr ernstem Sinnen vor diesem Kupferstich standen, Cäsarina. Hätten Sie damals ein »Vaterunser«, zehn »Ave Maria« und die Lobpreisung gesagt, so würden Sie die erste Decade unseres Rosenkranzes gebetet haben. Das zweite Geheimniß erinnert uns an den Besuch der Jungfrau bei ihrer Base, der heiligen Elisabeth. Das dritte an die Geburt unseres Erlösers in Bethlehem. Das vierte an seine Darbringung im Tempel als Kind von acht Tagen. Und das fünfte an seine Auffindung im Tempel nach jener peinvollen Abwesenheit von drei Tagen, während welchen seine Eltern ihn »voll Sorgen suchten.« Sie sehen, in diesen fünf freudigen Geheimnissen betrachten wir betend die irdische Laufbahn unseres Heilandes von der Fleischwerdung an, bis Er zwölf Jahre alt war. Sehen Sie bis jetzt an dem Rosenkranze etwas, was einen Vorwurf verdient?«

»Fahren Sie weiter, Nelly!«

»Dieß bildet einen der drei Theile, in welche der Rosenkranz abgetheilt ist. Nach diesen fünf freudigen Geheimnissen gedenken wir fünf schmerzlicher – wahrhaft schmerzlicher; denn sie beziehen sich auf die heilige Leidensgeschichte unseres Erlösers. Indem wir mit seinem Gebete und seinem Todeskampfe im Garten beginnen, schreiten wir zur Betrachtung seiner Geißelung, seiner Krönung mit Dornen, seines schweren Ganges mit dem Kreuze zum Calvarienberg – endlich seiner Kreuzigung fort. Dieß sind in der That fünf Geheimnisse, die uns von einem Punkt jenes bittern Leidens zum andern führen, bis wir ehrfurchtsvoll unter dem Kreuze stehen, an welchem der todte Jesus hängt – das geopferte Lamm Gottes, welches unsre Sünden in den Tod getrieben haben. Ach, wer kann zu oft, zu tief über diese »Punkte« nachdenken!«

»Ich habe fünf freudige und fünf schmerzhafte Ereignisse aufgezählt. Es bleiben noch fünf glorreiche übrig. Diese sind: 1. Die Auferstehung unsres siegreichen Herrn aus dem Grabe. 2. Seine triumphirende Himmelfahrt vom Oelberge aus. 3. Die Herabkunft des heiligen Geistes auf die Schaar der Gläubigen, die in jenem »obern Saale« im Gebete verharrte. 4. Die Himmelfahrt Mariä. 5. Ihre Krönung als Königin des Himmels. Sie, mit Ihren protestantischen Ansichten, mögen wohl die letzten zwei Punkte nicht bewundern, obwohl ein Katholik Ursache hat, sie zu lieben; doch haben Sie an den andern etwas auszusetzen? Offen gestanden, Cäsarina, finden Sie nicht, daß der häufige Gebrauch des Rosenkranzes darauf berechnet ist, uns zu einer sehr nahen Vertraulichkeit mit dem Erdenleben unseres Heilandes zu führen?«

»Ich kann ihre Gewohnheit, über jene von Ihnen beschriebenen Punkte nachzudenken, begreifen; auch glaube ich, daß solche Betrachtungen sehr heilsam sind – für Sie und für uns. Aber ich sehe nicht ein, warum Sie nicht ebenso gut darüber nachdenken können, ohne inzwischen alle jene »Ave Maria« zu beten«.

»Das versteht sich von selbst, Cäsarina, wir können auch ohne Rosenkranz darüber nachdenken, und wir thun es; doch Sie wissen, es gibt mehrere Arten zu beten. Ich spreche jetzt blos von dieser besonderen Art. Wenn wir Katholiken uns zum Rosenkranzgebete niederknien, so wissen wir, daß wir eine Andachtsübung vornehmen, die für unsre liebe Frau sehr ehrend ist; und wir machen so häufigen Gebrauch von ihrem Gebete – dem »Ave Maria« – weil es sich auf die Menschwerdung Gottes bezieht, wodurch Maria das gnadenreichste aller Geschöpfe wurde. Dieses Gebet, Cäsarina, beginnt mit dem Gruß des Engels an Maria: » Gegrüßt seist du Maria, voll der Gnaden, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Weibern.« Gebrauchte er nicht diese Worte? Schauen Sie in Ihrer Bibel nach; dort stehen sie klar und deutlich. Sollen wir nicht die Worte wiederholen dürfen, welche ein Erzengel, der, betraut mit einer Sendung des Allerhöchsten, vom Himmel kam, an jenes auserwählte und gesegnete Wesen richtet, welches das Gefäß werden sollte, in dem der fleischgewordene Heiland zu wohnen sich herabließ? Derselbe Gruß wurde von der heiligen Elisabeth fortgesetzt, als Maria sie besuchte. Sie ruft vom heiligen Geiste erfüllt: » Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Und woher, daß die Mutter meines Herrn zu mir kommt?« O Cäsarina! die von einem Erzengel, die von Elisabeth im Augenblick der Eingebung gesprochenen Worte, eben diese Worte weigern sich die Protestanten zu gebrauchen und tadeln uns bitter, daß wir uns derselben bedienen. Doch vielleicht wünschen Sie noch den übrigen Theil des Gebetes zu hören: » Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt' für uns arme Sünder jetzt und in der Stunde unsres Absterbens, Amen. Dieser zweite Theil wurde vor Alters von unserer Kirche hinzugefügt und war Tausenden von Heiligen theuer – und er muß stets einem katholischen Herzen theuer sein. Wir flehen unsre liebe Frau an, sie möge für uns, die wir Sünder sind, bitten; und indem wir dieß bekennen, anerkennen wir auch ihre Sündelosigkeit – ihre Macht der Fürbitte bei ihrem göttlichen Sohne. Wer wird dem heiligen Herzen des Erlösers theuerer sein als seine auserwählte Mutter? Wer wird wirksamer zu unseren Gunsten sprechen können, als sie? Fallen Sie indeß ja nicht in den großen Irrthum zu denken, wir beteten zu ihr wie zu Gott. Dieß wäre die gröbste Täuschung. Der Allmächtige hat allein und unveräußerlich den Anspruch auf die Anbetung seiner Geschöpfe, und wer immer es wagen würde, Maria diese höchste, Gott allein gebührende Ehre zu erweisen, der müßte entweder ein Narr oder ein Gotteslästerer sein. So erhaben sie auch ist, sie ist doch nur ein Geschöpf. All' die Schönheit, all' die Gnade, wovon sie nach seiner eignen Erklärung »voll« ist, ist sein freiwilliges Geschenk. Sie konnte nichts davon selbst verdienen.«

»Helene,« sagte ihre Zuhörerin, »Sie brauchen sich nicht so abzumühen, mir Ihre Kenntniß von Maria auseinanderzusetzen. Ich verstehe vollkommen die Stelle, welche Ihr Katholiken ihr anweist. Ich kann mir denken – wenn Sie einmal sich selbst überredet haben, daß Ihr Glaube an die Fürbitte der Heiligen und Engel kein Irrthum ist – ich kann mir da denken, mit welch' besonderer Liebe, mit welch' besondrem Vertrauen Sie einem so heiligen Wesen, wie Maria es gewiß war, zugethan sein müssen.«

»Und wie können Sie beweisen, daß dieser unser Glaube ein Irrthum ist, Cäsarina? Was die Engel betrifft, so können Sie die heiligen Schriften nicht lesen, ohne zu sehen, wie häufig sie als Boten vom Allmächtigen auf unsre Erde gesendet wurden, und wie sie im Stande sind, mit den Sterblichen zu verkehren. Erinnern Sie sich an jene Worte unsres Erlösers: »Seht, daß ihr nicht eines dieser Kleinen verachtet, denn ich sage euch, ihre Engel im Himmel schauen stets das Angesicht meines Vaters.« Und im Briefe an die Hebräer 1. Cap. findet sich folgende auffallende Stelle: »Die Engel sind insgesammt dienende Geister, gesandt, denen zu dienen, welche die Erbschaft der Erlösung empfangen sollen. Bei Lukas, fünfzehntes Capitel, zehnter Vers, stehen folgende wohlbekannte Worte: »Und es wird Freude sein unter den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße thut.« Ich lernte einmal einen schönen Vers aus dem Propheten Zacharias, erstes Capitel auswendig: »Der Engel des Herrn antwortete und sagte: O Herr der Heerschaaren, wie lange noch willst du dich nicht erbarmen Jerusalems und der Städte Juda's, über die du gezürnt hast sechzig und zehn Jahre? Und der Herr antwortete dem Engel, der mit mir sprach, gute und trostvolle Worte.« Was lehren diese Citate anderes, als die Zuneigung der Engel zu uns und ihre Macht der Fürbitte für uns Sterbliche? Dasselbe glauben wir als wahr auch bei den Heiligen annehmen zu dürfen. Lazarus wurde in seiner Herrlichkeit von dem unglücklichen Reichen um Hilfe angefleht. Der Apostel St. Matthäus sagt: »Die Heiligen sind wie die Engel Gottes im Himmel.« Und Sie wissen aus dem Buche der Offenbarung, wie die vierundzwanzig Aeltesten »goldne Schalen voll Wohlgerüche haben, welches die Gebete der Heiligen sind.« Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß Luther in diesem Punkte mit unserer Lehre übereinstimmt; und er befahl seinen Nachfolgern, die heilige Jungfrau und die Heiligen stets anzurufen, damit sie für sie bitten mögen.« Und was bedeutet diese Anrufung der Seligen? Wir erinnern sie dadurch einfach, für uns zu thun, was sie für ihre Mitmenschen während ihres Erdenlebens gethan haben – nämlich für uns zu bitten. Alle Christen sind ja gehalten, für einander zu beten, auch während sie auf Erden weilen. Ueberdieß ist, streng genommen, kein Katholik verpflichtet, die Heiligen anzurufen. Es kann jemand der katholischen Kirche angehören, ohne je die Heiligen anzurufen; allein wer möchte wohl freiwillig einer so trostreichen, so »guten und nützlichen« Uebung sich begeben? Ich nicht, wahrhaftig! Ich bedarf all' der Hilfe, die ich erhalten kann!«

»Ich höre ihren Reden gern zu, Nelly. Nicht daß ich mit Ihnen übereinstimme, aber Ihr Eifer und Ernst gefällt mir. Ich wünschte, ich könnte an irgend etwas auf dieser Welt solchen Antheil nehmen,« seufzte Miß Overstein. Dann ließen sie das Gespräch fallen.

Es mag hier bemerkt werden, daß Cäsarina ihr Versprechen hielt, und Nelly behielt ihren Rosenkranz. Hätte indeß die Herrin des Hauses von dem kleinen eben erwähnten Vorfall gewußt, sie würde an die verfluchten Dinge in den Zelten Israels gedacht haben, und der Rosenkranz sammt Zubehör wäre sicher in's Feuer gewandert.

Einige Tage später mußte Mrs. Overstein schlimme Nachrichten erhalten haben. Nach einem langen Besuche seitens des Mr. Bonna blieb sie aufgeregt und seufzend zurück. Die im Innern wallende Bewegung brauste bald auf und ergoß sich in bittere Ausrufe.

»Solches nur zu denken! Wer hätte je so etwas voraussehen können?« sagte Mrs. Overstein, indem sie voll Schmerz und Entrüstung ihr stolzes Haupt schüttelte. »Armer Selwyn! arme, theure, getäuschte Seele! Doch es hätte alles erwartet werden dürfen! Ich sagte es lange vorher. Er darf nichts Anderes von jenem Weibe,« denn so pflegte sie Therese zu bezeichnen, »und ihren Kindern hoffen. Sie werden ihm noch schwere Sorgen bereiten, jedes von ihnen. Bezeugen Sie es mir, daß ich es gesagt habe, Selina!«

»O Himmel, was ist geschehen, meine Liebe?« fragte diese zarteste der Vertrauten.

»Geschehen? Genug, um sein Herz zu brechen! Mr. Bonna hat mir so eben gesagt, daß nach all' seinen Bemühungen, Lord H– zur Annahme seines zweiten Knaben zu bewegen – der gottlose Bube seinem Vater trotzte, daß er auf und davon ist – davon, sage ich – um ein Mönch zu werden. Denken Sie doch!«

»O Himmel,« sagte Selina, indem sie beim bloßen Gedanken daran schauderte; denn in ihrer Vorstellung waren ein Mönch und ein Ungeheuer gleichbedeutende Ausdrücke.

»Und er hinterließ seinem Vater einen Brief – einen heuchlerischen Brief – worin er seine Flucht anzeigte. Ohne Zweifel haben ihn die Mönche für ihn geschrieben. Sie sind auf der ganzen Welt mit einander verbündet. Der Herr bewahre uns vor ihnen!«

»Aber was wird Mr. Grice thun, meine Liebe, warum holt er jenen Burschen nicht zurück? Warum ruft er das Gesetz nicht an, um ihn zurückzufordern?«

»Wo findet er ihn denn, Selina? Er ist wahrscheinlich jetzt schon auf dem Wege zum Papst. Und was könnte er mit dem Burschen anfangen, der sich so entpuppt hat? Nein! Laßt ihn seinen gottlosen Weg wandeln. Ich werde Selwyn schreiben und ihm diesen Rath geben. Laßt ihn – o hübsche Nachrichten erhielten wir über Ihren Bruder Paul.«

Diese letzten Worte waren an Helene gerichtet, welche eben in diesem unglücklichen Augenblicke eintrat und vor natürlicher Ueberraschung stehen bleibend, bat, man möge ihr sagen, was geschehen sei.

»Geschehen?« wiederholte Mrs. Overstein und erzählte »die Geschichte« in Worten voll wachsender Wärme; denn sie war eines jener Wesen, welche die innere Erregung durch erhitzte Wangen und die Zunge hinwegarbeiten müssen und schließlich in einem Thränenguß Abkühlung suchen.

Ihren raschen Sätzen lauschte Helene, die es für unbescheiden hielt zu fragen, aber wegen ihres theuren Bruders sehr besorgt war. Es war indeß nichts mehr zu erfahren, da die Stimme der Mrs. Overstein in Schluchzen erstickte; und so schlich sich Nelly, vor dem sich erhebenden Sturm gewarnt, in ihr Zimmer davon. Nach vielen peinlichen Muthmaßungen über Paul und ihre Mutter wurde sie an jenem Abend durch einen Besuch Georgs unaussprechlich getröstet, dem Therese mit mütterlicher Besorgniß die Sache geschrieben hatte, damit ihre Tochter durch ihn eine klare, vorurtheilslose Darstellung des Vorfalls erhalte. Obwohl man ihnen nicht erlaubte, allein miteinander zu reden, sprach Georg doch offen und versicherte, daß ihre Mutter um Paul nicht in Unruhe sei, da er ohne Zweifel Hilfsquellen an der Hand habe, die er kluger Weise nicht erwähnen konnte, und daß der heftige Zorn ihres Vaters sie verschont habe, weil er eingesehen hätte, sie sei vollkommen unschuldig und habe den Flüchtling weder unterstützt noch aufgemuntert.

»Mir scheint, er glaubte, ich hätte die Hand im Spiele,« bemerkte Georg, »denn so schrieb er an Bonna, der mich augenblicklich aufsuchte; doch, bei meiner Seele! ich wußte nichts davon. Herr Paul hat es verstanden, die Sache geheim zu halten.«

»Mich wundert es, daß Papa Dich nicht selbst aufsuchte.«

»Er ist nicht ganz wohl – er war einen Tag krank infolge der Geschichte, wie ich höre. Du weißt, er empfindet seit jenem schlimmen Fieber die Wirkungen jeder Erregung in kürzester Zeit. Ich halte es nicht für recht, daß Paul dem armen Vater einen solchen Streich spielte,« fügte Georg hinzu, welcher wahrscheinlich in dieser Sache für seinen Bruder keine Sympathie hatte.

»Ich bin überzeugt, Georg, er bedauerte es tief; doch, was konnte er thun, nachdem es so stand? Bedenke doch!«

»O er hätte andere Mittel ergreifen können; oder er hatte für den Augenblick Geduld haben sollen. Es würde ihn nicht umgebracht haben. Ich für mich –«

Der tadelnde Blick seiner Schwester schnitt ihm den Satz im Munde ab. Einst, nicht vor langer Zeit, wäre dieser Jüngling der erste in der Familie gewesen, für die Ehre seines Glaubens selbst dem Marterthum entgegenzugehen. Was ist mit ihm vorgegangen? dachte sich Helene bekümmert.

Therese, welche nicht willens war, ihren Kindern Leid zu bereiten, hatte ihnen nicht geschrieben, daß der Zorn ihres Vaters, obwohl er sie selbst verschont, sich über Anna mit solcher Heftigkeit entladen hatte, daß er sie beinahe aus dem väterlichen Hause gejagt hätte. Vor diesem Aeußersten hatte er indeß innegehalten; denn schließlich seiner Pflichten als Vater eingedenk, machte er sich ein Gewissen daraus, ein so reizendes Mädchen in die gefährliche Welt hinauszustoßen, und für den Augenblick hatte er Niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Sie blieb daher zu Hause; doch wurde sie mit der Verstoßung bei der ersten Gelegenheit bedroht und in strenger Ungnade gehalten.

Jetzt beschattete eine neue Wolke Helenens Leben, bis Mrs. Overstein durch lauter Plaudern und Wehklagen den Gegenstand für sich und ihre Freunde langweilig gemacht hatte. Während dieser Tage der Prüfung betrug sich Helene mit einer Mäßigung, welche von angeborner Geisteswürde Zeugniß gab. Indem sie den tausend Kleinlichkeiten, womit man sie quälte, ungezierte, ruhige Höflichkeit entgegenstellte, zeigte sie jeden Tag dasselbe junge, gleich süße Gesicht, wenn es auch ernster war als gewöhnlich; doch verbarg sich unter dieser Mäßigung tiefes Unglück und der leidenschaftliche Entschluß, sich so bald als möglich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Hiebei wollen wir bemerken, daß Miß Overstein bei dieser kleinlichen Verfolgung keinen Antheil nahm und sich bei der mißlichen Lage ihrer Gefährtin mit vieler Liebenswürdigkeit benahm.

Das ist eine lange Gasse, die kein Ende hat, sagt ein altes Sprichwort. Helene erreichte das Ende der rauhen Straße, die sie zu durchwandern hatte – und sie erreichte es eher, als sie es erwarten konnte.

Eines Morgens bemerkte sie, daß die Damen bei einer Meldung, die einer der Bedienten machte, ungewöhnlich erregt wurden; Mutter und Tochter flüsterten einander zu, und indem sie dann fortrauschten, waren sie lange abwesend. Während dieser Zwischenzeit traf es sich, daß Helene sich auf der großen Stiege befand, als Miß Overstein aus dem Zimmer kam, welches für den Empfang der geehrtesten Besuche diente, Helene blieb stehen, um die außerordentliche Schönheit der jungen Dame zu bewundern. Ihre blassen Wangen waren geröthet, ihre dunklen, gewöhnlich matten und sanften Augen erstrahlten in holdem Glanze und ihr ganzes Gesicht war durch irgend eine innere freudige Erregung erleuchtet. In ihre Gedanken vertieft, schwebte sie leicht vorüber, ohne Helene zu bemerken, welche blos eine Elle weit entfernt war; als aber Letztere eine männliche Stimme aus dem Sprechzimmer und den Schall des holdesten Lachens der Mrs. Overstein vernahm, erachtete sie es für gut, sich zurückzuziehen, und so unterhielt sie sich mit ihren eignen Vermuthungen.

Im Laufe des Abendes entnahm sie aus Bemerkungen, welche zwischen den beiden älteren Damen ausgetauscht wurden, daß der Besuch vom Morgen Mr. Massinger gewesen; daß er so eben von Italien zurückgekehrt sei und morgen bei Tisch sich einfinden werde. »Mr. Massinger – Mamma's Bernard!« dachte sich Helene; doch da sie in letzter Zeit gelernt hatte, vorsichtig zu sein, hielt sie sich im Zaume und verrieth durch nichts, daß sie irgend etwas von diesem Gentleman wisse.

Sie sah ihn am nächsten Morgen, und nach der Beschreibung, die sie oft gehört hatte, erkannte sie leicht den Freund aus den jungen Tagen ihrer Mutter. Sie wußte die Geschichte seiner frühen Verirrung und seiner treuen Liebe für ihre schöne Tante Marie, und da die Erzählung geeignet war, die Sympathien eines Herzens, wie das Helenens, zu gewinnen, so betrachtete sie ihn mit besonderer Theilnahme.

»Er scheint ein vollendeter Gentleman zu sein. Welch ein schönes Antlitz – doch wie verwelkt es ist! Er sieht unglücklich aus. Welch ein einsames Leben muß er all diese Jahre über geführt haben! Er kann nicht jünger als siebenunddreißig Jahre sein, glaube ich.« Der Gegenstand dieser freundlichen Gedanken zog ihren zaudernden Blick auf sich und unbewußt fuhr sie in ihrer Prüfung weiter, bis sie mit dem Blick des Mr. Massinger zusammentraf und sah, wie er heftig zusammenfuhr. Dieses Mädchenantlitz mit seinen scharfen, ernsten Augen mochte ihm wie eine geisterhafte Erinnerung vorkommen, denn er starrte wieder auf dasselbe mit einem Ausdruck, der sie in Erstaunen setzte; und dann fragte er Mrs. Overstein in raschem Geflüster, wer sie wäre? Die Dame, welche dieses Nebenspiel nicht bemerkt hatte, nahm die Frage als einen Tadel über ihre Unhöflichkeit auf und entfärbte sich. Sie hatte nämlich Helene einige Minuten im Zimmer gelassen, ohne ihr die Höflichkeit einer Vorstellung zu erweisen.

»O Himmel! ich vergaß ganz, daß sie Ihnen unbekannt ist. Helene, ich hoffe, Sie werden mich entschuldigen,« sagte sie, und vollzog nun die Vorstellung in gebührender Form.

Helene kam es vor, als ob er blasser geworden wäre; da er sich aber blos verbeugte, ohne sie anzureden, zog sie sich beiseite, und während sie sich scheinbar mit einem Dutzend Kleinigkeiten beschäftigte, konnte sie nicht umhin, ihre stillen Betrachtungen fortzusetzen.

»Wie seltsam, daß unser Mr. Massinger hier ist und offenbar auf vertrautem Fuße mit der Familie steht! Ich möchte wissen, ob er Miß Overstein bewundert. Jedermann muß es. Wenn Sie Tante Marie vergessen können, thun Sie es, Mr. Bernard: ich kümmere mich dann nicht mehr um Sie! Ach Cäsarina, ich sehe, ich sehe …« fuhr die kleine Dame fort, deren glanzvolle Augen sicher viel sahen, doch nicht alles.

Denn sie sahen nicht, daß seit Miß Oversteins Kindheit Mutter und Tochter Mr. Massinger in einer verschleierten aber stets wachsenden Absicht verfolgt hatten – in der Absicht, ihn für die jüngere Lady zu gewinnen – und um dieses Ziel zu erreichen, wurden weder Mühe noch Zeit, noch jene Künste gespart, womit Frauen die Eitelkeit eines thörichten Mannes, und zwar fast immer mit Erfolg, anzugreifen pflegen. Sie waren ihm in das Ausland gefolgt; sie hatten ihn heimbegleitet (stets, braucht es wohl gesagt zu werden? durch den glücklichsten Zufall der Welt!); sie hatten herzlichsten Briefwechsel mit ihm begonnen und eifrig fortgeführt, und mit der süßesten Geduld hatten sie die Launen einer Gemüthsart ertragen, die Mr. Massinger zu keinem liebenswürdigen Gesellschafter machten. Dieses Angeln war eine langweilige Arbeit; aber die beiden Damen harrten aus, denn sie kannten die Geschichte seiner frühern Liebe und hatten Geduld mit dem, was, wie sie glaubten, eines Tages vorübergehen müsse. Mrs. Overstein gelüstete es nach seinem Reichthum und seiner Familienverbindung; ihre Tochter – um ihr gerecht zu sein – nach seinem Herzen; denn in ihren Mädchenjahren hatte Cäsarina für ein Ideal geschwärmt, und dieses Ideal trug den Namen jenes Gentleman's. Als die reiferen Jahre mehr Klarheit in ihre Auffassung brachten, fing sie an, aus ihrem Traum zu erwachen, vielleicht auch sich über die Rolle zu schämen, die sie dabei gespielt hatte; doch noch zauderte sie, eine Täuschung aufzugeben, die ihr theuer war, und halb glaubte sie noch hundert kleinen Zuflüsterungen, womit die Hoffnung ihr schmeichelte. Gestern hatte er ein Zeichen ungewöhnlicher Gunst gegeben, indem er nach einem kurzen Aufenthalt in Rom geraden Weges zu ihnen gekommen war; und das belebte Antlitz der Miß Overstein bezeugte klar, daß es nur einer leichten Anstrengung bedürfe, um die geschlossenen Thore wieder zu öffnen und vielleicht die Mattigkeit, welche ihre Tage aufrieb, zu fröhlicher Lebenslust aufzuregen. Bei dieser Gelegenheit stiegen die lebhaften Hoffnungen ihrer Mutter wieder hoch, und sie hatte dieselben in der ihr eigenen Weise ausgesprochen.

»Zeige Dich bei seinen nächsten Besuchen, wie Du Dich jetzt zeigst, und er liegt zu Deinen Füßen, meine Liebe!« sagte sie, indem sie voll Vergnügen die strahlende Lieblichkeit ihres Kindes betrachtete. »Du siehst, er konnte nicht in Rom bleiben – er mußte zurück – zurück in voller Eile. Kein Wunder, wahrhaftig kein Wunder! Wo sollte er eine finden, wie Dich?« Und so ging es fort mit gefälligem Lächeln, obwohl die Rückkehr des Mr. Massinger allem Anscheine nach nur durch seine gewohnte Ruhelosigkeit veranlaßt wurde, und vielleicht durch die Grille, von so schmeichelnden und anziehenden Damen gehätschelt zu werden.

Trotz dem Rathe ihrer Mutter erscheint Cäsarina heute nicht so heiter, wie gestern. War es etwas in Bernards Benehmen, was sie verletzt hatte, war es, daß der Umgang mit Helena in ihr weiblich-stolze Gefühle erweckte, welche bisher schlummerten: ihr Betragen kennzeichnete sich durch nachdenkliche Zurückhaltung, und sie schenkte ihrer jungen Freundin mehr Aufmerksamkeit als ihm. Zum großen Mißvergnügen der Mrs. Overstein schied der Gentleman schon frühe und ohne das Versprechen, seinen Besuch bald zu wiederholen.

»Himmel! wie veränderlich ist er!« rief sie aus. »Man weiß kaum, was man von ihm denken soll. Ich glaube, er verschlimmert sich.«

»Lassen Sie ihn gehen, Mamma,« sagte Cäsarina mit einem kaum bemerkbaren Zucken des Mundes. »Es ist klar, er kümmert sich nicht um uns. Ich wenigstens will mich durch ihn nicht mehr beunruhigen lassen.«

»O Unsinn, Kind. Du bist jetzt nur mißgestimmt. Es ist eben seine Art so! Bah, Bah! Er wird bald wieder kommen, Du wirst es sehen.«

Es verflossen indeß mehrere Tage, und obwohl Mr. Massinger noch in der Stadt weilte – sie trug Sorge, sich dessen zu versichern – suchte er ihre Gesellschaft doch nicht wieder auf. Mrs. Overstein wurde sehr besorgt.

»Ich weiß nicht, was der Grund hievon sein mag,« sagte sie, indem sie das gedrückte Herz ihren gewöhnlichen Vertrauten öffnete. »Es ist sehr auffallend. Es fiel nichts vor, was ihn beleidigen konnte, wenigstens ist mir nichts erinnerlich. Ich würde ihm gerne ein hübsches Billet schreiben, um so den Grund zu erfahren; aber Cäsarina ist entschieden dagegen, ja sie will überhaupt nicht mehr über die Sache sprechen. Fürwahr, ich kann es nicht herausfinden.«

Hier ließ Selina ein so bedeutsames Husten hören, daß Mrs. Overstein inne hielt und dann mit Neugierde fragte:

»Können Sie Sich irgend einen Grund für sein sonderbares Benehmen denken? Sprechen Sie offen, ich bitte Sie Selina.«

Diese ruhige Dame, mit ihren eignen Beobachtungen beschäftigt, hatte Einiges bemerkt, was der plumperen Auffassung ihrer Verwandten entgangen war, und vielleicht war sie nicht fern vom Ziele, als sie entgegnete:

»Ei, meine Liebe, ich erwähne es nicht gern, und ich mag Unrecht haben: es ist für mich selbstverständlich eine sehr unliebsame Sache, davon zu reden; aber ich glaube etwas bemerkt zu haben, was Mr. Massinger in Verwirrung setzte.«

»Nun? sprechen Sie es heraus!« versetzte Mrs. Overstein, nahe daran, über solches Unglück zu weinen.

»Meine liebe Annabella, bedenken Sie, ich kann Unrecht haben, doch es schien mir – ich gab absichtlich darauf Acht, und es schien mir – Helenens Anwesenheit in unserem Hause bringe ihn in Verlegenheit. Wahrhaftig, ich glaube es. Bemerkten Sie es nicht …?«

»Ei, welch ein Unsinn, Selina. Was hat das Kind mit ihm zu schaffen? Er kannte ja nicht einmal ihren Namen.«

»Das ist wahr, und es verwirrt mich; doch ich kann mich dieses Eindruckes nicht entschlagen. Ich wollte eben sagen, bemerkten Sie nicht, wie betroffen er war, als er sie zum ersten Mal sah? Ja, er war es, und sehr. Und während jenes Abendes sah ich oft, wie er sie anstarrte, obwohl er ihrem Auge auswich. Er ging früh fort, wie Sie sich erinnern, und sagte nicht, wann er wieder kommen wolle. Meine liebe Annabella, darin steckt ein Geheimniß, und ich glaube, er hat eine Grille betreffs Helenens, ob eine Liebesgrille, oder eine Grille des Widerwillens, das weiß ich nicht. Es ist meine feste Ansicht, er wird nicht mehr in dieses Haus kommen, so lange sie darin weilt.«

»Ei, was Sie da plaudern! Sagen Sie doch gleich lieber, er habe sich in sie verliebt. Stellen Sie sie doch gleich über meine Cäsarina – das kleine, unbedeutende Geschöpf,« rief gereizt Mrs. Overstein.

Doch waren ihre Befürchtungen einmal erweckt und sie konnte nicht eher ruhen, bis sie mit ihrer Gesellschafterin jede Stunde jenes Tages prüfend und auslegend durchgegangen hatte, bis kaum ein Blick oder ein Wort ununtersucht blieb, und aus allem schließlich ein Gespinnst besorgten Argwohns gewoben war.

»Ha! Ha! eine schöne Wendung nach all unsrem – Wo ist Cäsarina? Ich muß wissen, was Sie davon denkt. Wo ist sie, sage ich? Holen Sie sie mir augenblicklich hieher.«

Ihrer Tochter theilte sie mit Zungenfertigkeit ihre Vermuthungen mit. Miß Overstein horchte ruhig zu.

»Es mag so sein, wie Sie denken, Mamma; doch wenn auch Helene auf irgend eine unbekannte Weise die Ursache von all dem wäre, so sehe ich nicht ein, wie wir da abhelfen könnten.«

»Du nimmst die Sache sehr kühl, Cäsarina, auf mein Wort!«

»Ich muß für meinen Frieden sorgen, Mamma.«

»Ei Possen! Ich kann dich nicht begreifen. Aber ich sage dir, wenn Du Dich nicht bemühst, so wirst Du ihn durch Deine Kälte vollends verlieren. Ich glaube gar, Du siehst zu, wie dieses Kind Dir im Lichte steht, und bewegst nicht einmal den Finger?«

»Mutter, was wollen Sie?« erwiederte die Tochter. »Ich bitte, lassen Sie mich den Weg gehen, der, wie ich fühle, der rechte ist. In Zukunft werde ich mich gegen Mr. Massinger ganz anders benehmen. Wenn er mich will, so soll er mich suchen. Doch ich glaube nicht, daß er es thut. Nein. Ich glaube, wir haben uns getäuscht.«

»Du bist ein einfältiges, veränderliches, verwöhntes Kind.«

»Und Mutter,« fuhr die jüngere Dame fest, wenn gleich bleich, weiter, »ich hoffe, Sie werden wegen dieser Geschichte Helene auf keine Weise quälen. Ihre Freundschaft ist mir werth. Ich schätze sie. Wenn es sich darum handelt zu wählen – Sie wissen, was ich meine – so wähle ich sie. Ich habe von ihr viel gelernt, was gut ist, und werde noch mehr von ihr lernen.«

»Ei, gewiß! es wäre noch besser, wenn sie Dich in ihrer Papisterei und in der Anbetung ihrer schlechten Bilder unterrichtete.«

Dieß war nichts weiter, als der Ausruf eines erzürnten Weibes, deren Zunge mit ihrem Verstand durchging, und während sie ihn ausstieß, erkannte man seine Abgeschmacktheit; doch Miß Overstein schien es anders aufzufassen, und ihre Mutter anblickend, sagte sie mit einigem Nachdruck:

»Ich kenne dieß; Nelly's Glaube enthält vieles, was ich nicht umhin kann, zu bewundern; und mir scheint, daß Sie, Mamma, eine Religion verleumden helfen, welche Sie noch nie geprüft haben.«

Damit war ihre Geduld erschöpft, und schön und geröthet verließ sie das Zimmer; Mrs. Overstein aber, welche sie mit einem wilden und erschreckten Blicke angehört hatte, zerschmolz in eine Fluth von Thränen.

Dieses Mal waren es wirkliche Thränen, und Selina, welche sich beeilte, sie zu trösten und zu besänftigen, unternahm mehr, als sie in diesem Sturm erregter Gefühle vermochte. Ihre eigne Tochter wagte es, so mit ihr zu sprechen! Ihr eignes Kind vertheidigte den Katholizismus! Es mußte wahrhaft etwas vorgefallen sein. Ja, wer wußte, ob das Thier nicht bereits seine Krallen auf sie gelegt hatte? Und dieß kam daher, daß sie diese junge Papistin im Hause hatte – sie sind alle gleich – eine schlaue gefährliche, geheimnißvolle Brut!

»Sie soll nach Hause – sie soll fort, ich habe sie satt bekommen! Sie hat das thörichte Mädchen um ihre besten Aussichten gebracht – doch das fürchte ich nicht so sehr, denn Mr. Massinger wird wieder kommen, sobald dieses Geschöpf fort ist. In dieser Hinsicht fürchte ich ganz und gar nichts,« wiederholte aufgeregt die Lady, indem sie eine Unwahrheit sprach. »Es ist die Seele meines Kindes, ihr kostbarer Glaube, um was ich besorgt bin. Die kleine Viper! Sie soll zu ihrem Vater heim, denn ich kann Sie nicht länger unter meinem Dache beherbergen. O Selina, ich bin zu bedauern. Das – das ist der Dank für all meine Güte, für meine steten Bemühungen. Nie werde ich ein Wort des Dankes erhalten, Sie werden es sehen. Doch es war stets so; so oft ich diesem Weibe oder ihren Kindern in die Quere komme, ist sicher das Schlimmste mein Antheil. O es ist eine harte, eine undankbare Aufgabe, mit Papisten zu verkehren!«

So klagte sie fort; und indem sie dann der überraschten Helene den Befehl sandte, sich zur augenblicklichen Abreise vorzubereiten, setzte sie sich nieder, um ihrem lieben Selwyn in einem Briefe ihre so raschen Maßnahmen auseinanderzusetzen.

… »Ich versichere Sie, ich habe keine Mühe gespart und habe ihr Belehrungen zu Theil werden lassen, welche jeden Geist überzeugt haben müßten, der einiger Massen weniger halsstarrig gewesen wäre; doch alles umsonst: sie ist so widerspenstig als je, und ich fürchte, daß die unglücklichen Einflüsse ihrer früheren Erziehung zu stark geworden sind, um je dagegen einwirken zu können. Ich wollte noch gern mit ihr Geduld haben (wem zu Liebe, mein theuerster Freund, brauche ich wohl nicht zu sagen), und ich würde in der That nie willens gewesen sein, mein Unternehmen aufzugeben, wäre nicht eine Entdeckung gewesen, welche mich mit Schrecken erfüllt. Ich finde, daß sie, weit entfernt, ihre Gesinnung zu ändern, den Versuch gemacht hat, und zwar ganz im Stillen und unter der Hand, in meiner eignen Familie Proselyten zu werben, und daß es ihr wirklich gelang, meine Tochter – vielleicht auch noch andre – für ihre verderblichen Grundsätze günstig zu stimmen. Unter diesen Umständen bleibt mir blos eine Pflicht zu erfüllen, und so tief ich auch unsere Enttäuschung beklage und mit Ihren bekümmerten Gefühlen sympathisire, muß ich Ihnen doch dieses gefährliche Mädchen zurücksenden, was heute Morgen geschieht, und ich hoffe, mein theuerster Selwyn, Sie werden einen Schritt nicht mißbilligen, zu dem mich nichts als die strengste Nothwendigkeit u. s. w.«

Dieser Brief wurde Helenens Händen übergeben – Mrs. Overstein wollte sie nicht mehr sehen – und sie selbst ward in einen Wagen gesetzt, nachdem sie einen rührenden Abschied von Cäsarina genommen hatte, die über alles höchlich mißvergnügt schien, doch wenig sagte. So wurde das Werk der Bekehrung plötzlich abgebrochen, und Helene kehrte zu der lieben Heimath zurück, welche sie, während sie rasch derselben zueilte, mit einer Mischung von Zärtlichkeit und Leid und vielleicht auch mit einem starken Anflug von Angst sich ausmalte, als die Frage vor ihrem Geist trat:

»Was wird wohl der Papa sagen?«


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