Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dichter Schnee, welcher in der ersten Hälfte der Woche fiel, machte das Reisen zur Unmöglichkeit und schnitt jede Verbindung selbst mit dem Nachbardorfe ab. Da die Familie auf diese Weise in der Grange sich eingeschlossen sah, suchte sie mit der guten Laune, die Landbewohnern unter solchen Umständen eigen ist, innerhalb der Mauern die Unterhaltung zu finden, die ihr draußen versagt war; und wie wohl ihr dieß gelang, kann sich Jeder leicht denken, der das Glück gehabt hat, auf solche Art auf einem hübschen alten Herrensitz und mitten unter einem gefälligen Haushalte zurückgehalten zu werden. Wir brauchen wohl nicht der rasch verfließenden Morgenstunden, der unter der geschickten Leitung des Mr. Grice angestellten leichten Studien und der Vorlesungen zu erwähnen, die durch seine ungewöhnlich weiche und ausdrucksvolle Stimme seinen Zuhörern hohen Reiz gewährten; auch wollen wir nicht von den fröhlichen Mahlzeiten, und jenen geselligen Abendunterhaltungen reden, die stets im Gedächtniß bleiben. Es genüge zu sagen, daß die Woche rasch verflog, und daß der neue Gast, als das Thauwetter ihm die Abreise für seine Pflichten am Colleg gestattete, die Achtung der Familie in solchem Grade gewonnen hatte, daß er bei jedem ferneren Besuch auf der Grange eines herzlichen Willkomms sicher sein konnte.
Es muß indeß bemerkt werden, daß Mr. Croßly durch ein seit langem bestärktes Gefühl Bekanntschaften mit Personen verschiedner religiöser Grundsätze abgeneigt war; und möglicher Weise würde er selbst gegen einen so angenehmen Gast von dieser strengen Regel nicht abgewichen sein, wäre ihm nicht schon am Anfang der Woche durch Therese eine Entdeckung mitgetheilt worden.
Eines Morgens nämlich trat sie in das Wohnzimmer mit einem Antlitz, welches vor freudiger Bewegung der Art glänzte, daß ihre Schwester bemerkte:
»Hast Du etwa gar Rosen im Schnee gepflückt, Therese?«
»O Marie, o Mutter – solche Neuigkeiten! Ich glaube, wir haben unsern Retter aus jener Gefahr im Moore entdeckt. Ich glaube, Mr. Grice war es. Wahrhaftig, Ihr möget noch so überrascht schauen, doch John ist überzeugt, daß es kein Anderer gewesen. John sagt, er habe Mr. Grice, als er gestern bei Tisch aufwartete, genau betrachtet und ihn ganz sicher erkannt; auch bemerkte er an seiner Hand eine Narbe. Ihr erinnert Euch, daß sie in jener Nacht verletzt wurde.«
»Auch ich habe diese Narbe an Mr. Grices Hand bemerkt,« sagte Marie.
»Ja,« fuhr Therese erregt fort, »und erinnert Ihr euch nicht, daß er gestern sagte, er sei vor vier Jahren hier in der Nachbarschaft gewesen? O, er muß es sein!«
Hier legte Mr. Croßly gedankenvoll sein Buch nieder und bemerkte, daß er jetzt die Stimme erkenne, welche ihm gestern gleich bei seiner ersten Unterredung mit Mr. Grice als nicht unbekannt ausgefallen sei. Die Damen waren entzückt und sprachen für einige Zeit von nichts Anderem.
»Seine Bescheidenheit erfreut mich überaus«, rief Mrs. Croßly. »Ich bin überzeugt, nie hätten wir dieß erfahren, wäre nicht John gewesen. Ei, als Therese ihm den Unfall erzählte, lauschte er, als wäre es etwas ganz Neues für ihn, und auch anderweitig verrieth er sich nicht durch das geringste Zeichen. Solch edle Bescheidenheit an einem jungen Manne heutzutage! Denken Sie nicht auch so, Vater Lawrence?«
»Ich denke, er hat sich sehr passend benommen,« entgegnete Mr. Lawrence ruhig. Priester sind zu vertraut mit den Geheimnissen des Herzens, um ihm viel zu trauen, oder ihm viele rein edle Einflüsse zuzuschreiben. Ueberdieß hatte vielleicht sein ruhig beobachtendes Auge bemerkt, wie der ehrliche John den Gast an der Tafel beobachtete, und er mochte nun argwöhnen, daß Selwyn mit seiner raschen Auffassung beachtet hatte, wie der Mann ihn wieder erkannte. Doch, wie dem auch sei, dieser kleine Zwischenfall veranlaßte Mrs. Croßly, bei der ersten passenden Gelegenheit einige ernste Worte des Dankes an ihren Erretter zu richten, und öffnete diesem für die Zukunft die Thore der Croßly Grange.
Während der nächsten Woche trat sehr schönes Wetter ein. Der Wind hatte sich geändert, es gefror, und die reine Luft gewährte Allen, welche so lange an das Haus gefesselt waren, die ausgedehnteste Freiheit; und da die Fräulein Croßly ganz gegen die Gewohnheit junger Damen sehr gute Fußgängerinnen waren, benützten sie täglich diesen günstigen Wechsel der Witterung.
Doch wie kam es, daß diese Erholung für Therese ihren Reiz verloren hatte? daß die Theilnahme an den einfachen Pflichten ihres Landlebens sie eine Anstrengung kostete, unter welcher sogar ihre Heiterkeit fast erlag? Sie konnte sich selbst ihre Gefühle nicht erklären, doch der Frohsinn schien seit diesen ruhigen Tagen von ihr gewichen zu sein, die Spannkraft schien ihre Lebensgeister verlassen zu haben. Nur die ihr anerzogene Selbstbeherrschung und das gute Gefühl ihres liebevollen Herzens bewahrten sie, einem Zustande nachzugeben, den tausend Andere als eine unerträgliche Last der Langweile entschuldigt haben würden. »Ich denke,« erwog sie, »ich bin nicht ganz wohl; wir waren die letzte Zeit zu viel in das Haus gebannt. Marie, sei versichert, an jedem schönen Morgen gehen wir in's Freie; und an den Abenden werden wir unsere spanischen Barden lesen. Mit dem Buch müssen wir vor Sonntag zu Ende kommen.«
»Therese, das ist richtig. Es gibt nichts Besseres, als Bewegung und Arbeit, wenn Du von einer Schlaffheit bedroht bist, welche Deine eigene Zeit verzehren und den Frohsinn Deiner Familie niederdrücken würde. Du wirst Dich neubelebt fühlen, während der harte Boden unter Deinen Tritten knistert, während die Bäume steif und mit Silberkrusten bedeckt unter dem klaren Himmel dastehen, und der Wind Deine Wangen zu jener Rosenblüthe färbt, die einen so schönen Anblick gewährt. Ueberdieß harren Deiner mit Sehnsucht gewisse Arme, von deren niedrigen Behausungen der letzte Schnee Dich fern gehalten hat: denke auch an die armen Kinder, welche Niemand unterrichtet, – wenn nicht Du und Marie – welche glühend und ungesittet in dem einzigen Schulzimmer sich ansammeln, das ihnen ihr Pfarrer einräumen kann – die alte Scheune – und die so begierig sind, wichtige Nachrichten von zu Hause – Abenteuer und Unfälle, die während ihrer gezwungenen Abwesenheit vorgefallen sein mögen – sich gegenseitig mitzutheilen, daß alle Zucht wenigstens für einige Zeit bei Seite gesetzt werden muß.«
Die Woche ging vorüber; und am folgenden Sonntag fand sich in der kleinen Kirche von St. Anthony die gewöhnliche Versammlung ein. Die Wahrheit muß gesagt werden – nie war unter der Woche und während der fromm verbrachten Jahre, welche Miß Croßly in diesem Familienbetstuhl gesehen hatten, ihr Geist so zerstreut, nie waren ihre Augen zum Umherschweifen so geneigt, als eben an diesem Morgen. Sie betrachtete aufmerksam jeden wohlbekannten Gegenstand mit neuerwachter, obgleich unbewußter Kritik. Die kleine Kirche schien in der That ein Ort der Ruhe: wie anständig und fromm war die ungebildete Menge! Die Predigt, welche der heiligen Messe folgte war klar, praktisch, liebevoll; gewiß, Mr. Burns predigt heute ungewöhnlich gut! Dieß war der Gang ihrer Gedanken; doch sie war zu unerfahren, um ohne strenge Selbstprüfung zu entdecken, aus welcher Quelle sie ihr Leben schöpften.
Als der Gottesdienst vorüber war, zerstreute sich die kleine Gemeinde. Nachdem die Croßly's das heilige Gebäude verlassen hatten, trafen sie Mr. Grice. Therese dankte Gott, daß ihr ein Augenblick zur Sammlung gegönnt war, während die Andern sich gegenseitig begrüßten. Ihr Herz hatte plötzlich zu pochen begonnen, und ein Nebel war vor ihr aufgestiegen, durch welchen sie ein Paar ernster Augen sah und manche Frage hörte, die sie nicht beantwortete. Doch dieß Alles war nicht nöthig: das Erröthen der Wangen, der scheue Blick, der vor Wonne glänzte und dann unfreiwillig sich abwandte, sprachen mit hinreichender Beredtsamkeit zu einem so geschickten Dolmetscher, wie Mr. Selwyn es war.
Ehe sie sich wieder ganz gesammelt hatte, sassen ihre Freunde im Wagen, und man rollte lustig heimwärts. Sollte es denn erst wenige Tage sein, dachte Therese, daß sie auf dem nämlichen Wege entlang ihre erste Unterredung mit Mr. Grice gehalten hatte? Gewiß, sie hatten ihn schon länger gekannt – oder durch welchen Magnetismus war ein Fremder so vertraut geworden? Doch dieß schien ihr noch natürlicher als jenes, daß er, der jetzt so vertraut war, ihnen wieder fremd werden sollte. Sollte das je der Fall sein können? Nicht möglich. Doch, wenn seine Stellung am Colleg zu Ende ist, was kann ihn dann in ihrer Nachbarschaft zurückhalten? Sie sah bei diesem Gedanken so blaß aus, daß ihre Schwester sagte: »Du siehst erfroren aus, Therese! Ist Dir nicht wohl?«
»Ich fühlte für einen Augenblick Frost,« erwiederte sie, mit erzwungenem Lächeln aus ihrer Träumerei erwachend.
»Das Fahren erkältet heute Morgen – wir wollen aussteigen und etwas gehen, Kind,« sagte freundlich ihr Großvater. »Doch warte noch, bis wir um dieses Straßenende gewendet haben. Ich wünsche, daß Mr. Grice eine gute Ansicht von Chase habe.«
Es scheint, sie hatten von den Besitzungen des Mr. Bernard Massinger gesprochen, über welche sie eben fuhren.
»Halt John! Dort, Sir, ist ein so hübscher Wohnsitz, als nur immer einer gefunden werden kann, nicht?«
Selwyn's Augen ruhten bewundernd auf der Scene – auf den schönen Anlagen, auf dem mit Bäumen umgebenen Herrenhaus, auf den reichen Triften und dem rasch vorüberfliegenden Chase, das weit darüber hinauslag. Die Gesellschaft stieg hierauf aus und ging auf der gefrornen Straße dahin; die Herren plauderten miteinander, während Therese ihre Schwester absichtlich Etwas vorauszog, um einen Namen nicht zu hören, den sie nie ohne Pein vernahm.
»Die Massinger's sind eine alte Familie, Mr. Croßly, und verwandt mit Ihnen, glaube ich?«
»Ja, durch Heirath. Bernard's Mutter war meine nächste Base, obwohl viele Jahre jünger als ich. Sie heirathete Mr. Georg Massinger. Bernard wurde unter meine Vormundschaft gestellt, als seine theure Mutter starb.«
Der alte Mann runzelte dabei die Stirne, denn eine traurige Geschichte schwebte wieder vor seinen Augen.
»Es scheint, als ob Mr. Bernard Massinger seinen Wohnsitz, so edel er auch ist, nicht besonders liebe – doch er ist ein junger Landlord, und wird vermuthlich weiser werden,« bemerkte Mr. Grice.
»Ich wundre mich nicht, daß der Junge das Herrenhaus meidet – wenigstens für die Gegenwart,« sagte Mr. Croßly etwas barsch. »Es sind Gründe da, die ihm eben jetzt die Nachbarschaft verleiden müssen. Ich sehe nicht ein, warum ich es Ihnen nicht sagen soll, Mr. Grice. Bernard und Marie wurden, sehr jung noch, mit einander verlobt. Es war der letzte Wunsch seiner Mutter. Sie sollten heirathen, sobald sie achtzehn Jahre alt wäre. Das wäre – lassen Sie mich sehen – in einem – nein! – in zwei Jahren von jetzt an der Fall gewesen. Ja, Therese ist einundzwanzig, daher ist ihre Schwester erst sechzehn Jahre alt. Nun, Bernard und sie verbrachten ihre Kindheit miteinander; und Alles ging recht, bis der Geist des Unheils in dem Sinne des Knaben zu arbeiten begann – und der Himmel allein weiß, wie es gekommen ist. Zuerst vernachlässigte er alle seine religiösen Pflichten, und dann fiel er ganz und gar von unserm Glauben ab. Sie können sich denken, welche kummervolle Prüfung dieß für uns Alle war, besonders für Marie, denn sie liebten einander auf's Innigste. Doch mein Kind wußte, was zu thun war, und sie that es. Sie fühlte, Sir, was jeder wahre Katholik fühlen muß, nämlich, daß wenig Aussicht zu einem guten oder glücklichen Leben mit Einem von entgegengesetztem Glauben vorhanden sei. Marie hatte bereits einen Beweis dafür in unserer eigenen Familie gesehen, an Bernard's eigener Mutter. Ehe ich sehe, wie eines dieser Mädchen die Hälfte von dem leidet, was sie duldete, wollte ich lieber, Mr. Grice, daß Beide unverheirathet in ihr Grab sinken.«
Bei diesen Worten warf er einen ziemlich strengen Blick auf seinen Begleiter; doch dieses Antlitz war nicht jugendlich genug, um irgend ein Gefühl zu verrathen, das er hätte verheimlichen wollen. Mr. Croßly schloß mit den Worten: »Marie löste ihr Verlöbniß mit großer Festigkeit, Gott segne sie dafür! Er ging auf Reisen in's Ausland; und jetzt begreifen Sie wohl, warum für jetzt Chase nicht als sein Lieblingsaufenthalt gelten kann.«
»Wahrhaftig, er hat einen Verlust erlitten, der nicht so leicht wieder ersetzt werden kann,« sagte Mr. Selwyn, indem er auf die zarte und anmuthige Gestalt blickt die vor ihnen herging. »Es ist unmöglich, Miß Marie zu sehen, ohne von dieser Anmuth, diesem sanften Ernst, welcher als ihr natürlicher Ausdruck erscheint, angezogen zu werden; und aus ihm hätte ich kaum geschlossen, daß sie mit – mit so großer Strenge hatte handeln können.«
An was mochte er wohl denken, als er die Schwestern so aufmerksam betrachtete? Die Jüngere war größer, und was die Schönheit betraf, beträchtlich im Vortheil; doch bald hefteten sich seine Augen auf das glättere, bescheidene Antlitz mit den hold errötheten Wangen und den sanften braunen Augen, welche bei jeder Erregung glänzten und leuchteten. Jetzt, da sie seinen Blick bemerkte, glühten ihre Wangen und Augen; doch es ist zweifelhaft, ob er in diesem Augenblicke mehr deren Reiz beobachtete, oder den Charakter der Seele zu entdecken suchte, den sie so offen ausdrückten.
Was immer Mr. Selwyn's Geistesabwesenheit verursacht haben mochte, bald kam er wieder zu sich und schien entschlossen, sich in der Achtung seiner neuen Freunde zu befestigen. Selten machte er einen solchen Entschluß umsonst. Mit jener glücklichen Leichtigkeit, die so Wenige besitzen, und welche so sehr berückt, versetzte er die kleine Gesellschaft in die heiterste Stimmung während des übrigen Theiles der Fahrt. Mrs. Croßly fühlte neues Leben, als wäre ein vertrauter Freund angekommen, und durch seine verständige Gesellschaft belebte er wieder den Tag über die ruhige Atmosphäre der Grange. Noch mehr, während er so Alle unterhielt, bestrebte er sich, auf Miß Croßly den Eindruck zu machen, daß unter dieser glänzenden Oberfläche ein tiefer Strom floß, der nur ihrem Auge sichtbar war. Es ist eine eben so seltsame als alte Wahrheit, daß zwei Personen selbst in gemischter Gesellschaft auf eine anscheinend natürliche und ungezwungene Art lächeln, handeln und sprechen, und doch einander deutlich die glückliche Ueberzeugung beibringen können, daß Lächeln, Worte und Bewegungen eine bestimmte Absicht und eine beredte Bedeutung haben, die nur von ihnen selbst verstanden wird. So kam es, – mittels dieser Art von Einverständniß und Sympathie – daß Therese ihre Wange diese Nacht lächelnd auf das Kissen legte und ihr Busen sanft und freudig sich hob, ohne daß sie klar wußte warum; und er, in solchen Dingen erfahrener, konnte mit der Ueberzeugung ein schlafen, daß er ein einfaches und zärtliches Herz für sich eingenommen hatte.
Wie diese Entdeckung während der folgenden zwei oder drei Wochen fortschritt, braucht nicht beschrieben zu werden. Jeder folgende Sonntag führte Selwyn Grice zu der Grange – und wie willkommen dieser Besuch für eine Bewohnerin derselben war, das fühlte sie zuletzt nur zu sehr unter manchem Leid und Zweifel. Arme Therese, dieß waren die ersten schwachen Schatten, welche eine Welt des Schmerzes und der Prüfung auf ihren Weg warf, eine Welt, die ihr bis jetzt unbekannt war, mit der sie aber nur zu bald vertraut werden sollte!
»Ich vermuthe, Ihre Arbeiten am St. Marien-Colleg werden wohl bald zu Ende gehen, Mr. Grice?« sagte eines Morgens Mr. Croßly.
»Warum fahren Sie nicht hinüber, Sir, und urtheilen selbst über mein Vorwärtsschreiten?« entgegnete lachend Selwyn. »Ich wäre glücklich, Sie dort zu sehen – und wollen die jungen Damen uns nicht beehren? Die Wahrheit zu sagen, dieß ist ein Vergnügen, das ich seit einiger Zeit vergebens erwartete.«
Mr. Croßly erwiederte, mit einigem Zwang in seinem Benehmen, eine gewöhnliche Entschuldigung, versprach jedoch nicht, daß sie kämen. Er war niemals ganz vertraut mit Selwyn gewesen und hatte in letzterer Zeit eine Zurückhaltung bezeigt, welche jener Gentleman bei seiner schnellen Auffassung wohl bemerkte, und wahrscheinlich dem wahren Grunde zuschrieb; vielleicht bewogen ihn eben die besonderen Schlüsse, die er aus seinen Betrachtungen über diesen Punkt zog, daß er sich bemühte, noch am selben Tage zum ersten Mal mit Miß Croßly unter vier Augen zu sprechen.
Sie stand eben in tiefem Nachdenken am Fenster und sann über die Bemerkung ihres Großvaters am heutigen Morgen nach, als Selwyn in das Zimmer trat. Wie sie ihn erblickte, entfärbte sie sich und wäre gern entflohen, doch er hielt sie zurück und sagte ihr, daß er sie mehr liebe, als irgend ein Wesen auf Erden; daß die Hoffnung auf ihre Gegenliebe sein einziges Glück sei; und daß er es nicht zu tragen vermöchte, wenn sie ihn verstoßen sollte. Er sprach voll Hast, denn sie waren nicht sicher, jeden Augenblick gestört zu werden, seine Worte waren einfach, denn er war tief bewegt. Wie schlugen die bebenden Töne dieser weichen Stimme an ihr Herz und flehten es an nachzugeben, während sie zitternd und blaß von unbestimmter Furcht, doch den vollen Nachdruck eines jeden Wortes fühlte, welches ihr die süße Versicherung gab, daß sie aufrichtig geliebt werde!
»Vielleicht,« fuhr er fort, »hörten sie die Bemerkung Mr. Croßly's von heute Morgen. Meine Anstellung an der Bibliothek wird wahrscheinlich bald zu Ende gehen; doch ob ich dann die Nachbarschaft verlasse oder nicht, hängt allein von Ihnen ab. Die Professoren am Colleg wünschen, daß ich bleibe und eine oder zwei Classen übernehme. Lassen Sie mich hoffen, und ich bleibe; verweigern Sie mir diese Lebenshoffnung, so gebe ich sogleich meine Stellung auf und – o Therese, Sie sind zu gut, zu sanft, um mich zu solchem Elende zu verurtheilen.«
Er legte ihre unerkünstelte Aufregung und ihre Thränen günstig aus; er ergriff ihre kalten, zarten Hände, um sie mit Küssen zu bedecken, und dann kamen einige jener glücklichen Augenblicke, welche gegenseitige Zuneigung allein kennt und niemals vergessen kann.
»Also brauche ich nicht zu scheiden?« flüsterte er.
»O – nein, nein!« sagte sie mit leichtem Schauder – ihre Einfachheit war der Hauptreiz gewesen, der ihn anzog. – »Sie werden – bei uns bleiben.«
Und da diese Worte sie wieder an ihre Familie erinnerten, hielt sie inne, denn in demselben Augenblick schoß durch ihre Seele ein Strom von Befürchtungen und Zweifeln, welche in letzterer Zeit sie in unbestimmte Verwirrung versetzt und jetzt in schreckliche Ueberzeugung sich aufgelöst hatten.
»Mr. Grice,« sagte sie mit plötzlicher Strenge, »ich war in einem Traum befangen. Ich bin überzeugt, daß mein Großvater nie in meine Heirath mit einem Protestanten einwilligen wird.«
»Hören Sie mich nur, Therese – hören Sie mich an, Geliebte! Sie wissen, daß ich frei von Vorurtheilen bin. Ich bewundere aufrichtig Ihre Religion in vielen Dingen – meine Grundsätze sind freisinnig – alles würde ganz nach Ihrem eigenen Wunsche gehen, und denken Sie ja nicht einen Augenblick, es könnte je anders sein! Sie sollen so frei sein wie die Luft, und Ihr Haushalt ebenfalls – ich werde es feierlich beschwören. Warum diese fortwährende Aufregung, Therese? gewiß, Ihre Freunde werden vernünftig sein, da ich bereit bin, jedes Versprechen zu geben, das ein Mensch geben kann; o gewiß, Sie werden mich wegen eines Skrupels nicht zum Wahnsinn treiben.«
Inständige Bitten, glühende Betheuerungen entflossen seinen Lippen, dennoch sah sie sehr bleich aus, und eine schwere Last lag auf ihrem Herzen, welches in tiefen Seufzern Erleichterung suchte. Diese peinliche Unterredung wurde plötzlich durch den Schall nahender Tritte beendet, und Therese entfloh in ihr Zimmer.
Dort kniete sie aus plötzlichem Antrieb vor ihrem sorgsam gepflegten Altar nieder und blieb lange Zeit regungslos, wenn gleich in großer Geistesaufregung und vielleicht ohne ein bestimmtes Gebet. Das mildsüße Antlitz der schmerzhaften Mutter Gottes schaute ernst auf ihre kniende Gestalt hernieder; die gemalten Hände streckten sich aus, als wollten sie die herabsteigenden Wolken einer heftigen Versuchung abwenden. Bleibe doch länger knieen, Kind, und bete, denn ein andächtiges Herz kann kein Uebel treffen.
Während des noch übrigen Tages waren Beide ungewöhnlich zurückhaltend gegen einander – ein sicheres Zeichen tief verborgenen Gefühls. Am Abend bestrebte sich Selwyn nicht ohne Anstrengung, an der Unterhaltung des Familienkreises Theil zu nehmen, doch er war sichtlich aufgeregt, gedrückt und bewegt, und dann und wann schaute er auf sie mit einem langen, verdeckten Blick voll Liebe und Kummer. Sie litt natürlich an starkem Kopfweh und lehnte sich in den Schatten eines ruhigen Winkels zurück, um die großen Thränen zu verbergen, welche gelegentlich über ihre Wangen herab glitten; und während sie ihren Augen gestattete, auf jenem Gegenstand zu haften, murmelte sie:
Kann ich je – je ihn aufgeben?«
Es war ein langer, schwerer Abend.
Am folgenden Morgen hatten sie vor seiner Abreise, eine halbe Stunde lang, eine zweite Zusammenkunft in dem verschlungenen Pfade der Gesträuchanlage hinter der westlichen Terrasse. Dort wiederholte er, während sie, zärtlich gestützt, an seinem Arme hing, mit traurigem Ernste seine Gründe vom vorigen Tage und drang mit allem Nachdruck in sie. Nein, noch mehr, er hatte während einer schlaflosen Nacht die Sache wohl überdacht, und hatte jetzt für ihren wie für seinen Frieden noch einen weitern Grund vorzubringen, eine weitere Gunst zu erbitten. Würde sie wohl einwilligen, für den Augenblick Alles beruhen zu lassen und für die Offenbarung ihres Verhältnisses eine günstigere Zeit abzuwarten?
»Ich würde mir diese Frist nicht erbitten, hätte ich nicht einen guten Grund dafür, den Sie, theuerste Therese, billigen werden, wie ich hoffe!«
»Ich bin bis jetzt ihren Freunden blos flüchtig bekannt, aber ich darf hoffen, daß sie mir mehr vertrauen werden, wenn einmal unsere Bekanntschaft inniger geworden ist. Doch, was ich hauptsächlich sagen will, ist Folgendes, und bedenken Sie, Geliebte, daß ich Ihnen damit mein äußerstes Vertrauen beweise. Ich beabsichtige die Grundsätze Ihres Glaubens ernstlich und aufrichtig zu prüfen. Ich werde sogleich damit beginnen, und obwohl ich aus einem Gefühl, das Sie sicher billigen werden, mich nicht an das geringste Versprechen binde, wer weiß, was geschehen kann? Wenn ich im Stande bin, mit gutem Gewissen die Lehren Ihrer Kirche zu unterschreiben, so wird der größte Einwand, den Ihre Familie vorbringen wird, mit einem Male entfernt, und uns Beiden übergroßes Leid erspart sein. Nur müssen Sie mir, meine Liebe, die Frist, um die ich bitte, gewähren, und nicht auf eine Erklärung dringen, die für den Augenblick vorzeitig wäre.«
Da Mr. Grice sich rühmte, ein Mann von Ehre zu sein, so läßt sich annehmen, er sei von der Rechtlichkeit dieser Maßregel überzeugt gewesen, ehe er sie seiner Zuhörerin vorschlug. Vielleicht fürchtete er auch, sie möchte in dieser ersten Zeit ihrer Neigung einem etwaigen Widerstande erliegen, und wollte so für eine kurze Zeit dieses zaghafte Herz sicherer an sich ketten.
Therese, die während dieser hastigen und zärtlichen Unterredung die Sache zu überlegen suchte, sah keinen Grund, seine Bitte zu verweigern. Im Gegentheil, sie fürchtete die Folgen eines offenen Geständnisses so sehr, daß sie sich unaussprechlich erleichtert fühlte, als sie einen Grund zum Aufschub gefunden hatte. Natürlich blos so lange als Selwyn seine Untersuchungen verfolgte – welch' glücklicher Ausgang, wenn sie ihn zur Wahrheit führten! Sie werden es, denn die glorreichen Lehren des Katholicismus müssen einen ernsten, unpartheiischen Prüfer unfehlbar überzeugen und gewinnen!
Ja, Kind, die Seele, welche durch die göttliche Gnade sanft berührt, die Wahrheit untersucht, wird überzeugt. Allein dieser junge Mann wird durch einen ganz andern Magnet zu dieser Prüfung angereizt, wiewohl er auf die Frage, ob er sie nur um der Wahrheit willen anstellt, oder weil sie ihm als Aushilfsmittel erscheint, entrüstet antworten wird, er werde falsch beurtheilt. Er wird ferner die Prüfung, die mit Demuth und Gebet vorgenommen werden sollte, mit kritischem Geiste verfolgen, und erhabene Gegenstände des Glaubens dem Urtheil seiner eignen hochgeschätzten Gelehrsamkeit und freigeborenen Vernunft unterwerfen. Viele vor ihm haben mit derselben Gesinnung das Licht gesucht, und wurden in hoffnungsloser Finsterniß gelassen.
Da die Erfahrung der Miß Croßly noch von keiner solchen Täuschung wußte, ergriff sie freudig die dargebotene Hoffnung und erlaubte ihm abzureisen, mit dem Einverständnisse, daß ihre Liebe geheim bleiben sollte. Doch – was war aus ihrer Einfalt geworden? sie war nicht einmal gegen ihren Geliebten ganz offen, denn indem sie ihm dieses Versprechen gab, machte sie einen stillschweigenden Vorbehalt, dessen Eröffnung, wie sie richtig fühlte, für einen Andersgläubigen nicht geeignet war.
Erlöst von der Furcht augenblicklicher Prüfung und seiner tiefen Neigung versichert, hoffte sie jetzt eine Zeit der Ruhe zu genießen; doch bald entdeckte sie ihren Irrthum. In eine durch Betrug befleckte Lage verwickelt, fühlte sie die ganze Unzufriedenheit, die einem guten, aufrichtigen Herzen unter solcher Herabwürdigung natürlich ist – ein Gefühl, welches, wie fein auch immer die Gründe der Sophistik oder die Schleier der Selbsttäuschung sein mögen, für den Aufmerksamen eine klare, nicht mißzuverstehende Warnung sein sollte, daß ein solcher Seelenzustand nicht der rechte ist.
In diese Woche fiel das Fest Mariä Reinigung, an welchem die Familie von Croßly Grange in der kleinen Kirche von St. Anthony die Sakramente zu empfangen pflegte. Therese ging mit den Uebrigen; sie war, obgleich am Beginn ihrer Verirrungen, noch ein gehorsames Kind, und hatte gemäß dem gefaßten Vorbehalt die Absicht, ihren Kummer im Beichtstuhle aufrichtig auseinander zu setzen – in jenem erhabenem Tribunale, wo die geistig Kranken und Blinden geheilt werden; wo das Leid getröstet und die gefährlichen, vom Satan oder von der Selbstsucht ausgespannten Truggewebe durch den Geist Gottes, der durch menschliche Lippen spricht, zerrissen werden.
Was in jenem Verschlusse vorging, bleibt natürlich unbekannt. Therese verließ den Beichtstuhl in Thränen, war aber die übrige Zeit des Tages heiterer, als es seit Sonntag der Fall gewesen. An diesem Abend zog sie sich früh zurück, und in der Stille ihres Zimmers setzte sie sich zum Schreiben nieder.
Werfen wir einen Blick auf einige Sätze, wie sie aus ihrer widerstrebenden Feder geflossen.
»… In meiner großen Trübsal möchte ich Ihnen schreiben, was auf meiner Seele lastet … das von uns beschlossene Verfahren scheint bei weiterer Ueberlegung nicht ganz recht … bitte, lassen Sie uns den Entschluß fassen, dem Großpapa und meiner Mutter alles zu sagen, und hoffe, sie werden vernünftig sein … Ich flehe Sie an, nicht mehr zu verlangen, daß ich Sie wieder im Geheimen sehe, ehe Sie nicht alles dem Großpapa dargelegt haben.«
Der Brief sah wie mit Blasen überzogen aus, als er zu Ende war; und da er an S. Grice, Esq., St. Marienkolleg, in D–, adressirt war, so wurde er durch einen der jungen Buben, die am folgenden Morgen zur Schule gingen, an seinen Bestimmungsort gebracht.
Am Nachmittag bat Miß Croßly, nachdem sie eine Zeit lang in tiefen Gedanken dagesessen, ihre Mutter um eine Gunst.
»Liebe Mamma, da wir so hübsch allein sind, bitte, erzählen Sie mir die Einzelheiten jener Heirath von Bernards Mutter. Ich erfuhr sie nie genau.«
Die gütige Mrs. Croßly ließ sich nicht lange bitten.
»Wohl, Kind, doch erwähne nie davon vor Deinem Großvater, denn in seiner Anwesenheit ist dieß ein verbotener Gegenstand. Selten kann er es ertragen, den Namen seiner Base Margarethe zu hören.«
»Er hatte sie so innig lieb, war es nicht so, Mutter?«
»Ja, sie war in ihren jungen Jahren sein Liebling – sie stand über zwanzig Jahre unter seiner Aufsicht. Ich weiß nicht, was er ihr nicht gewesen – Erzieher, Vormund, und zwar gesetzlicher, nach ihres Vaters Tod. Sie war der Gegenstand seiner zärtlichen Sorgfalt, ebenso wie sein eigner Sohn, Dein lieber Vater, Therese,« sagte die Wittwe mit einem Seufzer.
»Es verursachte ihm den tiefsten Kummer, als sein guter Liebling sich unglückseliger Weise in Mr. Georg Massinger verliebte, einen Gentleman, der sie in keiner Beziehung verdiente, zudem eine andere Religion hatte. Es gab kein Mittel, die Heirath zu verhindern, denn sie war halsstarrig, und hatte zuletzt ihren eigenen Willen. Das arme Kind bereute es bald genug; mit ihrer Heirath begann der Kummer ihres Lebens. Ihr Gatte war ein Mann von rauhem Charakter – und was das Schlimmste von Allem, er erwies sich als bigott – ich kann keinen mildern Ausdruck finden. Als ihm ein Knabe geboren ward, ließ er ihn in seiner eigenen Kirche taufen und erklärte, er sähe es lieber, daß seine Kinder in der Kindheit stürben, als in den Irrthümern unseres Glaubens erzogen würden. Im Verlauf der Jahre wurde er zum Tyrannen; und als das Kind alt genug war, Alles zu verstehen, entfernte er es aus dem Bereich des mütterlichen Einflusses und übergab es der Aufsicht eines seiner Freunde. Nur einmal im Jahre durfte die arme Margarethe das Kind sehen. Der mißleitete Mann glaubte ohne Zweifel, er erfülle seine Pflicht, und daher wollen wir in christlicher Liebe hoffen, der Tod seines Weibes werde ihm nicht zur Last fallen; denn daß sie an gebrochenem Herzen starb, das fürchte ich. nur zu sehr. Er starb vor ihr – und zwar plötzlich, während er eines Tages eben auf der Jagd war. Die einzigen Worte, welche das arme Ding sagte, als man ihr den Unfall beibrachte, waren diese: ›o mein Kind ist gerettet‹; und da sie nahe an ihrer Zeit war, kam Bernard wenige Stunden nachher auf die Welt. Sie genas nicht wieder, sondern lebte blos noch so lange, um zu sehen, wie ihr Kind glücklich getauft ward, und um Deinen Großvater als seinen Vormund aufzustellen.«
»Wir bemühten uns, ihn religiös zu erziehen und haben uns, Gott sei Dank, wegen seines unglücklichen Glaubenswechsels nichts vorzuwerfen. Er kennt seinen Glauben sehr wohl – möge ihn seine arme Mutter durch ihre Bitten wieder zurückführen. Sie ging durch ihre Prüfung in den Himmel, hoffe ich, das liebe Lamm!«
»Der Aeltere starb als kleiner Knabe, nicht, Mamma?«
»Ja, Liebe, er starb. Auch der Gentleman, welcher ihn zum Erziehen hatte, starb bald, und die Amme kam eines Tages nach Chase mit der Nachricht, das Kind sei von einem bösartigen Fieber ergriffen worden, sei gestorben, und wenige Stunden darauf begraben worden. Dieses war, während eben die arme Margarethe in einem sehr zweifelhaften Zustande sich befand, einen oder zwei Tage nach Bernard's Geburt, wir wagten es kaum, ihr davon zu sagen.«
»Doch, meine Liebe, ich habe Dich schwermüthig gemacht. Sei heiter, es ist Alles vorbei, wie Du weißt.«
»Aber, Mutter, glauben Sie nicht, es war dieß ein Fall außerordentlichen Mißgeschickes? Warum vertraute sie einem solchen Menschen? Er – er konnte ja nicht der Achtung eines Augenblickes werth gewesen sein, viel weniger einer Zuneigung!«
»Er verdiente Beides in ihren Augen, daran zweifle ich nicht; sie liebte ihn – das arme Ding.«
»Vielleicht war sie etwas unbedacht und sicherte sich vor der Heirath kein Versprechen in Bezug auf ihre Kinder. Glauben Sie nicht, daß eine gemischte Ehe sehr glücklich sein könnte, wenn von einem zugleich ehrenhaften und gefühlvollen Mann ein solches Versprechen gemacht würde? Alle Fälle sind nicht gleich, und es gibt ja viele solche Verbindungen. Haben Sie nie eine glückliche gesehen, Mamma?«
»Ei, sieh, mein Schatz,« erwiederte ihre arglose Mutter, »ich war mit so wenig Leuten eines andern Glaubens näher bekannt, daß ich nicht im Stande bin, darüber zu urtheilen; doch wir Alle wissen sehr wohl – o du mein Himmel!« rief sie plötzlich aus, erschreckt durch ein heftiges Pochen an die Thüre der Vorhalle.
Therese wurde durch eine plötzliche Ahnung beunruhigt, die ihr sagte, was dieses gebieterische Klopfen zu bedeuten habe. Sie verließ das Zimmer, und während sie durch die Vorhalle schritt, kam ihr eine Dienerin entgegen, welche den Besuch eben in die Bibliothek geführt hatte.
»Von Mr. Grice, Miß,« sagte das Mädchen und übergab ihr ein Billet.
Sie eilte in ihr Zimmer und riß das Papier auf, welches folgende Zeilen enthielt:
»Ihr Wunsch soll befolgt werden, obwohl ich die Klugheit desselben nicht einzusehen vermag. Doch da eine Ungewißheit über diesen Punkt mich wahnsinnig machen würde, werde ich sogleich ausführen, was Sie verlangen und mein Glück der Verfügung einer dritten Person anheim stellen.«
Die arme Therese war an so ungestüme Maßnahmen nicht gewöhnt. Mit kalten, gefalteten Händen saß sie da und erwartete in theilweiser Verwirrung das Ende dieses plötzlichen Sturmes. Lang und peinlich war die nun folgende Zwischenzeit; doch endlich hörte sie unter ihrem Fenster die Huftritte eines Pferdes und erkannte, daß Selwyn fortritt. Bald kam die erwartete Aufforderung, und mit zitternden Gliedern ging sie hinab zu ihrem Großvater.
Er schritt mit ernster und verdrießlicher Miene im Bibliothekzimmer auf und ab, doch bei ihrem furchtsamen Blicke schien er zu erweichen und grüßte sie freundlich.
»Komm' hieher, Kind, setze Dich. So eben habe ich von Mr. Grice einen Besuch erhalten. Weißt Du es, Therese, er erlaubte sich, zu Dir eine Zuneigung zu fassen?«
Sie schaute auf mit einem Blick des Erstaunens, dessen Ursache er falsch auslegte, und er fuhr daher fort:
»Wohl, Du magst es nicht vermuthet haben, doch es ist so, ich bedaure, es sagen zu müssen. Er ist hier gewesen, um seine Gefühle auseinanderzusetzen; doch in der Wirklichkeit gibt es da, wie Du sehr wohl weißt, so viele ernste Einwände, daß es mir Kummer bereiten würde, sollte ich sehen, daß die Sache weiteren Fortgang hätte. Ich könnte meine Zustimmung nicht ertheilen, mein Kind, noch könnte es Deine Mutter. Hätte ich bei Mr. Grice's Bekanntschaft diesen Ausgang vorhersehen können, so würde mich nichts dazu vermocht haben, ihn hier willkommen zu heißen. Doch die Umstände schienen es zu erfordern, und ich verließ mich auf Deinen guten Sinn und Deine Frömmigkeit, meine Liebe, und glaubte Dich so vor aller Gefahr behütet.«
Er sprach langsam und schaute ernst auf sie. Sie saß sehr still da. Ob ihr Großvater argwöhnte, daß sie selbst einige Schritte in diese Gefahr gethan, konnte sie aus seinen Worten nicht erkennen, doch war ihr klar, daß Selwyn nicht so aufrichtig gewesen, als sie erwartet hatte. »Vielleicht hatte er seine guten Gründe,« flüsterte die Liebe – stets bereit, ihn zu entschuldigen – und da er keine Erklärung gegeben, so wagte sie es um so weniger – wenigstens für jetzt, aus Furcht, solche möchte zu unwürdigen Vorwürfen führen. Dieß waren die Gedanken ihres furchtsamen Herzens, und sie verharrte in ihrem Schweigen.
Da sie jedoch fühlte, es sei nothwendig etwas zu sagen, so murmelte sie die einzige lichte Hoffnung, die sie hatte.
»Aber, wenn er unsern Glauben annehmen sollte?«
»Nun,« entgegnete Mr. Croßly, »mir gegenüber drückte er nichts dieser Art aus. Zudem,« und dabei schüttelte er mit dem Kopfe, »möchte ich dieß sehr bezweifeln – sehr. Eine plötzliche Ueberzeugung unter solchen Umständen würde wenig Prüfung erfordern, denke ich. Doch laß dieß. Etwas Anderes, Therese: Ich bin ganz und gar nicht zufrieden gestellt mit dem, was er über seine Aussichten vorbringen kann. Er hat, wie es scheint, kein festes Einkommen, noch irgend eine Wahrscheinlichkeit dazu. Seine Talente sind zwar, wie ich höre, unleugbar und er mag stets eine Verwendung in dem finden, was er die literarische Welt nennt; doch so wenig ich auch davon weiß, so weiß ich doch so viel, daß dort wenig Aussichten auf den Erwerb eines Vermögens vorhanden sind; und ich glaube daher, daß er trotz seiner glänzenden Geistesgaben stets arm bleiben wird. Du wirst daher einsehen, Therese, daß er für Dich keine passende Partie ist. Er sollte dieß selbst wissen. Ja, ich muß sagen, daß, während ich meine Meinung offen aussprach, wie es meine Pflicht war, er in einem sehr unanständigen Zustand der Gereiztheit sich verabschiedete. Sehr« – sagte der alte Mann, indem er bei der Erinnerung sich wieder entrüstete.
Ersichtlich waren sie in gegenseitigem Unmuth von einander geschieden.
»Nun Kind, da die Dinge so stehen, ist weiter nichts mehr zu sagen. Du weißt, was Deine Pflicht verlangt. Ich rathe Dir, ihn ganz aus dem Sinne zu schlagen. Ich danke Gott, daß die Sache noch so rechtzeitig aufgedeckt wurde. Wenn,« fügte er hinzu, vielleicht durch ihre zunehmende Blässe argwöhnisch gemacht, »wenn Du wissen willst, wie die Pflicht nicht bloß über eine Grille der Einbildung, sondern über jahrelange Zuneigung zu triumphiren vermag, so schaue auf Deine Schwester Marie. Ihr Beispiel wird Dich jede Stärke lehren, die Du etwa zu lernen nöthig hast.«
»So, Gott segne Dich, Kind! Küsse mich!«
Er küßte sie auf ihre kalte Wange, doch so selten dieser Gruß auch war, er ermuthigte sie nicht zu einer vertraulichen Erklärung. Ihr Herz durchströmte ein neues Gefühl – das der Auflehnung gegen diese kalte Strenge; und sie verließ ihn schweigend, um in die Anlagen hinauszustürzen und in leidenschaftliches Schluchzen auszubrechen.
Wir müssen sie ihrem Kampfe und ihrem mädchenhaften Kummer überlassen. Ihr Inneres tobte, und um sie war alles dunkel; und wenn der Stern der Pflicht allein über eine solche Szene scheint, ist es wohl kein Wunder, wenn seine ersten Strahlen matt und kalt erscheinen.
Fasse Muth, Dulderin, blicke standhaft aufwärts: jenes Licht kann wärmer und süßer werden, als Du es jetzt für möglich hältst.