Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Capitel.
Unglück.

Therese ist die Gebieterin eines stattlichen Hauses. Die Familie ließ sich in der Nähe der Stadt B– nieder, zu welcher Mr. Grice aus mehreren Rücksichten hingezogen wurde, als deren hauptsächlichste die herzliche Achtung, welche der Dechant und andre Vornehme der Nachbarschaft ihm bezeigten, sowie der Vortheil eines unbeschränkten Zutrittes zu der prachtvollen Capitels-Bibliothek zu erwähnen sind. Es ist wahr, er hatte, eingedenk eines ehemals gemachten Versprechens, mit einer Art prunkender Hochherzigkeit Therese angeboten, nach Norden in die Nähe ihrer alten Heimath zurückzukehren; indeß hielt sie es für's klügste, die Entscheidung hierüber ihm allein zu überlassen.

Jener Traum, in der Nähe der alten Grange zu leben, war ihr einst lieb und theuer, doch jetzt konnte sie es ertragen, ihren heimathlichen Verkehr auf einen vertraulichen Briefwechsel mit ihrer Mutter und Marie zu beschränken. Als daher ihr Gatte die sogenannte »Beeches,« einen Ort, der ungefähr sieben Meilen von der oben erwähnten Stadt entfernt lag, zum Wohnsitz wählte, billigte sie gehorsam seine Wahl. Sie verließen London, zogen dort ein und begannen eine Haushaltung, die zwar ihren Ideen von Sparsamkeit ziemlich entgegengesetzt, jedoch durch seine Aussichten, wie er behauptete, gerechtfertiget war. Das Haus wurde mit großen Kosten reich meublirt; Therese mußte eine Anzahl Dienerinnen aufnehmen, und Selwyn, der es für zweckdienlich erachtet hatte, sieben Meilen von der Stadt entfernt zu wohnen, um durch Besuche in seinen Arbeiten so wenig als möglich gestört zu werden, fand bald, daß ein Phaëton so nothwendig sei, wie irgend etwas.

Die wechselnden Jahreszeiten kamen und gingen, und sieben Jahre flossen dahin. Es war eine ehrenvolle Zeit in Selwyn's Leben. Sein Name stand bei Vielen in hoher Achtung, er wurde in allen Kreisen seiner unmittelbaren Nachbarschaft gefeiert und führte einen freundschaftlichen Briefwechsel mit einigen der bedeutendsten Gelehrten des Landes. Indeß, heimlich flüsterte man sich zu, daß die Achtung, die man draußen für ihn hege, sicher sich mindere, sobald man sein Haus betrete; und in der Nähe der Beeches liefen gewisse Gerüchte um, welche seine Freunde veranlaßten, ihm zu seiner Entschuldigung ein »exzentrisches Wesen« zuzuschreiben; aber seine oft entlassenen Diener beehrten ihn mit schärferen Bezeichnungen, während sie mit bedeutungsvollem Achselzucken sich wunderten, »wie die Madame dort glücklich sein könne.«

War sie glücklich? Nun, das Leben hat in jeder Stellung sein Süßes und sein Bitteres, und gesegnet ist die Gemüthsart, welche lieber seine Tröstungen als seine Widerwärtigkeiten aufzählt. Therese hatte Erquickungen, die sie kaum gegen ein Loos unwandelbaren Friedens ausgetauscht hätte. Tritt in die Kinderstube, und du wirst sehen, wohin das Herz der Mutter bei jeder Trübsal ging, und wo sie sicher war, Heiterkeit, Unschuld, lärmende, zärtliche Liebkosungen zu finden. Dort treffen wir Anna, mit ihrer sanften Stirne und ihrem holden Lächeln; die Zwillingsbrüder, die alsdann kamen, und zwei oder drei strahlende Gesichtchen, uns zwar unbekannt, aber dem Mutterauge unendlich theuer. Es sind schöne, gesunde Kinder, mit trefflichen Anlagen; und der Mutter ganzes Streben geht dahin, sie von frühester Kindheit an gut zu erziehen. Welcher Wechsel auch unter der andern Dienerschaft stattfand, stets behielt sie in der Kinderstube ein katholisches Mädchen; dort saß sie zu bestimmten Stunden unter der kleinen Schaar und suchte mittelst Katechismus und Legende Eindrücke zu befestigen, welche während der Dauer ihres noch ungeprüften Lebens unverwischlich bleiben sollten. Arme Mutter! zu solchen Anstrengungen trieb sie ein geheimer, stets wachsender Stachel: häufig war sie unwohl – wenn sie in einer dieser Krankheiten sterben sollte, wer mochte dann in der Erziehung der Kinder folgen? Dieser Gedanke, bei gemischten Ehen voll unvermeidlicher Bitterkeit für den katholischen Theil, umlagerte sie Tag und Nacht, trieb sie oft mit schmerzlicher Sorge zu den unschuldigen Kleinen, welche ihre Gefahr so wenig kannten und kaum die Hälfte jener frommen Lehren begriffen, welche die ängstliche Mutter ihrem kindlichen Geist einzuprägen suchte.

Einige Zeit, seitdem wir unsre Bekanntschaft mit der Familie erneuerten, gingen die Dinge wie gewöhnlich fort; dann trat ein Wechsel ein. Selwyn that einen jener falschen Schritte, welche zuweilen die blühendsten Aussichten vernichten und selten im Leben wieder gut zu machen sind. Schon seit etlichen Monaten hatte er an ihrer gegenwärtigen Wohnung allerlei auszusetzen; er klagte, sie sei zu klein für die wachsende Familie, und er werde durch das Geplapper der Mägde und den Lärm der Kinder gestört, obwohl selten eine Magd in der Nähe seines Arbeitszimmers sich aufhielt, und der Schall der Kinderstimmen von der fernen Kinderstube fast nie durch das stille Haus erklang. Hätte er offen den tiefen Winkel der Seele durchforscht, wo jene Schwachheit lauert, die leicht den Starken bethören kann, so würde er wohl die wirkliche Quelle dieser Unzufriedenheit entdeckt haben. Die Wahrheit ist, der Erfolg und die Lobsprüche, an die er jetzt gewohnt war, entwickelten eine Eigenschaft seines Charakters, welche während seiner weniger glänzenden Laufbahn still in ihm geschlummert hatte: jenen kleinlichen Stolz, der vielen geschickten oder von Glück begünstigten Männern eigen ist, und welcher sie drängt, die Spitze des gesellschaftlichen Kreises, in welchem sie leben, zu erreichen oder fortwährend unbefriedigt zu bleiben. Eine hübsche, bequeme Wohnung – eine gute, ehrenhaft verdiente Stellung waren Dinge, die von Selwyn nicht länger mehr geschätzt wurden. Warum? Weil er neidische Augen auf einen staatlichen Herrensitz geworfen hatte, der in letzter Zeit leer stand, und als dessen Besitzer er unbestritten meilenweit in der Runde gegenüber seinen Nachbaren als der erste erscheinen mußte; und ehe er den Gegenstand seines Ehrgeizes erlangt hatte, fand er innerlich keine Ruhe mehr und wurde täglich durch die eine oder andre jener Aussichten verwundet, für welche die menschliche Eitelkeit so leicht zugänglich ist, und durch die sie so scharf gekitzelt wird.

Endlich entdeckte er seine Wünsche oder vielmehr seinen Vorsatz seiner Frau, welche von der Eröffnung überrascht, die Klugheit des Schrittes in Frage zog, weil sie die vermehrten Ausgaben fürchtete, die dem Aufenthalt auf einem so vornehmen Sitze folgen würden. Allein Einwände konnten ihren Mann selten von einem einmal gefaßten Plane abbringen; und er besaß überdieß eine so glückliche Geschicklichkeit, die ungewisseste Aussicht mit seiner heißblütigen Phantasie hoffnungsvoll auszumalen, daß er nicht blos sich selbst überredete, sein vorgehabter Plan sei ganz vernünftig und dessen Ausführung nothwendig, sondern schließlich Therese dahin brachte, ihm beizustimmen und mit einem ihrem Herzen fremden Gefühle – einem kleinen Anflug befriedigter Eitelkeit – zum voraus die Wonne zu kosten, die der Herrin über einen so hübschen Landsitz in Aussicht stand. Demgemäß siedelten sie sogleich nach Burnside Towers in gebührendem Style über – das heißt, die Nachbarschaft war durch die hin- und hergehenden Handwerksleute lebendig geworden, der nette Phaëton war durch eine hübsche Equipage mit zwei schönen Pferden ersetzt, und als der gnädige Herr und die gnädige Frau ausstiegen, um ihre neue Wohnung zu betreten, wurden sie in der Vorhalle von einer Reihe unterwürfiger, lächelnder Bediensteter empfangen, die so lang war, daß Therese sie für den Augenblick nicht zu zählen vermochte. Die Arme, gerade damals sah sie einer bleichen, sanften Herrin gleich, denn wie sie durch das große Thor fuhr, erfüllte ihre Seele ein sehr drückender Gedanke, der sie eher demüthigte, als erhob. »Soll für all' dieß dein armer Kopf sorgen, mein Lieber? sollen wir hier einziehen?« Dieß war ihre stumme Frage, doch eine Aenderung war nicht mehr möglich, und indem sie auf sein männliches, zufriedenes Antlitz blickte, that sie, was sie stets gethan hatte – sie verließ sich unbedingt auf ihn.

Kaum waren sie in den »Towers« eingezogen, als sich eine neue Ausgabe herausstellte. Sie mußten ihre Besitznahme durch ein Diner einweihen, und Selwyn machte sich selbst das Versprechen, er wolle dann seine literarischen Arbeiten mit neuem Eifer und in aller Bequemlichkeit wieder aufnehmen. Ach, dieses trügerische »Dann«! Es brachte etwas, was er weit entfernt war, zu erwarten – einen plötzlichen und schweren Schlag.

Am Abend des Festes hatte Therese eben ihre reiche Toilette beendigt, als ihr Gatte in das Zimmer trat. Er sah so verstört aus, daß sie das Kammermädchen entließ, und ihn bat, ihr sogleich zu sagen, was vorgefallen sei. Er hielt sie nicht lange in Spannung, sondern antwortete, hastig auf- und abschreitend:

»So eben empfing ich einen Brief aus London, der sehr schlimme Nachrichten, äußerst fatale Nachrichten enthält. S– ist gestorben – vor zwei Tagen plötzlich gestorben.«

Bei dieser Zeitung stieß sie einen Schrei aus; dann fragte sie:

»Wird es auf Deine Aussichten einwirken, Selwyn?«

»Natürlich wird es, wesentlich. Ich bin halb zu Grunde gerichtet – halb zu Grunde gerichtet.«

Therese sah ihn an mit einer schmerzlichen Erinnerung an ihre Lage. Sie hatten sich durch ihren letzten Umzug bedeutend in Schulden gesteckt, die neue Einrichtung war noch nicht bezahlt, und eine Menge Verbindlichkeiten lasteten auf ihren Schultern. Sie dachte an die Gesichtchen in den Kinderbettstellen und rang die Hände.

»Jetzt, Therese, benimm Dich nicht wie ein thörichtes Weib und versäume keine Zeit. Ich sage Dir, was Du zu thun hast. Geh' in das Bibliothekzimmer und schreibe, so schnell als möglich, Billete an alle jene, die wir erwarten. Ich kann Niemand empfangen: schreibe es ihnen. Ich bin krank – ich habe ein Fieber. Ich werde mich niederlegen.«

Sie stellte sich zwischen ihn und die Thüre, als er Miene machte zu gehen.

»Selwyn, ich bitte Dich, überlege einen Augenblick – nur einen Augenblick, mein Lieber. Es ist keine Zeit mehr zu schreiben – sie werden sogleich hier sein. Laß uns eine Anstrengung machen und alles verbergen, da noch Niemand davon weiß, und alles schon bereit ist. Wenn Du anders handelst, so ist die Geschichte in wenigen Stunden ruchbar, und die Handwerksleute sitzen uns auf dem Halse, ehe wir die geringste Anordnung getroffen haben.«

Sie wußte kaum, was sie sagte, aber mit weiblicher Raschheit hatte sie das Richtige getroffen und ließ nicht nach, bis sie ihn von seiner ersten Absicht abgebracht und gesehen hatte, wie er in sein Zimmer ging, und sich für die erwarteten Gäste herrichtete.

Das Fest verlief, als ob keine Wolke über den Herrensitz sich niedergelassen hätte. Ruhige Angst beschwerte Theresens Herz und sie sah sehr blaß aus; dem ungeachtet war sie mit Erfolg bemüht, eine angenehme Wirthin zu machen. Selwyn schien den Entschluß gefaßt zu haben, alles zu vergessen, er trank eine gute Portion Wein und war sogar über Gewohnheit unterhaltend und witzig. Endlich war die Anstrengung vorüber; die letzten Gäste hatten sich entfernt, und Schweigen lagerte auf den in Unordnung gebrachten Zimmern. Therese hätte noch gerne ihr volles Herz durch ein Gespräch über den bedrückenden Gegenstand erleichtert; doch als sie sah, wie ihr Gatte, nachdem er mit lächelnder Artigkeit die letzte Gruppe entlassen hatte, sogleich mit einem Ausdruck großer Abmattung in Schweigen versank, gab sie ihren Wunsch aus; und das unglückliche Paar ging, um die Ruhe zu genießen, die unter solchen Umständen möglich war.

Am nächsten Morgen zeigte sich Selwyn, obwohl ruhig und gedrückt, sehr liebreich gegen seine Gattin, für deren Benehmen am gestrigen Abend er jetzt aufrichtig dankbar war. Sie hatten eine lange Unterredung und er setzte ihr den Stand seiner Angelegenheit mit einem Vertrauen auseinander, welches er ihr noch nie erwiesen hatte. Sie erkannte jetzt klar, wie sie bereits vermuthet, daß er in all seinen Erwartungen zu hoffnungsvoll gewesen, und bei der Vermehrung ihrer Auslagen für die neue Haushaltung einen sehr unglücklichen Schritt gethan hatte. Der Tod des Mr. S– setzte wahrscheinlich seinen einträglichsten Unternehmungen ein Ziel. Er arbeitete zwar gelegentlich auch für andre Verleger, allein dieser Verdienst reichte zur Unterhaltung seiner wachsenden Familie nicht aus; und überdieß hatte er in letzter Zeit jede andre Verbindung vernachlässigt, des höheren Vortheils wegen, den ihm sein abgeschiedener Freund gewährt hatte.

»Darin hast Du ganz recht gehandelt, mein Lieber,« sagte Therese, »und deßhalb brauchst Du Dich nicht zu tadeln. Doch glaubst du wirklich in Folge des Todes von Mr. S– sei jede weitere Arbeit abgebrochen? Was ist denn wahrscheinlicher, als daß die Unternehmungen von seinem Sohne fortgesetzt werden?«

»Ach, das glaube ich nicht. S–, der arme Mann! hatte eben sein erstes Projekt zu Ende geführt; er trug sich zwar mit einem neuen Plan, der bestimmt von großem Erfolge gewesen wäre, aber jetzt wird er kaum zur Ausführung gelangen. Ich habe indeß vor, mit dem jungen S– darüber zu correspondiren, obgleich ich nicht zu hoffen wage, daß er Geist und Talent seines Vaters geerbt hat. Eines aber dürfen wir hoffen: ich habe einen ausgearbeiteten Artikel zur Hand, der schon vor einem Vierteljahre hätte erscheinen sollen; ich werde ihn vollenden und dann sogleich an die Redaction senden. Ich hoffe eine gewisse Summe dafür, und was noch besser ist, ich werde so dort wieder in Gunsten kommen; der arme S– schuldet mir noch dreißig Pfund, und das ist vorderhand eine, wenn auch nur kleine Hilfe. O, vielleicht werden wir uns trotz allem noch herausreißen aus dieser Lage. Vorderhand, meine Liebe, müssen wir alles geheim halten. Zeige ein fröhliches Gesicht, wenn man dich anblickt, und ich will mich sogleich an die Arbeit setzen.«

Er sperrte sich in sein Arbeitszimmer ein und arbeitete Tag und Nacht, während Therese in ihrer schönen, neuen Behausung mit schwerem Herzen die Erfolge erwartete.

Selwyns Briefwechsel mit dem jungen Mr. S– führte keineswegs zu einem befriedigenden Schlusse; jener Gentleman schrieb mit einiger Kälte, er könne auf Mr. Grices Ideen nicht eingehen, und ihm für den Augenblick keine dauernde Verwendung zusichern. Von den andern vernachlässigten Freunden, mit denen er sich jetzt wieder zu versöhnen wünschte, war einer verreist; ein anderer hatte sich von der einflußreichen Stellung, die er vorher innegehabt, zurückgezogen und der Nachfolger war zufällig ein Gentleman, mit dem Mr. Grice auf der literarischen Wahlstatt lange in offener Fehde gestanden. Zu diesen Enttäuschungen kam noch, daß ihm das Manuscript, von dem er viel erwartet hatte, mit einem höflichen Schreiben zurückgeschickt wurde: es sei zu umfangreich, zu gelehrt – wenn Mr. Grice es überarbeiten und vereinfachen wollte, würde man es mit Freuden wieder entgegennehmen.

Der Gelehrte hatte dazu keine Lust und saß, den Kopf auf die Hand gestützt, vor den verschmähten Blättern, bis Therese herein kam, um zu erfahren, welche Nachrichten die Post gebracht hätte. Er schaute auf und sie freundlich an sich ziehend, sagte er, seine letzten Hoffnungen seien gescheitert, er könne ihren gegenwärtigen Wohnsitz nicht eine Woche länger behaupten – es war klar, sie mußten die Nachbarschaft verlassen und durch den Verkauf der Einrichtung den Haupttheil der in letzter Zeit contrahirten Schulden bezahlen. Therese, ihren Kopf auf seine Schulter legend, antwortete mit jenen Worten der Ermuthigung und Liebe, wie sie in Zeiten der Prüfung aus dem Herzen einer edlen Gattin fließen. Sie könne überall glücklich sein mit den Kindern – und mit ihm: laß sie augenblicklich von diesem unglücklichen Orte scheiden und suche eine bescheidene Wohnung. Er solle nicht verzagen, denn sie hätten eine Lehre erhalten, die ihnen ihr Leben lang nützen werde, und sie würden auf den gegenwärtigen Kummer zurückblicken in Tagen, die ihnen glänzend erscheinen werden, wenn sie nur schuldenfrei und friedlich zusammen leben. So flossen ihre Worte dahin, die aus einem Herzen kamen, das sich jetzt mit dem alten Liebeserguß wieder öffnete, bis Selwyn mit feuchten Augen erklärte, er werde stets reich genug sein, so lange er ein solches Weib besitze, und könne nun ruhiger in die Zukunft blicken, als er es vor einer Stunde für möglich gehalten.

Das Paar sprach noch lange miteinander. Am Schlusse des Gespräches ward der Dienerschaft angekündigt, ihr Herr werde Geschäfte halber nach Liverpool reisen, und am folgenden Tage verließ er die Towers mit einem Koffer, der richtig nach Norden adressirt war. Einige Tage nachher erhielt Therese einen Brief mit dem Poststempel London, welcher folgende Zeilen enthielt:

»Mein liebes Weib, vergangene Nacht langte ich hier an und kann nun jetzt freier aufathmen. Wimpoln wird im Lauf der Woche bei Dir eintreffen. Ich werde durch ihn ausführliche Verhaltungsbefehle in Betreff Deiner und der Kinder übersenden. Inzwischen halte alles geheim.«

Als diese kummervolle Periode längst vorüber war, schaute Therese noch zurück, wie auf einen entschwundenen Traum, und sie erinnerte sich, wie ein kleiner, schwarz gekleideter Mann mit schlauem Gesichte und feinem Benehmen eines Morgens am großen Thore erschien und sogleich die Zügel der Regierung ergriff; wie sie von ihrem Gatten die versprochenen Verhaltungsbefehle erhielt und weinend über denselben saß; wie die Dienerschaft (welche unglücklicher Weise die bevorstehende Krisis zu argwöhnen begann) in einem Strudel von Aufregung mit mitleidigen, höhnischen, frechen Worten und Geberden, je nach ihrem Temperamente, zusammenlief; wie der derbe Kutscher in der Halle saß, laut fluchte und sich weigerte, auch nur einen Zoll weit sich zu rühren, als man ihm befahl, den Wagen zur Abfahrt der Familie hervorzuholen; wie endlich sie selbst mit ihren lieben Kindern und einem mitleidigen Mädchen zum nächsten Seehafen gefahren wurde, scheinbar um sich nach Liverpool einzuschiffen, in Wirklichkeit aber, um eine von Wimpoln bereits gemiethete Wohnung zu beziehen und dann zu warten, bis dieser thätige Unterhändler seine Geschäfte auf den Towers beendigt haben würde und im Stande wäre, sie und die junge Familie nach London zu geleiten. In der That, jener Tag war ein Tag des Kummers und der Qual für die arme Therese, und die Furcht, trotz der Hast und Vorsicht ihrer Abreise von Gläubigern verfolgt zu werden, erhöhte noch ihr Leid. Sie erreichte indeß die Stadt ohne neue Belästigung, und nachdem sie mit der nächsten Postkutsche das Mädchen zurückgeschickt hatte, übersandte sie ein Schreiben, das Wimpoln ihr mitgegeben hatte, an seinen Bestimmungsort und erwartete ängstlich den Besuch, zu dem es aufforderte.

Gegen Abend trat eine Person in das Wohnzimmer des abgelegenen Gasthofes, in welchem Therese sich einlogirt hatte. Dieselbe erwies sich als eine artige Frau, deren Züge von freundlicher Güte strahlten, als sie die kleine Familie betrachtete. Sie sahen alle sehr ermüdet aus. Anna, die älteste und über ihre Jahre geduldig, lag auf dem fest gepolsterten Sofa und wiegte den kleinen Krauskopf einer jüngern Schwester ein, einer der Zwillingsbrüder schlief auf der rauhen Bettdecke, der andere half seiner Mutter ernstlich, um ein einjähriges Kind zu beruhigen, welches auf ihrem ermüdeten Kniee weinte und zappelte.

»Mrs. Morgan, Madam,« sagte die Frau mit munterer Stimme. Therese hatte schon früher diese Töne vernommen – wo? fragte sie sich verwundert.

»Ich fürchte, ich habe Sie lange warten lassen, obwohl ich so rasch als möglich komme – es sind vier Meilen, Madam, bis Sie meine Wohnung von hier aus erreichen. Wie abgemattet Sie aussehen! Geben Sie das Kind mir, Madam. Ein hübsches Geschöpf! kennt es mich denn? Und kennen Sie mich, kleiner Herr? Die lieben Lämmchen! sie sind sicher ihr Trost in diesem Kummer. O seien Sie heiter, Mylady, vergessen Sie ihr Leid,« sagte tröstend diese aufrichtige Freundin.

Therese war in Thränen ausgebrochen, nicht so fast wegen ihrer gegenwärtigen Prüfungen, als in Folge einer Erinnerung, die in ihr aufblitzte, als sie die Frau mit dem Kind in ihren Armen erblickte. Auf einmal erkannte sie die Gestalt und sah so klar wie gestern die kleine Kirche von St. Anthony, die junge Mutter mit dem Kinde und alles, was nachher an jenem letzten Tage ihres unvergeßlichen Lebens vorgefallen war.

Während sie sich bemühte, ihre Bewegung zu bewältigen, weckte die gute Frau die Kinder auf, half sie in zahlreiche Shawls einwickeln und führte sie dann zu einem seltsam bedeckten Gefährte, das im Hofe stand. Sie entschuldigte sich ob des Fuhrwerkes, indem sie hinzusetzte:

»Sie sehen, Madam, die Kinder sind hier gut aufgehoben; und da es unser eignes ist, so brauchten wir nicht lange zu fragen. Ja, Madam, das Gepäck ist untergebracht. Ich werde sie langsam fahren, obwohl ich fürchte, sie werden etwas gerüttelt werden.«

Gleich darauf fuhren sie im Trabe ab, und bald versanken die Kleinen wieder in Schlummer.

Das Leben hat fürwahr seltsame Contraste, dachte Therese, gerüttelt in einem Gefährte, das so sehr abstach von dem sanft dahinrollenden Wagen, den sie lange ihr Eigen genannt; doch sie hatte gelernt Widerwärtigkeiten ruhig zu ertragen, und sie beachtete die gegenwärtige Unbequemlichkeit kaum. Was sie mit einiger Furcht erwartete, war die lange Reise nach London; schweigend vergoß sie eine Thräne, als sie ihre Verhaltungsvorschriften nochmals überdachte. Selwyn hatte geschrieben, sie müsse bei den Morgans, welche eine abgelegne Hütte am Strande, einige Meilen von der Stadt bewohnten, bleiben, bis Wimpoln bereit sei, sie nach London zu begleiten – sie müsse zur See überfahren, weil sie da nicht verfolgt werden könne, und weil das Schiff einem Bruder Wimpoln's gehöre, der einige Verpflichtungen gegen ihn habe, wodurch die Reise verhältnißmäßig wohlfeil komme; sie müsse sich ermannen und ertragen, was nicht zu ändern sei u. s. w.

Indem sie jedes Wort dieses harten Briefes erwog, der in sichtlicher Eile und Ungeduld geschrieben war, konnte sie nur mit Mühe gewisse bittre Gedanken gegen ihren Gatten unterdrücken; und um ihren Geist davon abzuziehen, versuchte sie es, auf das Geplauder der mittheilsamen Mrs. Morgan zu lauschen.

Aus demselben erfuhr sie bald, daß das gute Weib ihre jetzige Behausung seit den letzten sieben Jahren bewohnte, da ihr Mann sehr bald nach ihrer Heirath eine Stelle unter den Küstenwächtern erhalten hatte, und daß Capitän Wimpoln mit ihr nahe verwandt sei, da er der Gatte ihrer einzigen Schwester war:

»Er ist ein lieber, guter Mann; er wird für Sie und die theuren Lämmchen Sorge tragen, seien sie ohne Angst. Und die Reise brauchen Sie nicht zu fürchten, Madam, sie ist angenehmer auf dem Wasser als in einer Chaise. Ei, ich fahre jedes Jahr auf Besuch zu meiner Schwester, die in Gravesend wohnt, und jene Tage auf der See sind mir ein großer Genuß. Die See ist für mich wie ein alter Freund; fürchten Sie sich ja nicht davor, Madam. Das Wetter läßt sich gerade recht an, und Sie werden ohne Zweifel viel Vergnügen empfinden.«

Inzwischen hatten sie ihren Ruheplatz erreicht; da es bereits zu dunkel war, konnte Therese die Gegenstände rings umher nicht mehr unterscheiden. Als sie aber am folgenden Morgen mit einigem Interesse umherschaute; gewahrte sie, daß das Häuschen hoch oben auf dem steinigen Ufer lag, es war kein andres Haus in Sicht, und die weite See breitete sich in wechselvoller Schönheit aus. Die Stelle war überaus einsam, sie hatte jedoch den Vorzug der Gesundheit, der Neuheit und der Ruhe; und da Therese jenes glückliche Temperament besaß, welches aus jeder Lage das Beste zieht, war sie mit ihrem einstweiligen Aufenthalt zufrieden, bezeigte sich dankbar für eine Zwischenzeit der Ruhe nach so vielem Kummer und sah mit Vergnügen, wie ihre Kleinen die neue Szene voll Fröhlichkeit genossen.

Am Tage nach ihrer Ankunft, als sie am Gestade umherstreifte, erinnerte sie sich, daß ihr gestern auf den Towers ein Brief von ihrer Schwester Marie übergeben worden war; sie zog ihn hervor und fing an, ihn durchzulesen. Er begann mit liebreichen Beglückwünschungen der Leserin über ihr wachsendes Glück. (Therese hatte nämlich gerade zur Zeit, als sie nach Burnside Towers übersiedelten, in die Heimath geschrieben; und es war natürlich, daß sie einigermaßen unter dem Einfluß der damaligen Ueberhebung stand. Als sie jetzt die Worte ihrer Schwester las, setzte sie sich vor dem Häuschen, wo sie Zuflucht gefunden hatte, nieder und hielt im Lesen inne, um zu sinnen und zu seufzen.)

»Ich wünschte,« fuhr Marie fort, »ich könnte Dir von uns selbst gute Nachrichten geben, allein leider kann ich es nicht. Unsre liebe Mutter schwindet sichtlich dahin, sie wird überaus schwach und leidet große Schmerzen; doch sie erträgt alles mit sanfter Ergebung, und es ist klar: das Kreuz, welches sie so lange getragen hat, wird ihr um so lieber, je schwerer es wird. O Therese, in kurzem werde ich Dir wohl schreiben müssen, daß wir keine Mutter mehr haben. Bete für sie und lasse auch die unschuldigen Kleinen, die ich in Liebe küsse, für sie beten; oft spricht sie von Dir und von ihnen.«

Ueber Mr. Croyßly sprach die Schreiberin ziemlich ausführlich.

»Ich kann nicht umhin, Dir zu schreiben, daß nach und nach eine große Aenderung mit ihm vorgegangen ist. Ich glaube, es nagt ein ernster Kummer an seiner Seele, obwohl ich mir keine Ursache denken kann, da alles wie gewöhnlich fortgeht, die Verschlimmerung im Befinden der Mamma hat er schon lange vorausgesehen; sie kann also unmöglich der Grund sein zu seiner fortwährenden Niedergeschlagenheit.«

»*** Auf Deinen Wunsch theilte ich ihm die guten Nachrichten mit, die Dein letzter Brief enthielt, und hoffte insgeheim, er werde darüber Freude bezeigen; allein er läßt Dir nicht den geringsten Gruß sagen. Habe Geduld, theure Schwester; eines Tages hoffe ich, wird er sich gegen Dich benehmen wie früher und Mr. Grice die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die er verdient.«

Therese faltete den Brief langsam zusammen und kehrte in das Häuschen zurück. Mit ihren von der frischen Seeluft gerötheten Wangen sah sie in diesem Augenblick ganz so aus, wie in ihren früheren Tagen; als Mrs. Morgan bei ihrem Eintreten lächelnd aufschaute, wurde sie ersichtlich von einem neuen Gedanken erfaßt, der das ehrliche Gesicht allmählig mit einem verwirrten, aber hinreichend deutlichen Ausdruck überschattete. Therese sah ein, daß eine Wiedererkennung nicht lange vermieden werden könne, und da sie es für's Beste hielt, aus der Nothwendigkeit eine Tugend zu machen, schaute sie der Frau lächelnd in das Auge.

»Ihr denkt eben an etwas Neues, Nanny?«

»Ja, in der That, gnädige Frau, ich denke eben, ich hätte Sie früher schon gesehen. Doch ich studire, wo? und bin noch nicht ganz im Klaren.«

»Erinnert Ihr euch nicht an die Kirche bei D–, wohin Ihr euer erstes Kind zum Taufen brachtet, wo Ihr eine Pathin fandet?«

Nanny strahlte vor Freude bei dieser Wiedererkennung.

»Wie, Miß, Sie sind es? Ja, so ist es. Ei, ei, wer hätte sich träumen lassen, daß ich Sie hier treffen sollte? O wie oft habe ich an Sie gedacht, und wie oft hätte ich gern wissen mögen, ob ich Sie je wieder sehen werde? Ich fragte später in Ihrer Heimath, Miß, da Sie mich nie besuchten, und hörte dort, Sie hätten sich verheirathet und seien nach London fort; doch wer hätte sich wohl gedacht, daß ich Sie hier träfe! O Himmel, ich bin ganz außer mir vor Freude.«

»Wo ist das Kind, Nanny? Habt Ihr mehr?«

»Nur das eine, gnädige Frau, und es ist gesund, Gott sei Dank, und spielt den ganzen Morgen; doch heute habe ich ihn in die Stadt geschickt. Ei, dort ist er unter der Sandbank, er ist noch nicht fort. Willy, komm' hieher, zu mir! Da verbeuge dich vor der Lady – nun wo ist deine Lebensart?«

Mit mütterlicher Sorgfalt stäubte sie den Sand von dem weißen Kraushaar des Jungen, der ihrem Befehl gehorchte und dann scheu sein lachendes Antlitz zu Boden senkte.

»Ist dieß das Kind? Wie die Jahre hinfliegen! Welch' ein liebes, strahlendes Gesichtchen! Ihr müßt ihn närrisch lieb haben?«

»Gewiß!« erwiederte Nanny, nachdem sie den losen Schelm mit dem Kusse, um den er bat, entlassen hatte … Und was mich jeden Tag meines Lebens freut, ist der Gedanke, daß ich ihn ganz für mich habe; es ist dieß mehr, als ich einst erwartete, denn die Mutter meines Mannes – o, wie machte sie sich mit ihm zu schaffen, als er ein Kind war, und wie war sie bemüht, ihn als Protestanten zu erziehen! Wäre ich nicht von ihr fortgekommen, sie würde sicher zwischen meinem Mann und mir Unfrieden gestiftet haben; als er das herausfand, sah er sich um eine Stellung um, die uns von ihr trennte, und so kam es, daß wir hier uns ansiedelten. Ja, das that er, denn er ist ein liebevoller Mann, gnädige Frau, und ein guter Gatte. Ich war erfreut, ihr aus dem Wege zu kommen, obwohl es mir leid thut, daß mein Mann dadurch ihre Kälte sich zuzog. Und er ist ihr einziger Sohn.«

»Ist er unsrer Religion geneigt? Er ließ Euch natürlich das Kind darin erziehen?«

»Ja, gnädige Frau. Er ist ein standhafter Mann, und geht jeden Sonntag in seine Kirche, und manchmal nimmt er auch den Knaben mit, was mich Anfangs aufbrachte; doch er sagt, es geschehe blos, ihm eine gute Gewohnheit beizubringen, und er läßt mich ihn in meine Kirche mitnehmen, so oft ich dahin gehe, was leider nicht oft geschieht, weil sie so weit entfernt ist. Er sagt, wenn der Bursche ein braver Mann wird, mag er der Religion folgen, die ihm zusagt.«

»O Nanny, Ihr habt eine schwere Verantwortung auf Euch. Ich hoffe, Ihr unterrichtet das Kind in seinem Glauben. Man kann nicht zu früh damit beginnen.«

»Das ist wahr, gnädige Frau; und ich versuche mein Beßtes, obwohl ich nur ein armes ungelehrtes Ding bin. Ich hoffe, er wird bald groß genug sein, um selbst in die Kirche zu gehen und dort gute Lehren zu hören. Doch es freut mich überaus, daß ich ihn von seiner Großmutter weg habe. Sie verlangt nach ihm, aber eher will ich mit ihm durch die Felder ziehen, als ihn von mir lassen. Haben Sie meine Schwiegermutter nie in der Nachbarschaft gesehen, als Sie noch daheim waren, gnädige Frau? Sie kannten sie gewiß, die alte Mrs. Morgan mit ihrem schönen Gesichte. Ja, sie kannten sie, denn mein Mann sagt, Mr. Massinger sei gut bekannt mit ihr.«

»Welcher Mr. Massinger?«

»Mr. Bernard, Madam; der junge Gentleman. Morgan sagt, er kam gewöhnlich in ihr Haus und blieb stundenlang bei ihr. Dieß war, ehe ich heirathete; später lebte sie näher bei D–. Ich selbst sah ihn blos einmal bei ihr, und das war ungefähr ein Monat, bevor Willy geboren ward.«

»Ihr irrt Euch, Nanny. Mr. Massinger war zu jener Zeit nicht in der Nachbarschaft. Er war lange in fremden Ländern.«

»Bitte um Entschuldigung, gnädige Frau, ich sah ihn selbst, es ist ein schöner, junger Mann, und er war ungewöhnlich freundlich mit ihr. Sie war damals etliche Tage lang unwohl, und er kam, wie ich glaube, blos, um sie zu sehen. Das ist mein Mann, der mich ruft, gnädige Frau. Er ist meistens Nachts draußen, und so schläft er bei Tage, wie Sie sehen. O du mein lieber Himmel! und so hätt' ich wirklich mit Ihnen selbst gesprochen! O, ich wünschte, Sie blieben einen Monat lang da, anstatt einiger Tage.«

Indeß nicht einmal etliche Tage blieb Therese dort. Am nächsten Morgen sandte ihr Mr. Wimpoln einen Brief, welcher, unter Einschluß, von Selwyn angekommen war, einen Brief, wie er ihn nur unter dem Eindrucke eines tiefen Kummers zu schreiben vermochte – kurz, bitter und verzweiflungsvoll. Man hatte ihn in London ausgespürt, und er wurde so gejagt, daß er seines Lebens überdrüssig war; er war sehr unwohl und überzeugt, eine ernste Krankheit stehe ihm bevor. Der Brief war ersichtlich in tiefem Leiden geschrieben, und Therese, die sich einbildete, ihr Mann läge allein und krank darnieder, gerieth alsbald in untröstliche Aufregung. Kaum konnte sie ihre Gefühle bis zum Abend bemeistern, wo sie einen Besuch von Seite des vertrauten Unterhändlers auf den Towers erwartete; und als sie bei Anbruch der Dämmerung dessen Nahen bemerkte, eilte sie ihm entgegen, und theilte ihm weinend ihren Kummer mit.

Wimpoln sah bestürzt aus und äußerte, auch er hege einige Befürchtungen in diesem Punkte.

»Und ich bin hier, so weit entfernt, während ich an seiner Seite sein sollte!« rief das bekümmerte, unglückliche Weib. »Was soll ich thun? Er wünscht, ich solle auf das Schiff warten, das erst in einigen Tagen absegelt und überdieß so lange braucht – o, ich kann unter diesen Umständen nicht warten. Ich kann wahrhaft nicht, Mr. Wimpoln. Ich muß sogleich zu ihm. Bitte, helfen Sie mir.«

Ihr Zuhörer sann nach; dann sagte er zaudernd:

»Wenn Sie sich entschließen wollten, ohne die Kinder zu reisen, und ein weibliches Wesen fänden, dem Sie selbe anvertrauen könnten, so könnten Sie sogleich mit der Post abreisen; die Kinder könnten auf die Weise nachfolgen, wie Mr. Grice es bestimmt hat. Die Post, welche blos zweimal in der Woche nach London fährt, geht morgen früh ab. Ja, Madam, es ist peinlich, doch was kann sonst geschehen? Das jüngste könnten Sie mitnehmen. Ich glaube nicht,« fügte er freundlich hinzu, während die Pflicht der Mutter und der Gattin in Theresens Brust um den Vorrang stritten, »ich glaube nicht, daß Sie der Kinder wegen besorgt sein dürften, wenn Sie selbe einer Frau Ihres Vertrauens zur Obhut übergeben. Mein Bruder und ich würden uns natürlich glücklich schätzen, für deren Bequemlichkeit und Sicherheit unser Beßtes zu thun.«

»O ich bin überzeugt davon, Mr. Wimpoln, und ich vertraue Ihnen vollkommen. Doch was eine Wärterin betrifft – würde nicht Nanny –«

»Ich dachte eben an sie, und ich wage zu behaupten, sie werde den Auftrag übernehmen. Eine treuere, ehrlichere Seele können Sie nicht finden. Wollen Sie nicht sogleich bei ihr anfragen?«

Demgemäß vertraute Therese ihren Kummer dem guten Geschöpfe, welches zuerst verwundert, dann mit aufrichtigem Antheil zuhorchte.

»So, er ist krank, Madam. Und Sie sind nicht bei ihm, armes Herz! Gewiß, ich werde Ihnen Ihre Bitte nicht abschlagen; denn ich kann sie erfüllen. Ich bin an das Reisen gewöhnt, denn Capitän Wimpoln nimmt mich zur Sommerszeit oft mit auf die See; es wird mich freuen, Ihnen die lieben Lämmchen gesund und sicher nachzubringen. Doch es wird Ihrem armen Herzen schwer fallen, sie zu verlassen.«

Ja, es fiel ihr schwer, und nur die zärtlichsten Befürchtungen in Betreff ihres Mannes konnten Therese zu dieser Anstrengung ermuthigen. Die ganze Nacht lag die arme Mutter unter ihren Kindern – denn die kleine Behausung gewährte nur sehr beschränkte Bequemlichkeit – und als sie auf deren Schlummer lauschte und dem tiefen Brausen der Wogen zuhorchte, fürchtete sie fast, sie habe mehr auf sich genommen, als sie erfüllen könnte. Um ihre Trübsal zu steigern, traf es sich, daß, als sie gegen die Morgendämmerung in einen leichten Schlummer gefallen war, ihr ältester Knabe sehr unruhig wurde und in seinem Schlafe zu weinen begann. Plötzlich fuhr er in die Höhe mit erhitzten Wangen und verwirrtem Haar und schrie laut:

»O Mamma, Mamma!«

»Was gibt es Georg?« fragte die Mutter: »Hast Du geträumt, Georg?«

»O die See und die Wogen! Gib Acht auf mich, Mamma. O die wilde See!« weinte der Kleine in der Aufregung eines kindlichen Traumes.

Der Kleine war bald beruhigt, und schlief mit einem tiefen Seufzer sogleich wieder ein; Therese aber, durch den Vorfall gewaltig aufgeregt, blieb wach und fragte sich ängstlich: War dieß ein Zeichen gewesen, die Kinder nicht zu verlassen?

Als der Morgen sein helles Licht verbreitete, wurde der Eindruck, den der Vorfall auf sie hervorgebracht hatte, schwächer; sie hielt es für Pflicht, zu ihrem Gatten zu eilen, und bereitete sich zur Abreise vor. Dann schickte sie die Kinder an das Ufer hinaus zum Spielen und küßte mit wehem Herzen jedes Gesichtchen, da sie sich den Muth zu einem förmlichen Abschiede nicht zutraute.

»O Nanny,« sagte sie, zuletzt an diesem liebevollen Herzen weinend, »bringe mir die Kinder sicher und gesund, und Gott, der Allmächtige, wird Dich segnen dafür.«

Nanny versprach unter Thränen des Beileids und mit einem herzlichen Kusse Alles, was trösten konnte; Therese nahm hierauf ihr jüngstes Kind, stahl sich zu dem Gefährte, das ihrer wartete, und befand sich bald auf dem Wege zur Stadt.

Dort angelangt, suchte sie den Capitän des Schiffes auf, welches ihre Kinder überfahren sollte, und wurde durch seine freundlichen Versicherungen sehr beruhigt. Der gutmüthige Seemann, gerührt von den Umständen und dem blassen, besorgten Antlitze, begleitete Therese zum Wagen, und sein sicheres Wesen trug sehr dazu bei, ihren fast gesunkenen Muth während der langen Fahrt wieder frisch zu beleben. Sie hatte nicht mehr Belästigungen zu ertragen, als Reisende an solchen Tagen gewöhnlich zu leiden haben, und zur rechten Zeit rasselte der Postwagen durch die geräuschvollen Straßen Londons bis in den Hof des Gasthauses, wo er anhielt.

Sie hatte Selwyn von ihrer Ankunft schriftlich in Kenntniß gesetzt; als sie daher fand, daß Niemand auf sie warte, und auch im Gasthause keine Botschaft abgegeben worden sei, schloß sie, er sei sehr krank – vielleicht bewußtlos, und setzte sich rasch in einen Wagen. Lang erschien ihr die Zeit, die verfloß, bis sie ihren Bestimmungsort erreichte – ein Haus in einer nicht sehr fernen Straße. Als der Wagen hielt, sprang sie heraus und sagte zu der die Thüre öffnenden Magd in aufgeregter Hast:

»Wie befindet sich Mr. Grice? Er ist krank gewesen, nicht wahr? Er wohnt doch hier?«

Das Mädchen starrte sie nämlich ziemlich verblüfft an.

»Ei ja, Madam, er war ziemlich unwohl. Jetzt, meine ich, ist er eben fort, doch ich weiß es nicht genau. Ich will nachsehen.«

»Halten Sie das Kind, gutes Mädchen,« sagte Therese schwach, und bezahlte das Fahrgeld. »Jetzt, zeigen Sie mir sein Zimmer. Ich bin Mrs. Grice.«

Sie stiegen zu dem düstern, engen Zimmer hinauf, Selwyn war wirklich nicht da, und Theresens Herz hüpfte auf in wilder Sehnsucht, zurückzugehen – zurück zu den verlassenen Kleinen.

Die Hausfrau erschien jetzt und erklärte, Mr. Grice sei vor einigen Stunden ausgegangen. War er also nicht krank? Er war vor einigen Tagen unwohl gewesen, doch nicht sehr. Die Lady sah so ermüdet aus – würde sie nicht eine Tasse Thee annehmen, und Betty entlassen, um für das Kind, für das liebe Geschöpf, etwas Gutes zu holen.

Müde und verwirrt nahm Therese diese Anerbietungen an, und als sie sich etwas gestärkt und das Kind eingeschlafen war, legte sie sich auf das Sopha, indem sie auf den ungewohnten Lärm unten in der Strasse horchte und bei jedem Pochen auffuhr. Mr. Selwyn kam indeß erst spät nach Hause. Mit eiligen Schritten kam er die Treppe herauf (da man ihm unten von Mrs. Grice's Ankunft berichtet hatte), und trat in das Zimmer, geröthet vor Ueberraschung und Freude, und vielleicht aus noch anderm Grunde. Sie flog in seine Arme, doch mit dem Vorwurf:

»O Selwyn, wie konntest Du dieses thun?«

»Was, meine Liebe?« fragte er, nachdem er sie mit großer Zärtlichkeit begrüßt hatte. »Bist Du wirklich da? wer hätte dieß erwartet?«

»Ei, ich schrieb ja, daß ich käme. Erhieltst Du denn meinen Brief nicht? Und ich glaubte nach Deinem Briefe, Du seist so krank.«

Aus den nun folgenden Erklärungen ergab sich, daß ihr Brief verloren gegangen sein mußte, und daß er einige Tage wirklich sehr unwohl gewesen; indeß, obwohl er sich bemühte, durch seine mündliche Erklärung den Inhalt seines Briefes zu rechtfertigen, erkannte Therese doch, daß er mit Uebertreibung geschrieben hatte, als er eben unter dem Einfluß gedrückter Stimmung stand. Erfreut über ihre Gesellschaft, die er nicht erwartet hatte, und entzückt von einem so starken Beweise der Liebe, war er in ausgezeichneter Stimmung, und suchte ihre Befürchtungen wegen der Kinder wegzulachen – Befürchtungen, die er in keiner Weise theilte.

»Doch ich bin sehr besorgt um sie, Selwyn, und war deinethalben in der äußersten Angst. Wahrhaftig, es war nicht Recht, mir solchen Kummer zu verursachen.«

»Ei, ich glaube, es wäre Dir Deiner Reise halber lieber, wenn Du mich dem Tode nahe gefunden hättest,« entgegnete er. »Ich erinnere mich nicht, so Arges geschrieben zu haben – was schrieb ich denn? Doch laß es gut sein, meine Liebe; ich habe Dich wieder. Du weißt, ohne Dich ist es mir nie recht.«

»Wahrhaftig, ich glaube, das wird so ziemlich die Wahrheit sein. Ich weiß jetzt, wie ich es das nächste Mal zu nehmen habe. – Im Tafelanzug, Selwyn? wo bist Du gewesen?«

»O irgendwo – im Westende. Die Wahrheit ist, ich – ich traf Annabella und ihre Tochter. Sie sind soeben von Paris zurückgekehrt, und als sie mich so allein und abgestumpft fanden, luden sie mich heute zu Tisch ein.«

»Annabella?« rief rasch die Gattin aus; und jetzt war sie vielleicht froh, daß sie angekommen war.

Selwyn lachte laut über ihren Ausruf und über ihre Bemerkungen und erklärte, sie müsse doch wissen, daß sie hundert Annabellas Werth sei. In Wirklichkeit hatte die erwähnte Lady manches beunruhigte Gefühl bei Therese veranlaßt; denn sie konnte sich den Einfluß nicht erklären, den jenes Weib über Selwyn ausübte – einen Einfluß, der offenbar Jahre lang vor seiner Heirath bestanden hatte. Es konnte nichts von Liebe dabei im Spiele sein, dachte sie, denn die Lady war viele Jahre älter als er, und es stand ihm früher ja frei, um ihre Hand zu werben; doch hatte sie sichtbar einen hohen Platz in seiner Meinung, und Therese hatte sich mehr als einmal bleich abgewandt, als er ihren Reichthum, ihre Schönheit, ihre Bildung und ihre hohe Achtung für ihn mit glühenden Worten pries. Es verbesserte die Sache durchaus nicht, daß sie eine erwachsene Tochter hatte, welche – nach seinen eigenen Worten – mit allen Reizen ihrer Mutter zu wetteifern versprach.

Am folgenden Tage durchging Therese, für die nächste Zukunft besorgt, in einer langen Unterredung mit ihrem Gatten auf's Neue den Stand ihrer Angelegenheiten.

Da sah sie denn, daß er, dessen hochfliegende Sinnesart nichts zu beugen vermochte, zur Vermehrung seiner Schwierigkeiten auch mit der Redaktion einer Vierteljahresschrift, die ihn für literarische Zwecke beschäftigte, gebrochen hatte und so für den Augenblick ohne alle Verwendung war. Baares Geld blieb, nach Bereinigung ausstehender Auslagen, wenig zur Verfügung; er rechnete jedoch auf zwanzig Pfund vom Verkauf einiger Bücher, die er aus seiner Bibliothek auf den Towers mitgenommen und einem Gönner der Literatur übersandt hatte. Auch waren aus dem allgemeinen Durcheinander einige Werthsachen gerettet worden, die mit den Kleidungsstücken der Kinder anlangen sollten; doch damit endeten ihre Hilfsquellen. Es ist kein Wunder, daß Therese nach Beendigung dieser finanziellen Untersuchung ihren Gatten mit einer Angst anstarrte, die nicht leicht zu beseitigen war.

Es blieb ihr indeß zur Erwägung ihrer schlimmen Aussicht nicht viel Zeit, denn ihre kleine Familie mußte ja bald in der Stadt anlangen und bedurfte eines, wenn auch bescheidenen Obdaches. Sie dingte daher eine kräftige Magd – einen rauhen Ersatz für die feine Dienerschaft, über die sie in letzter Zeit geboten – ließ das Kind bei ihr und ging mit Selwyn zu jener Umschau, welche, wie die Eingeweihten wohl wissen, so lästig und ermüdend ist. Da sie keine Geräthschaften hatten, und es nicht wagten, ohne zwingende Nothwendigkeit Etwas von ihrer Baarschaft auszugeben, so beschlossen sie, meublirte Zimmer zu miethen, und suchten nun den ganzen Tag in der Nachbarschaft umher, um eine passende und zugleich wohlfeile Wohnung aufzutreiben, jedoch ohne Erfolg. Die zahlreichen Quartiere, die sie besichtigten, waren entweder zu klein, oder zu gut meublirt, andere nicht für Familie mit Kindern – kurz tausend Schwierigkeiten schienen sich aufzuthürmen zur Qual der armen Mutter, welche gegen Ende des Tages manchmal nahe daran war, laut aufzuweinen, als sie verschiedene Thürschwellen erfolglos überschritten hatte.

Am folgenden Morgen erklärte Selwyn, er habe das Herumlaufen satt und sie müsse es allein versuchen; mit schwerem Herzen trat sie den Weg an, doch nicht lange bedauerte sie ihr Alleinsein; denn sie konnte rascher handeln, als seine anspruchsvolle Gegenwart und sein ungeduldiges Wesen sie nicht mehr hinderten.

Nach langem Suchen fand sie endlich im obern Stocke eines Wirthshauses passende Zimmer. Da dieselben groß und wohlfeil waren, und die Besitzerin als anständige Matrone erschien, so miethete sie die Wohnung unter der Bedingung, daß ihr Gatte damit einverstanden sei. Allein er stimmte nicht zu, als sie ihm von der Lage der Zimmer erzählte und er prüfte ihre sanfte Sinnesart schwer durch die Erklärung, er werde einen so gemeinen Ort nicht betreten, sie solle hinschicken und den Vertrag rückgängig machen. In wenigen Stunden besann er sich indeß eines Bessern und erlaubte Theresen, ihre Koffer in die neue Wohnung zu schaffen. Kaum hatte sie dieselbe bezogen, so wurde sie ernstlich unwohl und war in Folge übergroßer Aufregung und Ermüdung einige Tage an das Bett gefesselt.

Während sie krank darniederlag, war sie überaus besorgt um die abwesenden Kinder, obgleich sie unter der sichern Obhut der Mrs. Morgan standen, und der Zeitpunkt, zu dem sie in London eintreffen sollten, schien ihr sehr lang. Selwyn, der sich immer besonders gütig zeigte, wenn sie krank war, suchte sie zu beruhigen, und ging zweimal ohne Murren auf die Werfte, um die Ankömmlinge zu empfangen; aber jedesmal kehrte er mit der Nachricht zurück, das Schiff sei noch nicht angekommen. Als er sie wegen desselben Zweckes zum dritten Male verließ, war er ziemlich ernst, und sie barg ihr blasses, sorgenvolles Antlitz in den Kissen und dachte, sie wäre nicht im Stande, es zu ertragen, wenn er wieder allein zurückkehren sollte.

Indeß, sie war nicht bestimmt zu dieser Prüfung. Gegen Abend, während sie dalag und zuschaute, wie die rothhaarige, gutmüthige Kitty das Kind in den Armen wiegte und dazu leise ein Schlummerlied summte, unterschied ihr scharfes Ohr Räder, welche langsam die ruhige Strasse unter ihrem Fenster heraufkamen – und wirklich, sie hielten.

»Kitty! ziehe die Jalousie auf und sieh, was es ist.«

»Es ist eine Kutsche, Madam,« berichtete das Mädchen, »und Koffer oben, und ich sehe, wie sie ihre Köpfe zum Wagenfenster herausstrecken.«

»Gib mir das Kind. Schnell. Lauf' hinunter und bring' sie herauf. Gott sei Dank!« sagte sie zitternd. An der plötzlichen Erleichterung ihres Herzens gewahrte sie jetzt, wie schwer die Last der Angst gewesen.

Musik für das harrende Mutterohr war der Lärm, der alsbald sich unten hören ließ – kleine Füße stolperten die Treppe herauf, Kinderstimmen plapperten wirr durcheinander. Sie kommen näher – jetzt sieht sie die Schaar durch die offene Thüre, und sich aufsetzend, öffnet sie weit ihre Arme, in welche Anna fliegt, gefolgt von zwei derben Brüderchen und andern schnell wackelnden Füßchen, während das letzte seine Mutter erkennend, mit einem Schrei der Freude aus den Armen der strahlendes Nanny sich zu winden sucht. Welch' ein Lärm – welch ein Klettern auf das Bett – welche erstickende Küsse seitens dieser süßen, kleinen Lippen! Und dann, welch' ein geräuschvolles Erkennen von Seiten des Säuglings, der bei dem Andrang, lallend und die Händchen ausstreckend, ebenso erfreut scheint, wie jedes von ihnen.

»O ihr meine Kinder, nun bin ich wieder einmal reich. O Nanny,« rief Therese, die würdige Frau an sich ziehend, »wie kann ich es Euch je danken, gute, liebe Seele!«

Darauf antwortete Nanny mit einer herzlichen Umarmung und bat sie, nicht daran zu denken. Sie waren alle so gut, – sie lobte jedes – ohne sie werde jetzt ihr Häuschen so einsam sein.

Als sich die erste Aufwallung etwas gelegt hatte, fuhr Nanny fort, mit wundersamer Weitschweifigkeit Einzelnes zu erzählen, wie es das Herz der Mutter wünschte. Da erfuhr denn Therese, daß sie eine rauhe Fahrt gehabt und einmal umgekehrt hatten.

»Doch sehen Sie, gnädige Frau, es war keine Gefahr dabei, und ich war blos Ihretwegen besorgt, da ich wußte, daß Sie uns erwarteten. Und Kapitän Wimpoln, o, er war die ganze Fahrt über so zärtlich gegen die Kinder.«

»Der Kapitän pflegte mich die ganze Zeit, wo ich krank war, Mama,« sagte Anna.

»Der Kapitän hielt die ganze Zeit meinen Kopf, als er mir wehe that. Und er gab mir mehr Kuchen als dem Paul,« rief einer der Zwillinge, der sich sogleich am Gespräch betheiligte, als er den Namen seines neuen und mächtigen Lieblings hörte.

»Und mir ließ er jeden Tag den großen Affen sehen, Mamma.«

»Gott segne ihn für seine Güte!« sagte Therese. »Ich wünschte, ich könnte ihm persönlich meinen Dank abstatten. Wann verläßt er London, Nanny?«

»Morgen, Madam, muß er wieder fort, und so muß auch ich mit, obwohl es mir leid thun wird, die kleinen Lämmchen zu verlassen. Ermüden Sie sich nicht, Madam? Sie sehen so krank aus, arme Frau. Ich will sie jetzt wegnehmen von Ihnen.«

Die gute Frau mischte sich mitten in den jungen Schwarm, dessen Liebe und Vertrauen sie gewonnen, und nachdem sie viele Vorstecklätzchen umgebunden und viele Löckchen geglättet hatte, führte sie die Gruppe in das anstoßende Zimmer, wo inzwischen Kitty das Essen aufgetragen hatte. Doch als dieß vorüber war, verlangten sie so ernstlich »zur Mamma zurück,« daß sie Nanny wieder auf den Fußspitzen hineinführte, nachdem sie versprochen hatten, sich ruhig zu verhalten, was sie auch drei Minuten lang getreulich hielten.

»Laß es gut sein, Nanny, laß sie spielen. Ich habe wahrhaftig ohne sie Ruhe genug gehabt.«

Etwas später ließen sich die Stiege herauf Tritte hören – es war Selwyn, der an der Werfte zurückgeblieben war, um mit den beiden Wimpoln's über Geschäfte zu sprechen.

»Hier kommt Papa die Stiege herauf, Schätzchen,« sagte Nanny, die wahrscheinlich eine weitre Kundgebung ihrer Gefühle erwartete; diese folgte auch, aber nicht in der Weise, wie sie naturgemäß vermuthet hatte.

Als die Kinder Nannys Ankündigung vernommen hatten, glitten die älteren in Stühle und hielten sich ruhig; die kleineren hingen sich an ihre Schürze, und selbst das jüngste »der Säugling,« der auf dem Bette neben der Mutter saß, vergaß, an dem Kuchen in seinem Händchen fortzuessen und erwartete die neue Ankunft mit stillem, ernstem Gesichte. Der Wechsel war so auffallend, daß er selbst der sorglosen Beachtung Selwyn's nicht entging, der die lebhaften Stimmen unten vernommen hatte; und weil er entweder es mit einer Art Pein bemerkte, oder da er nicht wünschte, einen ungünstigen Eindruck auf die anwesende Fremde zu machen, schaute er rings auf die Kinder mit einer Miene ungewöhnlicher Güte und Freundlichkeit.

»Kommt hieher, meine Knaben,« rief er und nahm die Zwillinge auf seine Kniee. »Nun, Anna, hast Du mir nichts Neues von der hohen See zu erzählen? Warst Du in Furcht? Warst Du unwohl?«

Doch es gelang ihm nicht, sein Töchterchen gesprächig zu machen, sie näherte sich furchtsam und blieb stehen an seiner Seite; die Knaben, je einer an einem Knie, schauten einander mit ernstem Blicke über ihre ungewohnte Stellung an; und Selwyn, ihrer Gesellschaft müde, entließ sie bald in das anstoßende Zimmer, wohin Nanny ihnen folgte und ihre »Lämmchen« mit den glänzenden Pauspacken bequem in die Bettchen legte.

Therese mochte wohl fühlen, es scheide eine ächte Freundin von ihr, als sie am folgenden Tage der guten Frau Lebewohl sagte, deren hastige Abreise zwingend war. Nanny, die nur auf vielfältiges Drängen eine Belohnung für ihre Dienste angenommen hatte, zerfloß in Thränen aufrichtigen Bedauerns, als sie Abschied nahm von der kleinen Familie, welche sie mit Liebkosungen und kindlichen Geschenken überhäufte und ihr das Versprechen abforderte, nächstes Jahr wieder zu kommen.

Sie ging; und Therese, den von einer Kinderschaar auferlegten Sorgen überlassen und nur von einer rauhen Magd unterstützt, hatte jetzt eine harte und ungewöhnliche Seite in das Buch ihrer Erfahrungen einzutragen. Es dauerte lang, bis sich beide an eine so veränderte Lage gewöhnten. Therese hatte Sorge getragen, ihrem Manne das beste Zimmer der Wohnung einzuräumen, und dort versuchte er zu arbeiten; allein da sein Geist schlecht aufgelegt war und nur mit Widerstreben daran ging, saß er oft stundenlang in düstrem Sinnen da, oder er verließ voll Ekel das Zimmer und sagte zu ihr:

»Ich kann nicht länger arbeiten, und sollten wir an den Bettelstab kommen!«

Es ist nicht nöthig, länger bei der Beschreibung, der Stufen zu verweilen, auf welchen die Familie jenen Weg abwärts ging, den so viele beschreiten. Das Elend nahte schrittweise und wurde nur hie und da durch eine vorübergehende Besserung unterbrochen. Die wenigen Kostbarkeiten, welche sie zögernd zurückhielten, verschwanden eine um die andre; dann folgten die besseren Kleider der Kinder, und bald kam die Zeit, wo Therese nicht wußte, wie sie die kleinen Geschöpfe von einer Woche auf die andere nähren und beschuhen sollte. Um diese Zeit war es auch, wo in Augenblicken besonderer Noth ein großer, wegen der weiten Reise sorgsam gepackter Korb anlangte, welcher einen wünschenswerthen Beitrag von Lebensmitteln enthielt; und immer lagen unter dem Deckel irgend eines Topfes eingemachter Früchte einer oder zwei Sovereigns verborgen, welche Therese mit dankbarem Gebete und einem Segen über die zarte Aufmerksamkeit ihrer Schwester Marie in Empfang nahm. Es muß bemerkt werden, daß sie einmal, seit ihrem letzten Fall, einen Brief von ihrem Großvater erhielt. Er hatte gleichsam aus Pflichtgefühl geschrieben und ihrem ältesten Knaben Erziehung und eine Heimath angeboten; allein der Vorschlag fand vor Selwyn keine Gnade und die Art, wie er gemacht war, verletzte ihn tief. Er befahl seiner Gattin, das Anerbieten abzulehnen.

»Ich will Deinem Großvater durchaus nicht verpflichtet sein,« sagte er streng. »Ich hatte nie eine Hoffnung auf ihn gesetzt, und auch meine Knaben sollen es nicht, so lange ich helfen kann. Was Deine Schwester aus Liebe zu Dir und den Kindern thut, mag geschehen, weiteres nicht.«

Als nach etlichen Monaten harter Entbehrung und schweren Kampfes die Lage zuletzt an Verzweiflung grenzte, brach ein kleines Licht über die dunklen Tage jener Periode herein.

Ein Gentleman, ein warmer Verehrer Selwyn's, hatte zufällig von dessen Unglück gehört, und nachdem er den Zufluchtsort, an dem jener begabte Kopf sich verborgen hielt, entdeckt hatte, machte er ihm eines Morgens einen Besuch. Selwyn fand es für gut, unsichtbar zu bleiben; doch Mr. Willows verbrachte eine Stunde schmerzlicher Antheilnahme bei der gebildeten Mutter und den anziehenden Kinderchen, und dieses Bild des Adels in der Noth machte einen unverwischlichen Eindruck auf seine Gefühle und spannte ihn zu den freundlichsten Anstrengungen an. Er hinterließ Mr. Grice eine Botschaft voll achtungsvoller Sympathie; und am folgenden Tage sandte er ihm ein Schreiben, welches Selwyn veranlaßte, seine Aufwartung bei dem neuen Gönner zu machen, der ihm ermuthigende Versprechungen gab. Denselben folgte keine Enttäuschung; denn Mr. Willows brachte es bei der Redaktion einer literarischen Vierteljahrsschrift, wo er großen Einfluß besaß, dahin, daß Selwyn als Mitarbeiter aufgenommen wurde, und zwar mit einem Honorar, das ihn ermuthigte, seine Feder mit dem alten Eifer wieder anzusetzen. Sein gütiger Freund blieb dabei nicht stehen: wohl wissend, daß es schwierig sei, an einem Orte zu arbeiten, wo Mangel an Raum und das Tagesgeräusch störend einwirken, sprach er großmüthig von einem Landhause, das er besaß, und welches er unter den gegenwärtigen Umständen um eine sehr geringe Miethe ablassen wolle. Dieses verführerische Anerbieten wurde nicht zurückgewiesen: Selwyn wünschte nichts mehr als strenge Zurückgezogenheit, wenn er nicht hervorragend glänzen konnte, und Theresens gesunkner Lebensmuth lebte von neuem auf bei der Aussicht, die Kinder wieder einmal im frischen Grün und unter Blumen spielen zu sehen. Ein bedeutendes Hinderniß war noch vorhanden, sie hatten keine Einrichtung; doch auch dieses wurde durch die thätige Güte des Mr. Willows zum Theil beseitigt, und so trafen sie voll Freude die nöthigen Anstalten zum Abzug nach dem neuen, unerwarteten Zufluchtsort.

Ihre Vorbereitungen wurden für eine kurze Zeit durch den folgenden Vorfall unterbrochen.

Unter Selwyn's wenigen persönlichen Freunden befand sich ein Gentleman, der gleich ihm Literat war, und diesem Stande zur Zierde gereicht haben würde, wäre sein Fleiß seinen Fähigkeiten gleichgekommen. Dieser kam nun eines Morgens mit einer Miene, die nicht geringe Sorge verrieth, eilig zu Selwyn und erklärte, er bedürfe dringend seiner freundschaftlichen Hilfe – er dürfe sie nicht verweigern.

»Du weißt, daß ich bereit bin, Dir gefällig zu sein, Warner, alter Bursche,« entgegnete der andre. »In welche Patsche bist Du jetzt gerathen?«

»Ei sieh, Grice. Du weißt, daß ich jetzt jenes Ding, jene Biographie von – für Bowes fertig haben sollte. Er erwartet sie bestimmt und hat bereits in den Blättern angekündigt, sie werde diesen Monat erscheinen – und ich, ich habe noch gar nicht daran gearbeitet – kaum einen Entwurf gemacht.«

»Ei der Tausend! Und es stand Dir so reichliche Zeit zu Gebote!«

So war es auch; aber dieser Mann mit seinem glänzenden Geiste, dieser gewandte Schriftsteller war unglücklicher Weise einem Fehler ergeben, der die Kraft des schönsten Geistes unvermeidlich untergräbt und so Manchen, der zu »Ehren und Würden« bestimmt war, bis in den Staub erniedrigt: er trank und war gewohnt, in Gesellschaft von Zechbrüdern, unter denen er als glänzender Stern der Unterhaltung schimmerte, Nächte hindurch seine Kräfte zu verwüsten.

»Wie viel hast Du denn gearbeitet? Heraus damit,« sagte Selwyn, seinen Freund betrachtend, der trostlos einen Augenblick nachdachte, dann in Lachen ausbrach.

»Nun, eine glühende Einleitung und die Hälfte des ersten Capitels – nichts weiter! Doch ich will Dir sagen, was ich sonst noch gethan – ich habe ausgezeichnete Autoritäten gesammelt und zahlreiche Notizen aufgespeichert. Geh mit mir nach Hause, Grice, und sieh sie an; sie liegen bereit für Deine Hand. Sei ein guter Bursche und hilf mir, denn ich kann mir nicht mehr helfen und bin verloren, wenn Bowes dieses Mal getäuscht wird. Du weißt, ich bin gedrängt: Beim Jupiter! ich muß über Hals und Kopf arbeiten.«

Selwyn ging mit ihm; und nachdem die Freunde mit einander übereingekommen waren, kehrte er heim, um Theresen zu erklären, weßhalb sie einige Tage länger in London zurückgehalten würden. Er schloß sich dann zu strenger, ununterbrochener Arbeit in den Winkel eines ruhigen, den Literaten bekannten Wirthshauses ein, wo ihm Warner ängstlich mit gelegentlichem Beistand an die Hand ging, und auf den geringsten Wink die besten Leckerbissen im Lande schweigend herbeischaffte. Nach Ablauf einer Woche kam Selwyn hervor, verstört und ermüdet, aber zufrieden: das Werk wurde zur rechten Zeit vollständig abgeliefert; Warner wurde als der Verfasser eines sehr tüchtigen literarischen Erzeugnisses gerühmt, und sein Freund erhielt die Hälfte des Honorars. Man argwöhnte in den Cliquen, wo man die Neuigkeiten zu »erzählen« pflegte, wenig, unter welchen Umständen die hochgeschätzte Biographie von – geschrieben worden war.

Nachdem dieses kleine Geschäft abgethan war, begann »die Familie in bestem Ernste auszufliegen.« Der folgende Tag fand Alle bereit: ein Wagen mit den Gerätschaften fuhr früh am Morgen voraus, Selwyn ging zu einem Mahle, das lustige Freunde Warner zu Ehren seines letzten literarischen Erfolges gaben, die Kinder wurden mit aller Geschicklichkeit, die ihrer Mamma und Kitty zu Gebote standen, in eine Kutsche gepackt; trotzdem glich das Gefährte einer Schachtel voll unruhiger, lebhafter Köpfe. Die Hausherrin kam zur Thüre heraus voll Betrübniß, von dem kleinen Völkchen scheiden zu müssen, dessen Füßchen so oft in ihr Sprechzimmer getrampelt waren – in die früh entdeckte Vorrathskammer von Kuchen und Süßigkeiten, womit die gutmüthige Matrone die Kleinen häufig beschenkt hatte.

»Lebt wohl, ihr Lieben. Leb' wohl, Nelly, mein hübscher, kleiner Schatz! Gott segne Sie, Madam, und sende Ihnen glückliche Tage – denn Du hast sehr trübe gehabt, armes Ding,« fügte die Frau in Gedanken hinzu, als die Kutsche das sanfte Antlitz entführte, das ihr vom Wagenfester aus zulächelte.

»Dank Dir, gute Seele! Ich fand mehr Trost und Achtung bei Dir, als ich bei Hunderten in unsrer Trübsal gefunden haben würde,« murmelte Therese.

»Was gibt es, Anna? Warum weinst Du?« fragte sie kurz darauf; denn das Kind saß still da, mit einer großen Thräne auf jeder ihrer schönen Wangen.

»O Mamma, wir fahren eben an dem lieben Platz vorüber,« erwiederte sie und verbarg ihre Augen, worauf die Mutter mit plötzlichem Leid den Sinn ihrer Worte verstand und ebenfalls ihren Blick abwandte.

Sie fuhren an der katholischen Kirche vorüber, welche ungefähr eine Meile von ihrer letzten Wohnung entfernt lag, und wohin Anna täglich gegangen war, von einem Sonntag an, dessen sie sich während ihres ganzen spätern Lebens erinnerte. Die Sache verhielt sich folgendermaßen:

Es war ein heißer, schöner Nachmittag, und Anna war gemäß eines seit langem gegebenen Versprechens von Kitty spazieren geführt worden. Auf ihrem Heimweg kamen sie zufällig an der Kirchenthüre vorbei, und Kitty, der Sonne überdrüßig und von der Musik angezogen, ging hinein und verweilte in unwissender Neugier einige Zeit darin. Es wurde gerade der Segen gegeben, für Anna etwas Fremdes. Das Kind hatte selten ein Gotteshaus betreten, und war nur bei feierlichen Gelegenheiten im Wagen zu der fernen Kirche mitgenommen worden, welche ihre Mutter während ihres Aufenthaltes auf den »Beeches« zuweilen besucht hatte. Daher war für Anna die Kirche, der strahlende Altar, die Orgel mit ihren feierlichen und schwellenden Tönen etwas ganz Neues. Nun begann die lauretanische Litanei in einfacher, süßklagender Weise; während die Stimmen der knienden Versammlung durch die heiligen Räume erklangen, schloß das Mädchen die Augen, lehnte den Kopf an den rauhen Shawl der Magd und schien in einen himmlischen Traum versunken, bis der Gesang vorüber war.

Dann wurde die Benediction ertheilt, und wer kann sagen, welcher Segen, welche Gnaden in das Herz des ernst schauenden Kindes sich herabließen.

»O Kitty, laß uns an diesem lieblichen Orte bleiben. Nur eine kleine Weile!« flüsterte sie, als die Leute anfingen sich zu entfernen.

Und wieder –

»Laß mich dort niederknieen, liebe Kitty,« auf eine Seitenkapelle weisend, welche besonders glänzend und still erschien; und indem sie sich dorthin stahl, kniete sie vor der Statue der Mutter mit dem Kinde nieder. Ohne Zweifel sieht auch das Urbild mit Huld auf die kleine Gestalt, die zu seinen Füßen liegt, und nimmt das sehnsuchtsvolle Herz, das seine Wünsche stotternd ausspricht, zärtlich in Schutz.

Doch Anna's wonnevolle Ruhe wurde bald rauh gestört; denn Kitty kam, um mit mahnendem Stoß zu flüstern, wie schrecklich böse der Papa sein würde, wenn sie nicht heimkämen.

»Wie weit ist von hier nach Hause? Glaubst Du, ich kann selbst hiehergehen?« fragte das Kind, während sie forteilten.

»Natürlich kannst Du es? Bitte die Mamma um Erlaubniß,« sagte Kitty; Anna folgte dieser Aufforderung und erhielt die gewünschte Zusage, als die Mutter sah, daß die Straße gerade und sicher sei.

Von da an war das kleine Mädchen eine eifrige Pilgerin zur Kirche. Sie entdeckte bald die tägliche Messe um neun Uhr und die andern Verrichtungen; manchmal nahm sie ihre Brüder, manchmal die trabende Nelly mit, noch öfter ging sie allein hin und vergaß jede Entbehrung an der Stelle, die so voll Anziehung und Ruhe war. Kein Wunder, daß das liebe Kind jetzt mit schmerzlichem Bedauern die Nachbarschaft verließ. Als Anna das erste Mal von dem beabsichtigten Abzug sprechen hörte, hatte sie ihre Mutter ängstlich gefragt, ob die neue Wohnung in der Nähe einer Kirche sei? worauf Therese, die damals gerade verdrießlich war, ziemlich rasch erwiderte: »Nein, sie ist viele Meilen weit weg.« Es würde sie wohl tief geschmerzt haben, hätte sie den Eindruck lesen können, den ihre barsche Antwort auf die kleine Tochter hervorgebracht hatte. Das Kind fühlte instinctiv, daß der Punkt, der ihm selbst so nahe an's Herz ging, für die Mutter von wenig Interesse war. Doch wie kommt dieß? Konnte Therese so viele feste und aufrichtige Vorsätze vergessen? Konnte sie in ihren religiösen Pflichten nachläßig werden? Ach, beachte die Schwierigkeiten, die ihr eben jetzt im Wege liegen. Sie war lange Zeit zu ärmlich gekleidet, die arme Lady, um an einem Sonntage ohne die tiefste Demüthigung außer dem Hause zu erscheinen: Selwyn konnte es nie ertragen, wenn sie abwesend war, solange er im Hause weilte, und gereizt von seinem Mißgeschick, war er fast grausam gegen die Kinder, sooft sie nothgedrungen das Haus verließ: überdieß fuhr die kleine Haushaltung überaus schlimm, wenn sie auch nur eine Stunde lang der Aufsicht der edlen Kitty überlassen war, und Hausmütter wissen, daß der Name der erwähnten Prüfung Legion ist. So kam es denn, daß Therese, entmuthigt von vielen Drangsalen, überaus ängstlich, ihrem Gatten zu gefallen und den häuslichen Frieden zu erhalten, der so leicht gestört werden konnte, immer mehr den erwähnten Schwierigkeiten nachgegeben und seit ihrer Rückkehr nach London wirklich selten eine Kirche betreten hatte. Selbstvorwürfe machte sie sich darüber unzählige. Und ach! stieg nicht zuweilen vor ihr ein Bild auf – von Sorgen, welche noch bitterer waren als ihre eignen, die durch Ergebung und fromme Uebungen gemildert wurden – von einem Vater, der seine Kinder bei Zeiten zu ihren religiösen Pflichten anleitet – von einem Gatten, also einem Gehilfen, der den schwächeren Theil auf der Bahn des Lebens ermuthigt und nicht, wie es in der Wirklichkeit geschah, noch mehr niederbeugt. Fürwahr, diese Gedanken hatten ihre Augenblicke der Herrschaft und erfüllten ihre Seele mit Bitterkeit; aber stets verbannte sie dieselben mit dem Versprechen: »Es wird nach und nach besser werden. Ich will meine Pflichten erfüllen und dann regelmäßiger sein.« Allein sie befand sich in der Gewalt jener erstarrenden Finger, die solche Entschlüsse leicht vereiteln. Und jetzt fährt sie einem Wohnort zu, der Meilen weit von einer Kirche entfernt ist, ohne schon lange hintangesetzte Pflichten zu erfüllen.

Kehren wir zu der Kutsche zurück. Als sie so dahinrollten, betrachtete Therese ihre Tochter mit betrübtem Auge, und suchte unter Liebkosungen ihren Muth wieder zu heben, durch das Versprechen, Kitty werde sie an schönen Sonntagen über die Felder zur Kirche führen, ihre Brüder würden bald alt genug sein, um sie zu begleiten, und vielleicht würde sich gelegentlich in dem Gefährte eines freundlichen Nachbars ein freier Sitz für sie finden. Durch diese Versicherungen endlich wieder fröhlich gestimmt, lächelte das Kind seiner Mutter zu und vergaß zuletzt über die Vorfälle auf der langen Fahrt seinen Kummer. Es ging durch die Stadt, die dichtbevölkerten Vorstädte, dann über Landstraßen, die nur spärlich mit Häusern besetzt waren; nachdem man in einem Dorfe übernachtet hatte, fuhr man wieder weiter zwischen Hecken von anscheinend endloser Ausdehnung. Therese hatte nie, selbst nicht in ihrer früheren Heimath, der Grange, so rauhe, stille und abgelegene Wege gesehen. Nach einiger Zeit trafen sie einen kleinen Burschen und fragten ihn um den Weg nach Woodhouse, wie ihr neuer Wohnort hieß. Der Bursche schien begriffen zu haben, denn er antwortete:

»Seid Ihr die neuen Ankömmlinge? Ganz recht; meine Mutter hält das Haus für Euch bereit. Fahrt ungefähr zwei Meilen weiter, und Ihr werdet zu einem Hause kommen und dann zu einem andern, und das ist das Eure.«

Dieser Weisung folgend fuhren sie an einem großen Hause vorüber, worauf sie sogleich zu einem weitern kamen, das Alle als ihre künftige Wohnung mit Interesse betrachteten. Sie fuhren durch ein großes, knarrendes Thor einen langen, schallenden Kiesweg hinauf und hielten an einer Flucht steinerner Stufen, die zum Haupteingang führten. Eine Frau schaute zu einem Erkerfenster an der Seite des Hauses heraus, und eine hölzerne Treppe, um welche Geißblatt und Epheu wildartig sich schlangen, herabsteigend, kam sie lächelnd und mit einer Verbeugung auf die Ankömmlinge zu. Sie entschuldigte sich, daß sie das Thor nicht geöffnet hatte, und indem sie die Reisenden auf dem Wege, den sie gekommen war, in das Haus einführte, sah Therese sich und die kleine Schaar in einem Seitenzimmer, das auf den Hof und den Garten ging – ein freundliches Zimmer, wohin die Frau in gütiger Vorsorge aus ihrer eignen Behausung Stühle und Theezeug geschafft und ein Mahl bereitet hatte, zu dem sich die Reisenden bald fröhlich niederließen. Während die Frau die neue Gesellschaft mit geschwätziger Geschäftigkeit bediente, erklärte sie, daß sie und ihre Familie die nächsten Nachbarn seien und ein kleines Häuschen unmittelbar hinter dem Herrensitze bewohnten.

Therese war darüber um so mehr erfreut, da sie bald bemerkte, daß sie nun einen abgelegnen Ort zu bewohnen hatten und vom häufigen Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten seien.

»Doch gleichviel, wenn wir nur gesund sind und in Frieden leben,« murmelte sie, mit Vergnügen auf das Gelächter der älteren Kinder lauschend, die vom Essen weggesprungen waren, um den neuen Platz auszukundschaften, und nun auf dem Hofe sich umhertummelten, oder mit lustigem Schreien aus verschiednen Gesträuchen hervortauchten, in welche sie sich wiederholt »verloren« hatten.

Als sie durch die Zimmer schritt, und voll Zufriedenheit von verschiednen Fenstern aus die Grundstücke überschaute, gewahrte sie, daß dicht am Hause ein ausgedehnter Garten sich befand, der Gebüsche und Bäume enthielt, welche nach der Versicherung der Mrs. Rogers die köstlichsten Früchte trugen. Es schien, als sei das Haus seit einiger Zeit unbewohnt gewesen, und obwohl es wieder erträglich hergerichtet war, hatte es doch ein sehr düstres Ansehen.

»Wir werden blos die Hälfte davon bewohnen können,« sagte Therese zu sich selbst, an ihre magere, mit so großer Schwierigkeit angeschaffte Einrichtung denkend. Und wahrhaft kärglich sah die Geräthschaft aus, als bald darauf der Meubelwagen erschien und zum Ausladen die Treppe hinanfuhr. Unter einem Anflug gedemüthigten Gefühls und mit dem geheimen Wunsche, ihre dienstfertige Nachbarin möchte nicht anwesend sein, konnte sie die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die Geräthschaften blos zur Befriedigung ihrer augenblicklichen Bedürfnisse bestimmt seien. Die herzliche Antwort der Frau beschämte sie.

»Lassen Sie es gut sein, Madam, Ihre Kinder sind die beste Ausstattung.«

Als das Auspacken beendet war, wurde das Haus wohl verschlossen, und Mrs. Rogers zog sich zurück, indem sie einen ihrer Söhne beorderte, bei der Familie, die sich in dem großen Raume unheimlich fühlte, zurück zu bleiben. Als die Kinder in die eilig aufgeschlagnen Betten gelegt waren, entließ Therese die ermüdete, obwohl willige Kitty zur Ruhe, und während sie die Ankunft ihres Gatten erwartete, beschäftigte sie sich leise mit dem wirr durcheinander liegenden Hausgeräthe, um sich wach zu erhalten. Bald fühlte sie große Ermattung, und indem sie sich niedersetzte, die Hände auf ihren Knieen zusammengefaltet, lauschte sie sinnend auf die Stille der Sommernacht, die nur von dem Schnarchen ihres stämmigen Wächters in der Küche unterbrochen ward. Wie sie so dasaß, flogen ihre Gedanken von der Gegenwart zur Vergangenheit zurück, und der Gegenstände, die sie umgaben, völlig vergessend, gedachte sie jener unschuldigen Tage, welche der Begegnung mit jenem vorangegangen waren, der den Lauf ihres Lebens so verändert hatte.

Sie sah sich selbst wieder in jenen Jahren, wo sie ihre religiösen Pflichten noch genau erfüllte; sie sah ihre liebreiche, gute Schwester Marie; doch die Hauptfigur in dem Gemälde war ihre Mutter mit einem Leben so voll von Leiden, so reich an Tugenden. An diese theure Mutter hatte sie oft gedacht unter Selbstvorwürfen, die sie doppelt peinlich empfand, seit dem sie selbst Mutter geworden war und zu fühlen vermochte, welch ein stechendes Weh ihrem Herzen bereitet würde, wenn je eines ihrer geliebten Töchterchen ohne Veranlassung ungehorsam oder unaufrichtig sein sollte. Wie unnatürlich war ihre Aufführung zur Zeit der großen Prüfung ihres jugendlichen Herzens – was mußte ihre still duldende Mutter um ihretwillen gelitten haben – ach, warum hatte sie ihr solches Leid verursacht? Sie konnte doch nur einmal eine Mutter haben. In letzter Zeit waren auch ihre Briefe in die Heimath zurückhaltend und kurz, da es ihr widerstrebte, Drangsale zu berichten, und ihre Freunde nicht bis in's Einzelne wissen sollten, wie hart das »Loos« war, das sie eigensinnig selbst gewählt hatte. Doch sie wollte wegen solcher Vernachlässigung nicht weitere Vorwürfe leiden; sie wollte sogleich einen langen Brief voll Liebe und Vertrauen für ihre Mutter vorbereiten, ihr die neue ländliche Heimath schildern und in Zukunft die Sympathie suchen, welche obwohl oft mißachtet, ihr stets gesichert war.

Träume zu, Therese. Das theure Herz, dem du ein schmerzlicher Dorn gewesen, ist jetzt unempfindlich gegen deine zarten Gefühle. Es ist zu spät für Dich, wenigstens in dieser Welt, das verübte Leid wieder zu sühnen.

So nachsinnend, empfand Therese plötzlich das Gefühl, als ob ein Stoß kalter Luft an ihr vorüber ziehe, der ihren ganzen Körper durchfröstelte. Im selben Augenblick hörte sie in ihrer unmittelbaren Nähe einen Ton, den sie blos als ein sanftes Flügelschlagen beschreiben konnte, und indem sie zum Fenster blickte, glaubte sie oben auf den Fensterläden eine große Schwinge zu sehen, die im Mondlicht weiß erglänzte und gegen das Glas andrückte. In plötzlichem Schrecken wandte sie sich um und schnappte nach Athem, um laut zu schreien, doch da vernahm sie mit unbeschreiblicher Erleichterung Selwyns kräftige Stimme unter dem Fenster, und hörte, wie sein Stock gegen das hölzerne Stiegengeländer rasselte. Ein Moment genügte ihr, die kurze Strecke zur Küche zu durcheilen, den jungen Burschen aufzuwecken und die Thüre zu öffnen, zu welcher, von ihren Stimmen geleitet, ihr Gatte herankam. Er hatte bis zum nächsten Dorfe einen Wagen genommen, hatte dort die Carriolpost, die an ihrem neuen Wohnsitze vorbeifuhr, erwartet und war außen am Thorgitter abgestiegen. Als sie ihn jetzt eintreten sah, erfrischt vom Nachtwinde, eine Gestalt der Kraft und Männlichkeit mit einem schönen Schinken, den er auf dem Wege gekauft hatte und an einem Stocke über den Schultern trug, begrüßte ihn Therese mit einer Freude und Liebe, welche noch aus den alten Tagen stammte, die ihre Gedanken soeben beschäftigt hatten. Er befand sich in bester Laune, denn er hatte im Reisewagen treffliche Gesellschaft getroffen und war über die ihm zur Verfügung gestellte Landwohnung erfreut; so würdigte er, nachdem der Bursche entlassen war, ihre Blässe einer freundlichen Bemerkung und fürchtete, sie sei durch die Anstrengung des Tages übermüdet.

Sie berichtete ihm zur Antwort den Schrecken, den sie eben gehabt hatte.

»Bah!« sagte er. »Wahrscheinlich hast Du Dich nach Deinen Anstrengungen erkältet; und das Geisterartige, das Du gesehen, war nicht mehr und nicht weniger als eine Fledermaus, meine Liebe. Das garstige Thier flatterte um meine Ohren, als ich den Fahrweg heraufging. Wir werden in diesem alten Gebäude wohl noch viele sehen.

Der Gegenstand schien seine Phantasie in Anspruch zu nehmen, denn während er das bereit gehaltene Nachtessen zu sich nahm, scherzte er über ihre Furcht, und behauptete, das alte Gebäude sei ohne Zweifel blos deßhalb so wohlfeil angeboten worden, weil es darin spucke, und erzählte ihr einige lächerliche Geistergeschichten. Aber er nahm die Sache nicht mehr so leicht, als nach einigen Tagen ein Brief von Marie eintraf, der die Nachricht vom Tode der Mrs. Croßly enthielt. Sie war gestorben, wie eine Heilige stirbt; und ihren eigenen Schmerz vergessend, suchte die Schreiberin den der abwesenden Tochter zu mildern, indem sie die Ergebenheit, mit welcher die Gesegnete geschieden war, ausführlich beschrieb und die Aufträge der Liebe und Ermuthigung wiederholte, welche die Mutter hinterlassen hatte. Dieser Brief trug ein früheres Datum; aber weil er an ihre letzte Wohnung adressirt war, so wurde er an die Poststation gesendet, die Woodhouse zunächst lag, gemäß Selwyn's Wunsche, und blieb dort liegen, bis er nachfragen ließ, ob Briefe für ihn angelangt seien.

Therese beweinte ihre Mutter, die so durch einen widrigen Zufall ohne ihr Wissen gestorben und begraben worden war, auf's Innigste; doch ihr Kummer mischte sich mit heiliger Scheu, als sie bei Vergleichung der Daten fand, daß Mrs. Croßly genau zu derselben Zeit verschieden war, als sie an jenem ersten Abend allein auf Woodhouse saß. Diese schauerliche Erinnerung verstörte sie so, daß sie es Monate lang nicht über sich brachte, nach der Dämmerung allein im Sprechzimmer zu bleiben. Auf Selwyn machte der Vorfall gleichfalls einen tiefen Eindruck; gleich vielen Personen seines Temperamentes hatte er eine unbesiegbare Furcht vor dem Tode und den Geheimnissen, die jenseits desselben liegen.


 << zurück weiter >>