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In einem prunkvoll ausgestatteten Zimmer, dessen schwere Vorhänge ein sanftes Dämmerlicht verbreiteten, und jeden äußern Lärm, der die aristokratische Ruhe stören könnte, bis zu sanftem Gemurmel dämpften, liegt auf weichem Flaumenbette ein Mann krank darnieder, der jung aussehen müßte, hätte nicht ein ungeregeltes Leben und ein gedrückter Geist dem noch immer schönen Antlitz einen verstörten Ausdruck verliehen. Er war von einem feurigen Pferde abgeworfen worden: die Kunst der Aerzte hatte ihr Möglichstes geleistet, und prophezeite jetzt, er werde bald und nur mit leichten Spuren des erlittenen Unfalls von seinem Krankenlager sich erheben. Doch müsse er, fügten die Aerzte hinzu, seinen Geist in Ruhe erhalten und Alles vergessen, was die so reizbaren Nerven aufregen könnte, wenn er wünsche, daß die gewichtigen Vorhersagungen sich verwirklichten. Ein Rath, dessen Befolgung dem Kranken äußerst schwer fiel. Zum Beweise dessen sehe man auf das glänzende Haar, das jetzt von den Bewegungen des unablässig ruhelosen Kopfes hin und her geworfen wird; man sehe auf die großen, unruhigen Augen; man beachte das Zittern des Mundes, den ein düstrer, weibisch süßer Zug umspielt, während er mit mürrischem Ekel eine Schale köstlichen Getränkes von sich weist, welches die Wärterin mit erheuchelter Sorgfalt ehrfurchtsvoll seinen Lippen nähert. Ach, eine andere, eine unsichtbare, aber immer gegenwärtige Schale berührte seine Lippen, und die bitteren Tropfen senden Angst in sein Herz und Fieber in sein Blut, während er sie auszuschlürfen sucht und doch immer voll findet.
Während er den sorgenvollen Kopf ruhig hält und zu schlummern scheint, klopft es leise an die Thüre: die Wärterin geht mit geräuschlosen Schritten hinaus, und ein Geflüster von Fragen und Antworten unterbricht beinahe die Ruhe des Krankenzimmers. Sie schleicht sogleich wieder herein, und da sie gewahrt, daß ihr Patient nicht schläft, sondern mit großen Augen sie anstarrt, nähert sie sich, um ihm zu sagen, eine Person – eine Frau – sei unten an der Treppe, und verlange ihn zu sehen – sie wolle sich nicht abweisen lassen – sie sage, er müsse dieses Papier haben. Sie zeigte ihm ein Couvert, das er mit nervöser Hand ergriff, und als er deutlich die Worte:
»Elisabeth Morgan«
geschrieben sah, sagte er:
»Führe sie sogleich herauf und ziehe dich zurück.«
Die Frau verschwindet (nicht ohne eine Miene beleidigten Stolzes), und die andere tritt ein – eine Person von matronenhaftem Aussehen, mit gebieterischer Gestalt und einem Antlitz, dessen schöne Züge die Zeit nicht verwischt hat, obwohl ihr Haar schneeweiß ist. Sie wirft auf den Kranken einen festen Blick aus ihren scharfen, grauen Augen, und indem sie herantritt, um seine schweißbedeckte Stirne zu küssen, fragte sie, ob es besser gehe? Er hatte sich bei ihrem Eintreten auffallend belebt, und indem er jetzt ihre beiden Hände hält, beantwortet er mit einem Ausdruck von Zuneigung ihre Fragen. Hierauf betrachteten sich beide schweigend; dann sagte er zaudernd und mit schwachem Lächeln:
»Sagen Sie mir, Mutter, kommen Sie aus bloßer Liebe hieher?«
»Theilweis ja, Bernard.«
»Und vielleicht, weil Sie dachten, ich möchte im Delirium liegen und ein bischen ausplaudern?«
»Theilweis ja,« erwiederte sie abermals.
Er lachte, obwohl mit einiger Ungeduld.
»Welch andere Gründe hatten Antheil, Sie zu dieser langen Reise zu drängen? Kommen Sie, Mutter, seien sie offen.«
»Bernard, ein Krankenbett ist eine Prüfung der Schwäche in jeder Hinsicht. Dieß bedeutet genug.«
»O, Sie dürfen keine Furcht haben; dieß ist nicht der härteste Stoß, den ich erlitten habe, und ich bin nicht Willens, ihm zu weichen. Wie? einen betrügerischen Pfaffen zu mir rufen und wieder zu Albernheiten greifen, weil ich hieher geworfen bin,« dabei schlug er auf sein Kissen, »für etliche Tage? Fürchten Sie deßwegen nichts!«
Er seufzte infolge des Schmerzes, den seine Heftigkeit ihm verursachte, und fügte einige gottlose Verwünschungen hinzu.
»Erschöpfen Sie Sich nicht,« sagte ruhig seine Besucherin. »Ich glaube Ihnen gewiß; es ist natürlich, daß ich zu wissen wünschte, wie die Sachen stehen, und jetzt sehe ich es. Was mein Kommen betrifft, so wäre ich in jedem Fall selbst vom Ende des Königreiches gekommen, Sie zu pflegen.«
»Ja, ich weiß, Sie würden es,« entgegnete er und küßte gleich einem Knaben ihre Hand.
»Jetzt sind Sie müde und dürfen nicht länger plaudern. Sie sehen sehr krank aus, Bernard; doch bald werde ich Sie wieder kräftig sehen! Eine Frage noch – was werden Sie mit jener Frau anfangen, die, wie es scheint, ihre Wärterin ist?«
»Ich weiß es nicht – es steht ganz in Ihrem Belieben. Klingeln Sie, bitte, Mutter, mit jener Glocke.«
Dem auf dieses Zeichen eintretenden, elegant gekleideten Bedienten erklärte er, daß seine Pflegemutter, die so gütig gewesen sei, zu kommen, von nun an im Zimmer bleiben werde, und deßhalb die Wärterin zu entlassen sei.
»Thu' es artig, Jankins. Gib ihr alles, was sie verlangt, und schicke sie fort. Und – somit kannst Du gehen.«
Unter der emsigen Pflege seiner neuen Wärterin machte Bernard Massinger in seiner Genesung rasche Fortschritte, und bald war er im Stande, auf einem prächtigen Lehnsessel auf das Leben zu schauen, mit dem Interesse, wie es ein so blasirter Geist fühlen konnte. Dieser schwache Mann, der unter dem Drucke einer gewaltigen Versuchung verleitet worden war, die Gebote der Gerechtigkeit und der Religion zu vergessen; der sich selbst um seine Jugendliebe bestohlen und einen scharfen, schmerzenden Dolch in das Herz gestoßen hatte – dieser schwache Mann war wie Saul die Beute eines finsteren Geistes, der von Zeit zu Zeit über ihn kam, ihn dem nämlichen Wahnsinn nahe brachte und zuweilen in einen Zustand versetzte, in welchem er Tage lang in ununterbrochener Einsamkeit verbrachte oder in der wildesten Ausgelassenheit Erleichterung suchte. Während der körperlichen Ermattung, die seine Genesung begleitete, ergriff ihn diese Aufregung oft, und Stunden lang saß er düster, sinnend oder leise weinend da; und davon konnte ihn selbst die Anwesenheit der Person nicht abhalten, die durch besondere, noch unerklärte Umstände großen Einfluß auf ihn zu besitzen schien. Diese, ersichtlich eine Frau von höherer Einsicht und ruhigem Willen, schien an diese Schwäche gewöhnt und deren Ursache zu kennen; denn sie ließ stets dem Anfall seinen Lauf und verrichtete geduldig ihre Obliegenheiten, bis er wieder ruhig und zum Sprechen aufgelegt war.
Eines Abends, nachdem beide lange schweigend dagesessen waren, und die mühsamen Seufzer, die er von Zeit zu Zeit ausstieß, aufgehört hatten, schaute sie von ihrem Gestrick auf und bemerkte:
»Eines, Bernard, werden Sie wohl bald thun müssen.«
»Was ist das?« lautete seine matte Frage.
»Ich habe es Ihnen bereits gesagt – heirathen. Schütteln Sie nach Belieben Ihren Kopf, Sie werden es doch nach allem für das Beßte finden. Warum? Ei, weil das Leben, das Sie jetzt führen, unbeschränkt zwar, doch so einsam und ohne besonderes Interesse, für Sie nicht gut ist. Ich für meinen Theil glaube, dieses viele Brüten und diese stete Einsamkeit werden Ihnen eines Tages noch den Verstand nehmen.«
»Vielleicht,« sagte er düster, »doch was kann ich dagegen thun? Ich würde jede Gattin, die ich nähme, verabscheuen. Es ist nicht ein Schatten von Gefühl in meiner Brust zurückgeblieben, um es ihr zu schenken.«
»Was braucht es dieß? Heirathen Sie dennoch. Es würde wenigstens eine heilsame Schranke für Sie sein. Ueberdieß, Bernard, würden Sie vielleicht ein Kind erhalten und es lieben, wie man Kinder zu lieben pflegt.« Die strengen Augen der Sprecherin wurden sanft, und sie hielt inne, um einen Seufzer zu unterdrücken, den ersichtlich ein tiefes Gefühl hervorgerufen hatte. »Da ist Miß Overstein, ein schönes gebildetes Fräulein, deren Mutter eines ihrer Augen hingäbe, würden Sie sich mit ihrer Tochter verbinden. Nun – sagen Sie, was Sie wollen; es ist meine feste Meinung, daß Sie eines derartigen Interesses bedürfen, und zwar bald, oder es geht schlimmer mit Ihnen.«
Ihr Zuhörer fand keinen Geschmack an diesem Gegenstand.
»Sie plappern eben wie ein Weib – lassen Sie die Sache beruhen,« entgegnete er. Doch er fühlte, daß sie ihn in diesem Punkte gut kannte. Dieses Herz war für zarte Bande ganz besonders geschaffen, und indem er früh sich ihrer entledigte, hatte er den mächtigsten und wohlthätigsten Einfluß beseitigt, den ein Charakter, wie der seine, zu fühlen vermag.
Am folgenden Tage, als Bernard einige Briefe durchlas, die während seiner Krankheit angekommen und bei Seite gelegt worden waren, öffnete er ein Schreiben von dem Verwalter seiner Besitzungen: nach dem er eine Zeit lang sorglos genug gelesen hatte, kam er zu einer Stelle, welche seine Augen fesselte und seine Lippen zum Erbleichen brachte. Er las weiter, besichtigte das Datum noch einmal, und nachdem er bemerkt hatte, daß der Brief schon vor drei Wochen abgeschickt worden war, fing er laut zu stöhnen an. Bald darauf trat seine Wärterin ein und fand ihn nachsinnend dasitzen, während er mit zitternder bleicher Hand sein Antlitz bedeckte. Ein Blick auf den offnen Brief schien ihr den Schlüssel zu der Ursache seiner Aufregung zu geben, und ruhig stellte sie den köstlichen Obstsaft, welchen sie ihm eben anbieten wollte, bei Seite und fragte:
»Erhielten Sie Nachrichten vom Norden?«
»Mr. Croßly ist gestorben. Er hatte einen Anfall und – lesen Sie diesen Brief.«
Sie las; dann bemerkte sie:
»Dieß ist nichts Neues für mich, mein lieber Junge. Man sprach überall davon, ehe ich nach London abreiste.«
»Was sagen Sie? Und nie erzählten Sie mir davon?«
»Wie konnte ich es, ehe Sie körperliche Kraft genug besaßen, solche Nachrichten vernünftig aufzunehmen? Fragen Sie Sich selbst, Bernard. Ueberdieß läßt sich ja nichts daran ändern. Wenn Sie mich jetzt ruhig anhören, will ich Ihnen Näheres berichten, denn ich bin, denke ich, mit der Sache vollkommen vertraut.«
Sie gab ihm nun einen Bericht, der im Wesentlichen also lautete:
Einige Zeit nach Theresens Verehelichung hatte sich Mr. Croßly an einem Unternehmen zur Herstellung einer Eisenbahn in der Nachbarschaft betheiligt – ein Plan, der damals ganz neu war und von der Bevölkerung sehr verschieden beurtheilt wurde. Er wagte insgeheim eine bedeutende Summe zur Unterstützung des Unternehmens; allein es mißglückte und wurde vorderhand als unausführbar aufgegeben. Nach einer Weile wurde dasselbe Projekt erneuert, und Mr. Croßly, durch den Anschein getäuscht und in der Hoffnung, seinen früheren Verlust wieder hereinzubringen, ließ sich abermals verleiten, daran Theil zu nehmen; aber diesesmal hatten einige Schurken die Hand im Spiele, und der Ausgang war ein abermaliger Bankerott, zum großen Schaden vieler Leute und zum gänzlichen Ruine Mr. Croßly's. Da der alte Mann jede Verbindlichkeit streng erfüllte, beraubte er sein Alter jeglicher Vorsorge, verkaufte die Grange, und zog sich mit seiner pflichtgetreuen Enkelin in eine, von einem Verwandten angebotene Wohnung zurück. Hier wurde er von einem Schlaganfall gerührt, der Folge übermäßiger Aufregung. Er kam so weit wieder zu sich, um die Sterbsakramente zu empfangen, und wenige Stunden darauf endete er ein strenges, aber ehrbares Leben.
Diese Vorfälle – welche unzählige Klatschereien in der Nachbarschaft, kurz vor ihrer Abreise, veranlaßt hatten – berichtete nun Mrs. Morgan ihrem Pflegling, der unter großer Bewegung zuhorchte.
»Armer Großvater!« sagte er, indem er wieder einmal den Namen gebrauchte, der in den Tagen ihres Zusammenlebens seinen Lippen so vertraut war. »Und Marie?« Er stockte bei dem unfreiwillig geäußerten Namen, denn das Bild von ihr, die jetzt doppelt verwaist war, stieg nie vor ihm auf, ohne ihm wildes Leid zu bereiten, das die Jahre nicht zu schwächen vermochten.
Seine Gesellschafterin schwieg, als erwarte sie eine Frage; da keine gestellt wurde, bemerkte sie:
»Da Sie ihrer erwähnen, Miß Croßly ist gegenwärtig bei ihren Verwandten, den Thrales. Ich habe gehört, sie beabsichtige dort zu bleiben und die Erziehung ihrer kleinen Basen auf sich zu nehmen.«
Er lauschte, ohne etwas zu sagen, obwohl er ersichtlich in einer Unruhe sich befand, die vielleicht von einigen neuen Ideen hervorgerufen wurde, welche er vor diesen scharf beobachtenden Augen zu verbergen suchte. Keines von beiden sprach ein weiteres Wort über diesen Gegenstand.
Mrs. Morgan blieb nach Wiederherstellung der Gesundheit ihres Kranken nicht länger in London. Das Paar, welches so seltsam in gegenseitigem Vertrauen stand, trennte sich mit derselben Freundlichkeit, die ihr Zusammentreffen gekennzeichnet hatte: in ihrem Auge lag sogar Zärtlichkeit, als sie vom Fenster des Wagens, zu dem er sie begleitet hatte, nochmals auf ihn blickte. Sie wußte nicht, welch' tiefer Seufzer der Erleichterung bei ihrer Abreise sich ihm entrang, gleichsam als fühle er sich von einem großen Zwang erlöst; sie wußte auch nicht, daß er augenblicklich nach Norden fuhr, mit der ungestümen Hast eines Menschen, der seine Gedanken mit fieberischer Hartnäckigkeit auf einen Gegenstand richtete.
Fand er, was er suchte? Da er bald als einsamer, unglücklicher Mann wie früher dem Continent zureiste, darf man wohl schließen, daß er vergebens suchte, und daß sie, die er einer so schmerzlichen Probe aussetzte, jetzt, in Armuth und ferne von der Heimath, ihrem Entschlusse eben so treu geblieben war, wie zur Zeit, als sie in zeitlichem Glücke gelebt hatte. Sie hatte schon früher gesagt, sie könne sich nicht mit einem irreligiösen Manne verbinden; und der Herr, um dessen willen sie so sprach, stärkte ihr Herz in der langen und bitteren Prüfung. Wir wollen nicht in die Geheimnisse dieses gläubigen, still duldenden Lebens mit seiner fortwährenden Enttäuschung eindringen; es genüge zu wissen, daß Marie Croßly, zufrieden mit ihrem Loose, in einer Atmosphäre heitern Friedens lebte, und ihre Tage der Erziehung zweier junger Basen zu widmen gedachte, die als Waisen zurückgelassen worden waren.