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Das ist das Schellen des Briefträgers. Jeder kennt das Klopfen des Stadtbriefträgers; das Läuten des Landbriefträgers ist hievon verschieden, und man wartet darauf am balsamischen Morgen mit jener halb freudigen, halb ängstlichen Hoffnung, welche uns abhält, die Pflichten des Tages zu beginnen, ehe jenes Ereigniß vorüber ist, sei es nun zu unsrer Befriedigung oder zu unsrer Enttäuschung. Es ist schon spät am Morgen – ach, wir werden keinen Brief erhalten. Doch horch! ein Tritt kommt die ruhige Gasse herauf – ein schwerfälliger Tritt, ungleich dem flinken Trab des Stadtbriefträgers. Das ist das Schellen der wohlklingenden Glocke des Seitenthores, und wenn wir durch die Thüre der Vorhalle schauen, sehen wir unsern würdigen alten Freund in seinem bekannten grauen Rock und mit dem grünen Schirm dem Hause zuschreiten.
»Das ist das Läuten der Briefboten!« Alfred, jetzt der älteste Knabe zu Haus, springt auf, und der Magd voraneilend, läuft er den kurzen Kiesweg zum Thore hinunter. Er bringt drei feuchte Briefe herein.
»Einen für Dich, Anna: diese zwei gehören dem Vater. Ei, welch ein zierliches Schreiben!«
Die Briefe (einer davon war ein plump aussehendes Schreiben mit großer Überschrift) trug er in das Arbeitszimmer seines Vaters hinauf, und Therese, die eben eingetreten war, fragte ihre Tochter, ob ihr Brief von Helene sei, die seit einiger Zeit nicht geschrieben hatte.
»Nein – o Mamma, er ist von Paul. Mit einem Einschluß für Sie. Beide lasen voll Eifer.
Seit seiner Abreise hatte Paul nur einmal geschrieben, und aus Furcht, seinem Vater Gelegenheit zur Verfolgung zu geben, vermied er es, seinen Aufenthaltsort zu nennen; doch versicherte er seine Freunde, daß er unter guter Obhut sei und sich wahrscheinlich bald auf dem Wege befinde, den er so voll Begierde zu wandeln wünsche. Jetzt, wo er erfahren hatte, daß er sich seiner Befürchtungen entschlagen dürfe (denn nach dem ersten Sturm seines Unwillens hatte Selwyn sich entschlossen, den Jungen seiner Halsstarrigkeit und deren Folgen zu überlassen), schrieb er ohne Rückhalt und ertheilte Aufschlüsse, die er bisher nicht zu geben wagte.
… Erinnerst Du dich, Schwester, des guten Abtes, der manchmal in das Kloster bei Woudhouse auf Besuch kam, und gegen uns alle so freundlich war? Gegen mich war er besonders gütig (warum, weiß ich nicht), und als wir einmal allein in der Sakristei waren, rief er mich zu sich, legte seine Hand in meine und frug mich, was ich werden wollte, wenn ich älter wäre. Ich konnte nicht umhin, ihm zu sagen, was ich dem Pater Clemens oft gesagt hatte, daß ich vor allen Dingen hoffte, ein Mönch, ein Priester zu werden. Er schien diese Antwort zu erwarten, und dann sagte er überaus freundlich und ernst: »Wenn Du in dieser Gesinnung verharrst, mein Kind, und etwa auf Deinem Wege Schwierigkeiten findest, dann wende Dich an mich.« Nie vergaß ich diese Worte, und als die Zeit der Schwierigkeiten kam, war er meine Hoffnung, der einzige Freund auf Erden, dem ich vertrauen konnte. Als ich die Heimath verließ, ging ich geraden Weges zu ihm, in dem Vertrauen, er werde mir helfen, oder wenigstens rathen – und wie gut, wie väterlich er während dieser Zeit der Ungewißheit gewesen, kann ich Euch nicht beschreiben. Auch kann ich Euch nicht sagen, wie ich abwechselnd in Hoffnung und Furcht schwebte bis diesen Morgen, wo es entschieden wurde, daß ich in seine Gemeinschaft ausgenommen werden soll; und nun, angethan mit dem heiligen Ordenskleid, bitte ich Euch alle, unserm Herrn für eine so große Gnade zu danken und zu beten, daß ich mein Noviziat wohl bestehen möge. Nach Gott schulde ich mein gegenwärtiges Glück dem hochwürdigen Pater Abt, dem ich nicht genug danken kann. Er kennt unsern Vater und war in seiner Jugend ein ihm werther Freund. Er schreibt mit dieser Post an ihn in der Hoffnung, uns beide auszusöhnen; denn ich würde mich ungemein erleichtert fühlen, wenn sein Unwille gegen mich beseitigt werden könnte. Tag und Nacht werde ich beten, daß der Vater eines Tages die Wahrheit sehen möge, wie wir sie erkennen; denn o Anna, da seine religiösen Gefühle aufrichtig und seine Talente vortrefflich sind, würde er ein glänzendes Vorbild sein, wenn ihn erst die Gnade in unsere Kirche führte …«
Darin hatte der Jüngling Recht. Als Selwyn durch die Wirkung einer tödtlichen Gefahr einmal zu Wahrheiten erwacht war, die er so lange unbeachtet ließ, schreckte er aus seiner Gleichgiltigkeit mit einem durchbohrenden Gewissensbiß und mit Ueberzeugungen auf, die ebenso dauernd als tief waren. Von da an war seine Seele eine »erweckte« – eine Seele, die, für längere Zeit, nie mehr durch das sanfte Murmeln weltlicher Verzärtelung eingelullt werden konnte; nie mehr vergaß er die feierliche Stimme, welche einmal seine tauben Ohren mit einer Lehre von so furchtbarer Bedeutung aufgeschreckt hatte. Nachdem so die Zeit des Schlummers vorüber war, folgte für Selwyn eine andere Gefahr, eine Gefahr, die aus dem geistigen Hochmuth entsprang und das von der Gnade begonnene Werk kläglich zu vernichten drohte. Wäre er zu jener Zeit mit dem Geschenk des wahren Glaubens begnadigt gewesen, so würde er seinen Schutz in der weisen Zucht gefunden haben, welcher die Katholiken unterworfen sind; aber ach! geblendet von einer Wolke unzugänglicher Vorurtheile, bat er nie um die nöthige Gnade, und ungebeten stellte sie sich nicht ein. Indem er so unglückseliger Weise den Felsen verfehlte, auf den er sich hätte stützen können, warf er anders wohin nach einem Haltplatz aus; der Barke aber gleich, die auf losem Sand zu ankern sucht, warf er umsonst aus. Seine Gelehrsamkeit und sein Scharfsinn verfehlten nicht, ihm die Irrthümer menschlicher Glaubenssysteme, die er nacheinander prüfte, zu zeigen; und so gab er, theils jeden und alle verachtend, theils von einer geheimen, unüberwindlichen Leidenschaftlichkeit selbst getäuscht, schließlich das ermüdende Suchen auf und trieb zwischen Licht und Dunkel auf jener See dahin, welche stets von Zweifel, Unsicherheit und Trübsal aufgeregt wird.
Ungeachtet seiner Frömmigkeit war Selwyn ein unglücklicher Mann. Da er wenig Trost in der Gegenwart und in schrecklichen Augenblicken des Kleinmuthes und der Reue keine Hoffnung in der Zukunft fand, nahmen seine frommen Gefühle einen düstren Ernst an, welcher allmählig das ganze Gewebe seines Lebens färbte. Er brachte ganze Stunden weinend hin, indem er seine früheren Fehler beklagte und Gebete verfaßte, die wie Donner über den Häuptern der jungen Familie hinrollten, wenn sie bei der Morgen- und Abendandacht versammelt war. Seine Schriften kennzeichnete derselbe Ton. Die Gräßlichkeit, welche in der Auflehnung und in dem Undanke des Geschöpfes liegt, die furchtbaren Wege der göttlichen Vergeltung hier und drüben, das waren die Gegenstände, über die er mit machtvoller und gewaltiger Beredsamkeit sich verbreitete, während die gesegneten Wahrheiten der Liebe, der Geduld und der Gnade weder sein Herz tief zu rühren, noch seine Feder lang zu beschäftigen vermochten.
Therese hatte den Brief ihres Sohnes zu Ende gelesen; ehe sie aber darüber nachdenken konnte, rief sie Selwyn in sein Zimmer, und indem er ihr einen der so eben erhaltenen Briefe hinreichte, fragte er sie, was sie davon denke? Er trug den Poststempel eines Dorfes, das ihrer alten Heimath, der Grange, sehr nahe lag, und war in einer Reihe auf- und absteigender Sylben: An Mr. Grice in Hurts– adressirt. Der Inhalt, in rauher und fehlerhafter Schrift, lautete wie folgt:
»Geerter Her!
In Eil schreip ich einge wenge Zeiln, kan nichd mehr sagn, als ein Frau am sterpen und will Sie sbrechen. In Eil es ist Anna morgan, die schreipt un ich denk, Mistr Grise ist Onrecht geschen un sente mein herzligste Gruß un Schuldigkeit an Missis Grise un alle Kinder, oder es mag zu Spät sein un sie hoft auf Sie, das Sie kommen in Eil nichd mehr for dißmal von ihr'r ghorsamst Dinerin
Anna morgan (Widwe).
p. s. diß ist der folgent Tag un sie ist schlimmer, kan nichd sbrechen un ich hof auf Sie
Anna morgan (Widwe).«
»Anna Morgan! ei, das muß Nanny sein – die gute Seele, die mir eine so innige Freundin war, als wir die »Towers« verließen,« rief Therese. Sie drehte das Schreiben um, um wieder auf den Poststempel zu schauen. »Und sie muß zu ihrer früheren Heimath zurückgekehrt sein. Wie außerordentlich das ist!«
Sie verloren sich für einige Augenblicke in allerlei Muthmaßungen.
Er hielt in seinem Auf- und Abgehen inne und sagte entschieden:
»Ich werde gehen. Irgend eine arme Frau ist am Sterben und kann nicht mit leichtem Herzen scheiden, ehe sie mich sieht. Sie sind uns zwar fremd, und es ist ein weiter Weg,« murmelte er zweifelhaft; »doch ich werde reisen. »Unrecht geschehen!« was kann das bedeuten? Komm, meine Liebe, und besorge mir schnell das Nothwendigste. Wenn wir uns eilen, werde ich den Postwagen noch erreichen.«
Bei diesen Worten begann er die Papiere aufzulesen, welche zerstreut auf seinem Schreibtisch lagen, und sie bemerkte, daß er den andern Brief, den er durch die nämliche Post erhalten hatte, unter Schloß und Riegel verwahrte. Während er damit beschäftigt war, bemerkte er ihren Blick, und er sagte bedeutungsvoll:
» Diesen werde ich bei meiner Rückkehr besorgen.«
Da sie gewahrte, daß sie über diesen Punkt wahrscheinlich nicht mehr erfahren sollte, seufzte sie und ging fort, um die wenigen Vorbereitungen für seine Reise zu treffen.
Dieß war so bald geschehen, daß, als eine halbe Stunde später die Morgenpost zum Thore heranrasselte, Selwyn schon in der Halle stand, seinen Reisesack in der Hand. Einige der Kinder, die hervorguckten und warteten, vergaßen nie diese ernste männliche Gestalt, an der jede Geberde Autorität war, wie sie so unter den feuchten Rosen und dem Geißblatte stand. Anna, welche sich in dem Nebenzimmer befand, schaute gleichfalls auf ihn und vom Pflichtgefühl getrieben, trat sie furchtsam unter seine Augen, die sich sogleich von ihr abwendeten. Sie hatte seit Pauls Entweichung auch nicht die gewöhnlichste Beachtung von ihrem Vater empfangen.
»Papa,« sagte sie, »Sie stehen im Begriffe, eine lange Reise anzutreten. Ich wünschte, Sie sprächen vor Ihrem Scheiden mit mir.«
Die sanften, gefühlvollen Augen und die einfache Aufforderung schienen ihn zu rühren, denn er sah sie ziemlich freundlich an und streckte seine Hand nach ihr aus.
»Leb' wohl, Anna. Nun – sei ein gutes Mädchen.«
An diese Worte erinnerte sie sich später mit Freuden, denn sie schienen ihr dieselbe Gunst zu verkünden,, die er früher stets ihr bezeigt hatte.
Selwyn gab seiner Gattin noch einige Vorschriften und reiste ab; das Haus, welches er so streng regierte, schien einen Strom freier Luft und Sonnenlicht zu empfangen, obwohl es draußen regnete. Die Kinder wurden heiter, und Therese, glücklich, einige Stunden lang volle Freiheit zu genießen, freute sich über ihre Einfälle, und mehr als einmal hörte man das liebe, mütterliche Lachen, das seit so langer Zeit verstummt war.
So floß der Tag fröhlich dahin; und als sich alle im Sprechzimmer zum Vesperbrod versammelten, da gab es ein ungewöhnliches Geplapper, welches noch durch die wichtige Entdeckung vermehrt wurde, daß Sarah – entschlossen, wie es schien, den Feiertag vollkommen zu machen – mit dem Thee einen Haufen warmer Kuchen hereingebracht habe. Warme, wohlduftende Kuchen – welche jugendlichen Augen bleiben bei solchem Anblick ungerührt? Diese nicht, denn sie glänzen und lachen; und Sarah, erfreut über ihr Lob, deutet ihnen insgeheim an, sie werde nicht, wie sie gestern es sagte, dem Herrn auskünden, sondern bei der gnädigen Frau und ihnen, den lieben Kindern, bleiben.
»Hat es nicht geklopft, Sarah?« sagte ihre Herrin. »Es klopfte an der hintern Thüre. Ich hoffe, Du hast heute das Thor nicht offen gelassen?«
»Ich fürchte es, Madam,« entgegnete das Mädchen in zögerndem Tone; denn es ist ein Landhaus, und mehr als einmal kommen unangenehme Besuche.
»Komm', Sarah, fürchte Dich nicht. Ich will mit Dir gehen,« sagte Alfred muthig; und rasch ergriff er, einem kecken Knaben gleich, einen Stock in der Halle, und sprang davon.
Nichts Furchtbares war in dem Küchengang zu finden, sondern eine jugendliche Gestalt, bei deren Anblick Alfred vor Freude laut aufschrie. Es war Helene, welche, je näher sie dem Hause kam, desto mehr in Angst gerieth und deßhalb in kurzer Entfernung davon die Kutsche fortgeschickt hatte; und weil sie das Gartenthor offen fand, hatte sie sich an dasselbe herangestohlen, um ihrem Vater nicht unerwartet vor das Gesicht zu treten.
»Still, Lieber!« flüstert sie. »Lieber Alfred, wo ist Papa eben jetzt?«
»O er ist fort. Ganz recht!« schreit ihr Bruder.
»Hurrah! Mutter, was glauben Sie, wer kommt?«
»Ach, mein liebes Mädchen!«
Und Helene fliegt in die weitgeöffneten Arme, und mag dort ruhen, denn nirgends wird sie eine treuere und zärtlichere Zuflucht finden.
»Sie konnten mich nicht bekehren, Mamma. Ich bin ein Thunichtgut«, rief lachend das trotzige Mädchen. »Doch ich werde Ihnen das alles nachher erzählen. O theure Anna! o meine Schätzchen!«
Sie ist für einige Augenblicke athemlos und bildet den Mittelpunkt einer liebenden und jubelnden Gruppe.
»Wo ist Lotty? Wo ist mein Schatz? Wie sie gewachsen ist! Ei, sie kennt mich noch nach dieser langen Zeit! Sehen Sie doch Mamma, sie kennt mich noch!«
Es war so: die Kleine bewies es heftig mit ihren fetten, liebkosenden Aermchen und ihrem freudigen Stammeln.
Helene legte hierauf mit gerötheten Wangen ihren Shawl ab, und wurde dann von der lärmenden Schaar zum Sprechzimmer begleitet. Die Mutter, die ihr beim Ausziehen des Reisekleides behilflich ist, glättete ihr das glänzende Haar und hing mit Zärtlichkeit an jedem Ton der hellen jungen Stimme, welche vom häuslichen Kreise so sehr vermißt worden war.
Glücklicher, als seit langer Zeit, ist jetzt Therese, da sie ihr liebes Kind aus einer so harten Prüfung zurückgekehrt sieht – zurückgekehrt in Sicherheit; denn jede Bemerkung bezeugte, wie tief der Glaube im Herzen der Tochter wurzelte. Es war eine sichtbare Belohnung der armen Mutter für so viele frühere Unterweisungen, eine neue, kräftige Ermuthigung mitten unter Befürchtungen und Prüfungen. Wohl hatte sie jetzt, während sie an die Rückkehr ihres Gatten dachte, manchen besorgten Gedanken über diesen neuen Vorfall, und den von Helene überbrachten Brief (»ihr Zeugniß« nannte ihn das Mädchen) legte sie nicht ohne Beklemmung auf Selwyn's Schreibtisch – denn welche harte Vorwürfe mochte er nicht enthalten, um ihn gegen die unschuldige Tochter aufzuhetzen? Indeß, alles kann man ertragen – alles, rief ihr dankbares Herz, seit die schärfste Bitterkeit ihr erspart war. Wenn Nelly abtrünnig geworden wäre – wie es möglich war – wenn eines der Kinder den Glauben einbüßte – wie es noch möglich ist – was könnte dafür Ersatz bieten? Dieß war eine Frage, die beständig vor ihrer Seele schwebte, wenn sie sah, wie die Kleinen den vorurtheilsvollen Lehren ihres Vaters zuhorchten, oder wie sie zur Dorfkirche gingen. Jetzt erfreute sich ihr Ohr an den glühenden Betheuerungen Helenens, an ihrer Beschreibung gewisser Dinge, die sie in letzter Zeit erfahren hatte, ja selbst an ihrer lustigen Nachäfferei. Noch mehr, da Therese eben auch ein Weib war, so konnte sie nicht vergessen, daß Selwyn während ihres ganzen ehlichen Lebens Mrs. Overstein als ein Muster jeder Vollkommenheit hingestellt und zuweilen auf einen Gegensatz hingedeutet hatte, den er hinreichend klar bezeichnete, um sie zu demüthigen und zu verwunden; als daher ihre Tochter, boshaft und übermüthig, zu ihrer Belustigung verschiedene Einzelnheiten zum Beßten gab, horchte sie mit einem Gefühl des Triumphes zu und hob lachend die Hände empor, als sie durch diese Schilderungen das Flitterwerk des gelobten Vorbildes erkannte. Ei, wo war Selwyns Geschmack? Wo sein Scharfsinn? Wie hatte dieses prahlerische, buhlerische, gemeine Weib sie gequält! Sie soll verständiger sein! mußte sie immer und immer wiederholen. Und auch Cäsarina, jene jüngere Vollkommenheit, konnte sie mit ihren reizenden Mädchen wetteifern?
»Cäsarina liebe ich, Mamma;« sagte hier Nelly. »Ja, ich bewundere sie, nicht ihrer Schönheit wegen – obwohl diese auffallend ist – sondern weil in ihrem Charakter Gefühl und Hochherzigkeit liegt. Sie besitzt ein Herz und zarte Gesinnungen, wie jeder erkennt, der sie näher kennen lernt.«
»Wirklich, meine Liebe?«
»O, die arme Cäsarina! sie ist an einen unrechten Platz gekommen. Ach, wenn sie all diese Jahre bei Ihnen gewesen wäre, theure Mamma! Denn was die Aufsicht und Unterweisung betrifft …«
»Nun, Nelly!« sagte tadelnd ihre ältere Schwester, »Deine Zunge hat heute Abend etwas Spitziges. Glaubst Du nicht, daß Du ziemlich lieblos bist?«
»Bin ich es? Ich glaube, ich habe so etwas dort gelernt. Dank Dir, Liebe, für Deine »heilsame Zurechtweisung.« Doch wie neu kommt es mir vor, zu hören, man solle seinen Nächsten schonen, anstatt …. nein, ich will nicht mehr in diesen Fehler fallen. Ist dieß die Glocke zum Abendgebet? Wie süß ist es, wieder einmal die gewohnten Gebete aufsagen zu dürfen! Lies sie vor, Anna; und ich will Papa's Platz einnehmen und für seine Bekehrung beten,« sagte sie lachend und zugleich in trübem Ernst.
Sie versammelten sich, und zum ersten Mal in jenem Hause war die Familienandacht eine Wonne, und Worte katholischen Glaubens und katholischer Liebe wagten es, von dem Herzen auf die Lippen zu kommen. Lange knieten sie da, als ob sie ungern wieder aufstünden. Ihr Vater hatte sich oft beklagt, daß sie ohne Lust zum Beten kämen; wäre er aber in diesem Augenblick unter ihnen gewesen, so möchte er wohl eine Lehre von Bedeutung erhalten haben.
Zwei bis drei Tage vergingen, ohne daß Therese eine Nachricht von ihrem Gatten erhielt. Sie war nicht überrascht, denn dieß war nach seiner Gewohnheit; als sie aber nach geduldigem Warten noch immer keine Zuschrift erhielt, begann sie in Betracht der besonderen Umstände, unter denen er die Heimath verlassen hatte, besorgt zu werden.
»Vielleicht, Mamma, stellt er Nachforschungen an, die ihn aufhalten,« bemerkte Anna, stets die sanfte Trösterin ihrer Mutter. »Doch wenn wir durch die morgige Post nichts von ihm hören, so glaube ich, Mamma, wir sollten an Georg schreiben, daß er dem Papa nachreise. Er könnte leicht freie Zeit erhalten; und Papa würde nichts dagegen einwenden.«
Therese fühlte sich erleichtert.
»Ich werde gewiß daran denken, meine Liebe; es wundert mich, daß mir dieser Gedanke nicht gekommen ist.«
»Ich vermuthe, Papa wird der Grange sehr nahe sein. Würden Sie nicht gern den alten Wohnsitz wieder sehen?«
»Ach, meine Liebe, ich meine nicht. Es ist jetzt die Eisenbahn dort, und da wird es viele neue Gesichter geben, während die bekannten alten verschwanden. Die Zeit – die Zeit! sie ändert alles,« murmelte Therese.
Ein Antlitz, welches jenem alten Hause besonderen Zauber verlieh, schien ihr jetzt vorzuschweben und ihre Gedanken kehrten zur Vergangenheit zurück; sinnend gedachte sie ihrer Schwester Marie – ihrer Liebe, ihres offenbar enttäuschten Looses, und sie hätte zu gern wissen mögen, wie weit sie noch jenem süßen Geschöpfe gleiche, an das sie sich so wohl erinnerte. Horch, Therese, noch etwas erinnert Dich an alte Tage: ein Lied, das Du oft von den Lippen jener theuren Schwester gehört hast.
»Es ist Nelly, die singt,« bemerkte Anna, als die mädchenhaften Töne durch das offne Fenster schallten, neben welchem sie und ihre Mutter standen.
Der klare Himmel.
Strahl' Himmelsglanz! Es kam der Frühling fächelnd
Und segnet rings das Land mit froher Lust,
Und Mutter Erd', mit holdem Antlitz lächelnd,
Trägt junge Blumen schlummernd an der Brust.
Strahl' Himmelsglanz!
O schönster Himmel! sel'ger Zauber glühet
Im blauen Abgrund Deiner Wunderpracht,
Und wie ein lieblich Bild ergreift und ziehet
Das Herz er hin mit seiner Zaubermacht.
Strahl' Himmelsglanz!
In jungen Augen glänzen Deine Strahlen,
Froh wie sie selbst im ird'schen Blumenflor,
In trüben Herzen, schwer von Gram und Qualen,
Da bringen sie ein süß Gefühl hervor.
Strahl' Himmelsglanz!
Und würde, Himmelsglanz, durch Dein Verklären
Die schuldzerrißne Seele mit sich Eins,
Und bräch' ein Hoffnungsstrahl durch Kummers Zähren,
Kein Seraph's Lächeln wär' so hold wie Deins!
Strahl' Himmelsglanz!
Als das Lied zu Ende war, trat die Dienerin in das Zimmer.
»Ein Gentleman, Madam, wünscht Sie zu sprechen.«
»Ein Gentleman, Sara? Gab er seinen Namen nicht an?«
»Nein, Madam. Es ist ein alter Herr, ein Geistlicher, glaube ich. Er sagte nur, daß er Sie zu sehen wünsche.«
Ein unwillkürliches Gefühl machte Theresens Wangen bleicher als gewöhnlich und sie bat ihre Tochter Anna, mit ihr zu gehen. Der Fremde unten im Sprechzimmer stand in tiefen Gedanken versunken, aus welchen er erwachte, um die Eintretenden lang und fest anzuschauen. Es lag etwas in seinem Aeußern, was Therese an alte Tage erinnerte; die aufrechte Gestalt, das milde, ehrwürdige Antlitz unter dünnen Silberlocken waren ihrem Gedächtniß bekannt und konnten es blos einen Augenblick verwirren. Sie zitterte und sagte matt:
»O Pater!«
Pater Lawrence näherte sich ihr und begrüßte sie freundlich; doch sie achtete nicht auf seine Worte.
»Sie sind gekommen, mir Nachricht über meinen Gatten zu bringen. Wo ist mein Mann?« wiederholte sie leise – und las aus seinem Antlitze, daß sie Recht habe, und daß er wichtige Nachrichten bringe.
»Ich habe Ihnen viel – viel mitzutheilen; doch beten Sie, denken Sie an Gott und Seinen heiligen Willen.«
Der Priester nahm den Stuhl, den ihm die erblaßte Anna brachte; und indem er beide an den zitternden Händen faßte, sagte er sanft zu der Gattin – doch wir wollen leise das Zimmer verlassen und jene schmerzgetroffenen Herzen ihrem Gebete überlassen.