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In einer der nördlichen Umgebungen Londons, wo Ziegelstein und Mörtel bereits geschäftig waren, aber noch nicht das ländliche Aussehen der Nachbarschaft verwischt hatten, fand Mr. Grice in einer kleinen, neuen Gasse, gegenüber einigen grünen Feldern, ein Haus, das ihm gefiel. Als er Therese zu dessen Besichtigung hinführte, lachte sie vergnügt über die wenigen, schachtelgleichen Zimmer, über den kurzen Zugang und die wunderbar enge Stiege; doch die kleine Behausung sah hell und neu aus, und als ihr Gatte die Nothwendigkeit, sie hier unterzubringen, beklagte, erwiederte sie, sie werde hier so vergnügt leben wie die Prinzessin in der verzauberten Hütte. Er wußte wohl, welche Art Zauber hinreichte, sie glücklich zu machen, und als er das liebenswürdige Geschöpf, das er gewonnen hatte, küßte, mag seine bessere Natur ihn mit guten Entschlüssen für die Zukunft und vielleicht mit einigen Vorwürfen über die Vergangenheit erfüllt haben. Eines jedoch verursachte Therese einige Unruhe, und furchtsam fragte sie:
»Sind wir weit von einer Kirche entfernt, Selwyn?«
Er hatte natürlich an diesen Punkt gar nicht gedacht, und unsicher antwortete er:
»Ja; nein. – Laß mich sehen – Somers Town ist am nächsten – ja. Es ist etwa zwei bis drei Meilen entfernt – doch Du kannst einen Wagen nehmen, meine Liebe; und überdieß brauchst Du ja nicht jeden Sonntag hinzugehen,« setzte er hinzu, da er selbst kein Kirchenbesucher war und die Verpflichtung eines Katholiken in dieser Beziehung nicht kannte.
Therese fand bald, daß sie trotz ihres guten Willens nicht im Stande war, jeden Sonntag die Messe zu hören; sie konnte nicht immer ihr Kind der Obhut ihrer einzigen Dienerin überlassen und wollte nicht immer ihren Gatten zur Auslage für einen Wagen nöthigen; denn trotz seiner feinen Bildung und seinen Kenntnissen ließ sich Mr. Grice zu einer Einmischung herab, die ein Mann nie behaupten kann, ohne sich in einen Schwarm von Kleinigkeiten zu verwickeln und unvermeidlich den Respekt seiner Familie zu verlieren: er hatte die Leitung der häuslichen Angelegenheiten ausschließlich an sich genommen und jeder Schilling ging durch seine Hand. Unter diesen Schwierigkeiten fiel Therese allmählig in die Gewohnheit, den Gottesdienst jeden andern Sonntag zu besuchen – dann nicht ganz so oft; doch nicht, ohne daß sie vorher bei der Anstrengung, ihre wöchentliche Verpflichtung zu erfüllen, manches Ungemach ertragen und oft allein durch die heißen Straßen den Weg zu der Bezirkskirche zurückgelegt hatte.
Trotz diesen und andern Rückschritten floßen die Tage in Zufriedenheit dahin, und Therese erinnerte sich stets mit Vergnügen an jene erste Zeit ihres ehlichen Lebens. Die kleine Anna erblühte in Gesundheit und Schönheit; Selwyn war freundlich und arbeitete mit Erfolg und Fleiß – mit zu großem Fleiß, dachte sich Therese. Oft trat sie leise an das kleine Arbeitszimmer, in welchem er saß, seinen geistreichen Kopf nachdenklich über irgend eine vergilbte Seite eines Foliobandes gebeugt, und sie schmeichelte ihn von da fort zu einem schmackhaften Mahl, oder zu einem Spaziergang auf die luftigen, mit Schlüsselblumen bedeckten Felder. Sein Arbeitstrieb wurde bald frisch aufgestachelt; denn als er eines Tages von einem Besuch bei seinem Geschäftsfreunde zurückkehrte, sagte er zu seiner Gattin:
»Ich muß strenger arbeiten als je. S– sagt mir, daß sein Unternehmen bekannt geworden, und daß wir auf Concurrenz stoßen werden. Ein Werk über denselben Gegenstand, den ich in Bearbeitung habe, ist bereits als im Mai erscheinend in allen Blättern angekündigt. Wir haben den Verfasser herausgefunden, es ist der junge Barrot; ich hörte früher von ihm und weiß, daß er so etwas wie ein Gelehrter und ein rascher Arbeiter ist. Er hat den Vortheil, mit ausgezeichnetem Material zu arbeiten und ist voll Zuversicht. Wir müssen uns bemühen, das Feld zuerst zu gewinnen; so wirst Du jetzt, meine Liebe, ein Wettrennen sehen.«
So gingen denn beide Schriftsteller mit gemarterten Köpfen und flüchtigen Federn in einen Kampf ein um Namen und Brod, während Therese, die am Ausgang nicht zweifelte, oft aus Mitleid für den unbekannten Jungen seufzte, der, wie sie dachte, verdammt war, seine Kraft in eitlem Wettkampf mit den großen und geübten Fähigkeiten ihres Gatten zu vergeuden.
In dem unmittelbar anstoßenden Hause wohnte eine Dame, welche von Therese mit besonderem Interesse betrachtet wurde. Sei es, daß das freundliche ältliche Antlitz sie an ihre eigne, ferne Mutter erinnerte, oder daß sie von der Einsamkeit der verwelkenden Gestalt gerührt wurde, selten sah sie Mrs. Collins in dem kleinen Garten, ohne daß sie hinaustrat, um einige freundliche Worte mit ihr zu wechseln; und bald wird sie eingeladen, durch die Thüre des Zaunes, der beide Einhägungen schied, in das nette Sprechzimmer einzutreten. Während der Frühlingsabende, da Selwyn so thätig war, pflegte sie ihre Strickarbeit und die kleine Anna, welche der Liebling der alten Dame geworden war, zu nehmen und eine Stunde in Gesellschaft zuzubringen. Mrs. Collins, die einst eine sehr gute Stellung eingenommen hatte, unterhielt sie mit selbsterlebten Anekdoten, welche ihren einfachen Geist in Verwunderung setzten; und als sie vertrauter wurden, theilte ihr die gutmüthige Alte einiges aus ihrem eignen Leben mit, das trüb und reich an Prüfungen gewesen. Sie hatte sehr jung geheirathet, und nachdem sie Wittwe geworden war, mit einem Sohne, heirathete sie zum zweiten Male. Diese zweite Ehe fiel unglücklich aus, denn sie hatte ihr Vertrauen einem Schurken geschenkt, der sie durch Vorspiegelungen getäuscht und bald verlassen hatte. Sie sprach nicht oft von ihm, aber um so häufiger erzählte sie von ihrem Sohne, den sie zu bewundern und mit unbegrenzter Zärtlichkeit zu lieben schien.
»Er ist genöthigt in der Stadt zu leben, um, den Bibliotheken nahe zu sein, doch jeden Sonntag seines Lebens verbringt er bei mir, mag vorfallen, was da will. Er ist Literat, und zieht diesen Stand jedem andern vor. Ohne Zweifel wird er ihm zur Zierde gereichen, wie Jedermann behauptet, denn er hat Talent, meine Liebe, und ich war bemüht, ihm eine gute Erziehung zu geben. Ich hatte ein wenig Geld, und gab es freudig hin zu diesem Zweck, obwohl ich in Folge dessen genöthigt bin, hier in dieser Einsamkeit zu leben. Ah, mein Junge wird eines Tages eine größere Heimath für mich finden, wenn Gott ihn erhält!«
Obwohl Selwyn anstrengend arbeitete, um der gefürchteten Veröffentlichung zuvorzukommen, erschien doch das Werk des andern Verfassers zuerst und erreichte einen sehr günstigen Erfolg. Rühmliche Beurtheilung und gutes Honorar folgten der Veröffentlichung vierzehn Tage lang, doch blos für diese Zeit; denn nach dieser kurzen Frist erschien Selwyn's Werk, und das andere ging sogleich flau, ohne Hoffnung, wieder in Schwung zu kommen. Wer konnte auch mit einer so umfassenden Forschung, mit einem so meisterlichen Styl wetteifern, wie solche der ältere Schriftsteller zur Lösung seiner Aufgabe mitgebracht hatte? Sein Buch ging reißend ab – die Lobsprüche waren allgemein, das Honorar glänzend, der Triumph war ein vollständiger, der Ruhm des Verfassers schien für immer begründet.
»Ich möchte wissen, wie jener arme junge Mann seine Enttäuschung erträgt,« sagte Therese, während sie zusah, wie ihr Mann aus verschiednen Blättern günstige Beurtheilungen zum Aufbewahren herausschnitt. »Ich glaube, Selwyn, Du dürftest ihn ein wenig bemitleiden.«
»Bah!« entgegnete er – geschickte Männer sind selten edelmüthig, wenn sie als Nebenbuhler auftreten. »Ich möchte wissen, ob er mich bedauert hätte, wäre ich unterlegen. Er ist ein eitler Bursche, und ich hoffe, die empfangene Lehre werde ihm nützlich sein.«
Hier bemerkte Therese, welche nachdenklich zum Fenster hinausschaute, wie die junge Magd nebenan über den Zaun ein kleines Bündel herüberreichte, welches Norah in das Haus brachte.
Es enthielt einige Bücher, welche Therese von Zeit zu Zeit ihrer Nachbarin lieh, um ihr die einsamen Stunden zu verkürzen.
»Mrs. Collins läßt sagen, sie sei Ihnen sehr verbunden, Madam, doch sie hält es für besser, Ihnen die Bücher zurückzusenden, denn ihr Sohn, Mr. Philipp ist krank nach Hause gekommen, und seine Pflege wird alle ihre Zeit in Anspruch nehmen.«
Einige Tage später trug Selwyn seiner Gattin auf, dem Hausherrn mitzutheilen, daß sie in einem Monat ausziehen würden.
»Wir müssen die ärmliche, kleine Wohnung verlassen,« fügte er hinzu, »und nun in ein Haus ziehen, welches ein Gentleman ohne Scheu betreten kann. Doch ich denke, wir werden zuerst in ein Bad reisen. Ich möchte, daß die hübschen Rosen auf Deinen Wangen wiederkehren, meine Liebe; sie sind in letzter Zeit verschwunden.«
»Bin ich blaß? Vielleicht kommt es daher, mein Lieber, daß ich ziemlich besorgt um Dich gewesen; überdieß ließ mich in letzter Zeit das Kind nicht schlafen. Es war nicht ganz wohl, und ich fürchtete bei der geringsten Bewegung, es möchte Deinen Schlaf stören.«
»Was fehlt der kleinen Hexe? Sie sieht ganz wohl aus,« sagte der Vater, einen flüchtigen Blick auf die Wiege werfend. Es war eine der ersten Prüfungen für Theresen, entdecken zu müssen, daß er die Kinder nicht liebe. »Ach! er wird anders fern gegen die meinen,« hatte sie sich eingeredet; doch die Zeit hatte diese natürliche Hoffnung nicht erfüllt.
Ehe Therese auf die letzte Bemerkung antworten konnte, gewahrten beide, wie das junge Mädchen nebenan mit blassem Gesicht und fliegender Haube herausstürzte, am Fenster vorbeieilte, und nachdem sie mit Norah einige Worte gewechselt, rasch die Straße hinauflief. Norah kam voll Bestürzung herein und sagte:
»O Sir, dem Mr. Philipp ist ein schrecklicher Unfall begegnet. Ein Blutgefäß ist ihm zersprungen, Madam, und Mrs. Collins bittet Sie, hinüber zu gehen, bis der Doktor kommt.«
Indem Selwyn sein Weib bleiben hieß, eilte er sogleich hinüber. In wenigen Augenblicken sah Therese zwei Gentlemans, die sie als Chirurgen aus der Nachbarschaft erkannte, in die Wohnung der Mrs. Collins eintreten, und dann kam ihr Mann hastig heraus, mit bleichem, entsetztem Antlitz. Als er wieder in das Sprechzimmer getreten war, schleuderte er seine Schuhe weg. Sie schauderte, als sie bemerkte, daß sie naß waren.
»Nie mehr will ich sie sehen,« rief er mit heiserer Stimme und bemühte sich, seinen Rock auszuziehen, doch plötzlich sank er rückwärts auf das Sopha, von einer heftigen Ohnmacht befallen.
Die Bewußtlosigkeit war kurz, denn während Therese seinen Kopf hielt und in ihrer Aufregung nach einem Dutzend weiblicher Mittel rief, stürzte die kräftige Norah unter irischem Heulen mit einem Wassereimer herein, und übergoß ihren Herrn so wirksam, daß er mit einem tiefen Seufzer wieder zur Besinnung kam, sich in die Höhe arbeitete und bald sein Weib versichern konnte, es sei nichts als die Wirkung eines unverhofften Schreckens.
»Es war eine grausige Szene,« fügte er hinzu, indem er wieder erblaßte. »Vergeßt es – und laßt es auch mich vergessen.«
Doch wir wollen hoffen, daß er den Auftritt nicht vergaß, noch die Lehre, die er durch jene entsetzlich daliegende Gestalt und jene jammernde Mutter erhalten hatte. Erst Monate später gestand er Therese, er habe aus den abgebrochenen Ausrufen der armen, wahnsinnigen Mrs. Collins (die selbst nicht das Geringste von all diesen Vorgängen wußte) erfahren, daß ihr Sohn, der unter angenommenem Namen zu schreiben pflegte, sein letzter Nebenbuhler gewesen, und daß ihm kein Blutgefäß gebrochen war, wie sie zuerst geglaubt hatte, sondern des Lebens überdrüssig und über die Niederlage tief gekränkt, hatte er sich absichtlich eine Ader geöffnet und war bis zur Bewußtlosigkeit und fast bis zum Tode verblutet, ehe seine rasche That durch ihr zufälliges Eintreten unterbrochen wurde.
Der unglückliche junge Mann starb während der folgenden Nacht. Am nächsten Tage zog Mr. Grice mit seiner Familie aus der Nachbarschaft fort. Er sagte zu Therese, er bedürfe sofortiger Luftveränderung; doch vielleicht würde er aufrichtiger gesprochen haben, wenn er gesagt hätte, er finde es nicht für gut, da zu bleiben, wo bloß eine dünne Scheidewand ihn von dem jungen Manne trennte, dessen tragisches Ende er unabsichtlich herbeigeführt hatte. Der Eindruck, den dieser traurige Vorfall auf ihn hervorbrachte, war für einige Zeit sehr tief; derselbe wurde auch von Mr. S– und dessen Sohne getheilt, denen Selwyn die Geschichte anvertraut hatte. Der Gentleman zeichnete eine hübsche Summe, die man anonym der verwaisten Mutter übersandte; diese mag ihr während der letzten Krankheit hinreichende Erleichterung und ein anständiges Grab verschafft haben. Sie starb einen Monat später.