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Elftes Kapitel.
Der preußische Dichter

Die Tür schlug hinter ihm zu, die Tür seines Vaterhauses; es war nicht mehr sein Vaterhaus. Die ausgebrannten Kalkfelder Kalabriens, der Schlackenboden des Ätna, auf dem er einst gestanden, waren mit demselben Recht seine Heimat, wie die Sandsteinschwelle, die sein Fuß noch berührte, als des Doktors Handschlag jetzt auf seiner Schulter ruhte:

» Salve, faveque, mi domine! Verkümmern wir uns nicht das Leben. Einen Tag, sagt der alte Homerus, weinen wir um die Toten, nicht mehr. Für einen Doktor wär's schon zu viel. Ärger und Traurigkeit schwächen die Verdauung, Kirchhöfe in der Stadt verpesten die Luft, Melancholie bringt Gelbsucht, und die Toten haben nichts davon. Ergo, wir leben noch, sind Doktor und Husarenoffizier und werden uns wiedersehen – in besseren Zeiten. – In besseren Zeiten, Gott befohlen!«

Und was trug der Heimatlose auf der Brust, der langsam jetzt an der Häuserreihe fortschlich und nicht die Mauer zu sehen schien, gegen die er im nächsten Augenblick anrennen mußte! – Den Leichenstein seiner Mutter, seines Königs Mißgeschick, den Abscheu seiner Familie, die Angst, die Tränen einer lieblichen Braut! Es lastete darauf der Sterbeseufzer seiner Mutter, der im Tode darbenden, durch rohen Übermut gekränkten, edlen Dulderin: »Warum warst du nicht bei mir?« Die kalte Frage eines, der vergessen hatte, daß er sein Vater war: »Wer sind Sie?« Der ihn hinauswies aus dem Hause seiner Kindheit; es lastete darauf der irre, stiere Todesblick eines Bruders, der nicht der geworden, der er starb, hätte Milde und Gerechtigkeit gleich geteilt zwischen den ungleichen Brüdern, der lächelnde, letzte Blick dieses Bruders, der nicht weniger getan, als er für seinen König, und tausendmal gern sein Leben für den Bruder geopfert hätte. Und es lastete darauf ein versiegelter Brief, auf dem Siegel eine Sphinx und in dem Briefe sein Schicksal. Ist die schwache Menschenbrust stark genug, so viel Eindrücke zu tragen, eine Brust, die sich über kein Herz von Stein wölbte, gehoben wohl von mächtigem Drange, stark zum Wagen und zum Hoffen, aber nicht stark genug, den Gefühlen zu trotzen, die, mächtiger als der Wille, jetzt den nervös reizbaren zum Himmel heben, jetzt in den Abgrund schleudern. Und welche kurze Spanne Zeit, seit alle diese Hoffnungen zertrümmerten, alle diese Eindrücke ihn bewältigten, jeder einzelne mächtig genug, um Wermut zu streuen in ein langes, friedliches Menschenleben. Ach, gerade das Übermaß hielt ihn aufrecht. Er kam noch nicht zur Besinnung. Hatte sein Privatschmerz volles Recht, wo seines Königs Hoffnungen zertreten wurden von den Hufen der Sieger? Hatte Friedrich noch dasselbe Anrecht an den Begeisterten, den sein Glorienschein angelockt, jetzt, wo das Herz des Sohnes, Bruders, des Jugendgespielen blutete? Wenn zahllose Gewitter im Bergkessel sich fangen, dort Schloßen die junge Saat niederlegen, hier Blitze, ein Feuermeer, den Boden spalten, der Regen die Straßen zum Gießbach aufwühlt, und der Sturm die Eichen an den Bergwänden bricht, was kümmert dann den Wanderer, daß zu den zehn Gewittern ein elftes hinzukommt? Er lacht dem Schauspiel entgegen. Ihn verlangt vielmehr danach, wie nach einer Abwechselung. Etienne hatte die Brieftasche eingesteckt, die Gottlieb im letzten Fieberparoxismus von sich geschleudert, er hatte ein Recht dazu, denn es war seine eigene, wie der Bruder dazu gekommen, fragte er sich nicht; wie hätte eine so gleichgültige Frage in dem Augenblicke Raum gefunden! Allein die Brieftasche enthielt noch unentsiegelt die Depeschen, welche er den Kommandierenden in Berlin überbringen sollte. Der zweite Bote hatte so wenig wie er sein Ziel erreicht, als es noch Zeit war. Doch aber mochten in den Depeschen Befehle stehen, auch nach Berlins Einnahme noch von Wichtigkeit; die Generale, an welche die Adressen lauteten, waren mit ihren Korps in Spandau. War er nun nicht wieder im strengsten Dienst, gebunden, diese wiedergefundenen Dokumente ihnen, so schnell es ging, einzuhändigen?

Wie wäre er zu anderer Zeit geflogen, ohne Rast und Atem, ohne Überlegen, ohne die Gefahr anzuschlagen! Wie hätte der Gedanke ihn, ein mächtiger Alp, gedrückt, daß Friedrich ein Schade daraus entspringen, daß er die Siegerstirn runzeln, daß ein zürnender Blick aus dem königlichen Auge ihn treffen könne! Er ging jetzt nicht schneller als vorhin. Die Kräfte, die seinen Eifer nährten, waren verzehrt. Auch der Pflichteifrigste findet einen Trost, wenn alle Mittel verbraucht, alle Tatkraft erschöpft ist, dem Meer der Übel entgegenzudämmen. Er schlägt die Hände ineinander und sieht dem ruhig zu, was nicht zu ändern geht. Es ist der Anteil Leichtsinn, der, als die geistigen Gaben verteilt wurden, auch dem Feuergeist und Zeloten zufiel, ein Geschenk der überreichen Mutter Natur an ihre armen Erdensöhne, wie das schlimmste Gift noch zur Arznei wird. Andere nennen es den Stumpfsinn der Ergebung.

Er stellte sich zu dem Haufen der Gaffer, von keinem anderen Antriebe gedrängt, als dem alltäglicher Neugier. Er wollte sehen, was die anderen sahen. Die Bürgersleute steckten die Köpfe zusammen, man schüttelte sie mißbilligend, man murrte, aber man murrte im stillen, denn die Picken der Kosaken übten strenge Zensur über ein Urteil, das sich von selbst machte. Kinder in Militärkleidung wurden truppweise, nicht viel besser wie Schlachtvieh, von Soldaten vorübergetrieben. Es waren die Zöglinge des königlichen Kadettenhauses, wirklich nur Kinder im strengsten Sinne, denn alles, was das vierzehnte Jahr überschritten, war längst zur Armee abgeliefert, wie denn in Friedrichs letzten Schlachten die Mehrzahl der Fähnriche und Leutnants kaum das sechzehnte Jahr überschritten hatte. So mörderisch hatte der Krieg unter der Blüte des Heeres und Landes gezehrt. Die Kinder, welche zum Teil erst den Polrock mit der Uniform gewechselt, schleppte man, um doch Gefangene aufweisen zu können, aus Berlin fort, eine unmenschliche Maßregel, nur noch überboten durch die unmenschliche Art, wie man sie ausführte. Auf den Straßen von Berlin ahnten die armen Kleinen noch nicht, welch ein Schicksal ihnen auf dem schrecklichen Herbst- und Wintermarsche nach Preußen bevorstand, und die mitleidige Hökerin, die ihnen Äpfel austeilte, erntete noch nicht den Dank, welchen eine gleiche Mildtätigkeit später verdient hätte, als man den unerfahrenen Kindern, nachdem sie vierzig Stunden gehungert, einen lebendigen Hammel gab, ihn sich selbst zu schlachten und zu kochen.

Empört wandte sich Etienne um, er wollte nicht vor den russischen Soldaten den aufsteigenden Zorn nutzlos zur Schau tragen – als etwas aus einem Fenster ihm winkte. Das winkende Wesen hatte vorsichtig das Gesicht zurückgezogen, als er aufschaute; als er aber die Tür öffnete, erwartete es ihn bereits. Es war Herr Ramler, der ihn, den Finger auf dem Munde, in sein Arbeitszimmer führte.

»Es ist nicht gut, sich draußen zu zeigen, geehrtester Freund. Jede markierte Physiognomie fällt auf. Die Barbaren suchen gleich den höllischen Käufern in Amsterdam nach Seelen, um Gefangene zu bekommen. – Ach, meine armen Zöglinge!«

»Nur Mut behalten,« entgegnete Etienne; »täuscht mich nicht alles, so denken die Feinde an einen Abzug, den sie unter den neuerdings ausgeschriebenen Kontributionen und Rodomontaden zu verbergen suchen.«

»Und wer, Herr Stephan, bringt uns wieder, was sie mitnehmen?«

»Das wohlhabende Berlin kann noch von Glück sagen. Nicht jeder Feind, wenn es in des Schicksals Schlüssen stände, daß noch einer Preußens Hauptstadt betreten soll, wird so glimpflich verfahren.«

»Was die gütige Parze abwende von der Stadt der treuen Brennen! Doch unsere lieben Kinder, Herr Stephan, wer schützt die vor dem Kies unter ihren zarten Füßen, vor den Peitschenschlägen der Unmenschen, die Frierenden vor der bitteren Kälte der Herbstnächte? Roms ergrimmte Feinde schickten doch selbst den verräterischen Schulmeister mit Geißelhieben zurück, als er ihnen die Kinder des römischen Adels ausliefern wollte. Machen wir nicht in der Kultur, sondern in der Barbarei Fortschritte? Führen Friedrichs Feinde mit Kindern Krieg?«

»Der Livius ist noch nicht ins Russische übersetzt, Herr Professor.«

»O, das Völkerrecht müßte doch geschrieben stehen in jeder Brust.«

»Friedrichs Stern glänzt auch in der Brust dieser Knaben. Ich sah kaum fünfzehnjährige Fähnriche wie Helden stehen, und die noch von den Märchen der Kinderstube träumten, denen drückte schon der Tod den Siegeslorbeer auf die kalte Stirn.«

»So starben sie, aber diese, denen ihre Jahre noch nicht vergönnen, für ihren König zu kämpfen –«

»Können doch für ihn dulden,« fiel Etienne ein. »O, bedenken Sie Herr Ramler, welche schönen Erinnerungen bereiten diese kurzen Schmerzen den Kindern für ein langes Leben? Als Greise, wenn Friedrich längst in seinem Elysium ausruht, wenn die Generation, die mit ihm siegte, längst unter dem kühlen Rasen schläft, erhebt sie das Bewußtsein, für ihn gelitten zu haben. O, es muß eine Zeit kommen, wo der bloße Gedanke an das, was in diesen letzten Jahren geschehen ist, die Geister erhebt, und die Erinnerung den Preußen stolzer macht, wie uns heut Friedrichs begeisternde Gegenwart selbst. Es geschieht in diesem Kriege zu viel, täglich zu Außerordentliches, als daß uns das Wunderbare nicht alltäglich würde. Erst die Nachkommen werden es zu fassen wissen, wenn sie unter dem Schalten seiner Siege sich der Früchte eines Friedens erfreuen werden, welchen nur er dem Staate erwecken konnte.«

»So vertrauen auch Sie fest, mein junger Held, daß unsere Sache nicht unterliegt?«

»Wie kann eine Tat ungeschehen gemacht werden! Käme eine Weltschlacht, wo alle Völker, die jetzt vereinzelt streiten, zusammen, eine dichte Unheilwolke uns zu überschütten, ein Schlachtfeld, auf dem Preußens Jugend und Preußens Veteranen, Friedrich selbst und die Prinzen seines Heldenhauses niedergestreckt lägen von dem Eisenhagel; zertreten würde das letzte Kind, das die Adlerfahne schwingt, und die Hufe von hunderttausend Rossen zerstampften die blutgetränkte Saat von Heldenleichen, doch wäre die Niederlage kein Untergang, denn was wir getan, das löscht kein blutiger Schwamm mehr von den ehernen Tafeln der Geschichte, Preußens Reich steht nun unvertilgbar dort eingetragen und Friedrich und seine Helden leben ewig.«

Ramler drückte seinen jungen Bekannten an die Brust: »Und Friedrich könnte sagen, wenn er so besiegt würde, wie jener Alte, victrix causa diis placuit, sed victa Friderico!«

»Auch die Götter müssen sich dem ernsten Willen beugen.«

»Stille, stille, mein Freund!«

»Sie müssen, da die ewige Nemesis über seinem Haupte schwebt, den Gorgonenschild ihm vorhaltend. Er kämpft gegen diese für Licht und Recht. Die nordischen Götter, lieber Herr Ramler, sind von jüngerem Geschlecht.«

»Sie können doch auch donnern und blitzen.«

»Allein das alte Chaos niemals zurückrufen, was gewesen ist, nicht ungewesen machen. Die holde Jungfrau können sie töten in der Blüte ihrer Schönheit und Jugend, aber nicht ihr Bild vor der Seele des Geliebten. Es lebt fort bis zum Grabe. Und gibt es nicht solche Geliebte des gesamten Menschengeschlechts, deren Erinnerung ein leuchtendes Bild, ein strahlendes Beispiel, bis zum Untergang der Dinge fortleben wird? Spätfröste mögen die Götter senden, aber die allgewaltigen Keime der Natur nicht zurückdrängen. Sein Geist sinkt nicht, sein Auge wird nicht blind, selbst sein Leib scheint gleich dem des Peliden unverwundbar. Sie wissen vom Kroaten, der auf ihn zielte; nur mit dem Finger brauchte er zu winken und das Gewehr entsank dem erprüften Schützen. Das ist die Allmacht, welche von der Natur auf ihre geliebtesten Kinder übergeht: ihre Kräfte, physische und intellektuelle, strömen über auf diese einzelnen Lieblinge, ein Heiligenschein, kein Trug, es ist die Lichtblüte der Lebenssäfte, umstrahlt ihre Scheitel, es ist der Zauber großer Menschen, welche finstere Jahrhunderte für Teufelskünste erklärten, und mit dem Scheiterhaufen straften. Die finsteren Jahrhunderte sind vorüber, die neidischen Götter sind zwar dieselben und werden es bleiben in Ewigkeit, aber sie müssen sich nun in die Nacht verkriechen, das Licht versengt ihre Fittiche, und der Adler darf frei fliegen zur Sonne. O mein Freund, sagt Ihnen nicht Ihre Dichterstimme, was sie mir zuruft, der ich kein Dichter bin, auch auf dieser Welt, deren Zeitlichkeit wir nach den ehernen Stundenschlägen der Turmuhr zählen, auch hier schon wird Friedrich steigen. Noch schaukelt keine Wiege einen Geist, der geboren wäre, ihn zu überwinden. Wenn auch noch Jahre dahinrinnen ins Meer der Zeit, doch höre ich schon im Geist die Friedensglocken läuten, und in ihren reinen Metallklang mischt sich kein trüber Ton. Ich sehe seinen Triumphzug, sehe seine Helden um ihn, höre das Jubelgeschrei der Bürger und sehe uns beide, Arm in Arm, zurückdenken an diese Stunde.«

»Dem sei so,« rief Ramler und schüttelte mit ungewöhnlicher Heftigkeit beide Hände des Freundes; eine Träne stand ihm im Auge. »Laß sie dulden, laß sie dulden, die armen Jungen, laß sie frieren, sie lernen etwas. Es war mir in den Sinn gekommen, heut mit Ihnen zu büßen und mich zu kasteien wie ein katholischer Mönch. Allein ich denke, wir beide sind schon in den Jahren, wo wir die Schule hinter uns haben, wir sollen uns Mut machen für die Zukunft; ich meine darum, mein werter Freund, Sie verschmähen es nicht, mit mir ein gespartes Fläschchen köstlichen Traubensaftes zu leeren, und mit leisem Gläserklange begleiten unsere frommen Wünsche die armen Jungen auf ihrem langen Wege. Sie trinken doch Wein, Herr Stephan?«

Etiennes stumme Antwort deutete an, daß er Wein trinke. Ramler machte sich selbst auf den Weg, den gesparten Traubensaft zu holen, dem Gaste indessen alle Schätze seiner Studierstube anweisend. Der Dichter blieb lange aus, vielleicht weil von allen Schlüsseln, die er probierte, erst der allerletzte der rechte war, – das hatte er mit anderen Erdensöhnen gemein – vielleicht auch, weil die dumpfe Stille des gewölbten Kellers ihn in einen Odenschwung versetzte, den er nicht mit anderen gemein hatte. Genug, er blieb lange aus, es war still im Hause, die Stube war freundlich, nichts hinderte unseren Freund, das verhängnisvolle Siegel zu erbrechen und sein Schicksal zu lesen. Er nahm auch den Brief aus der Tasche, er musterte die teuren, wohlbekannten Züge auf dem Kuvert: »An meinen Sohn Etienne,« er las die Chiffre um die Sphinx, er drückte das Schreiben an seine Brust und las – in Ramlers Konzepten, die auf dem Tische zerstreut lagen. Er las eifrig, als lerne er die Verse auswendig. Sobald die Tritte des Wirtes draußen hörbar wurden, barg er hastig den Brief in der Busentasche. Als ihn später wieder eine Stimme anklagte: er sei furchtsam gewesen, verteidigte er sich bei seinem Richter damit, daß der Augenblick, wo er beim Gläserklange mit einem Dichter Prophetenblicke in die ferne Zukunft senden wolle, am wenigsten sich geschickt, die Siegel zu lösen einer schmerzvollen Vergangenheit.

»Ich bitte Sie um ein kostbares Geschenk,« rief er dem mit einem bestäubten Korbfläschchen vorsichtig Eintretenden entgegen. »Zur Hälfte habe ich es schon geraubt.«

Ramlers lächelnde Miene sagte, daß er den Inhalt der Bitte verstand. Sie mochte für den Dichter keine ungewöhnliche sein. »Ihr Dithyrambus auf den Adler hat mich in die Wolken gehoben. Ist er gedruckt, kann ihn ein jeder besitzen; ich bitte um etwas Besonderes, um die Handschrift, ich will das Konzept wie einen Schatz, wie ein Familiengut aufbewahren. Auf Kind und Kindeskind, wenn es so in des Himmels Ratschluß geschrieben steht, soll Ramlers Gedicht als Erinnerung an diese schöne Stunde bei ihm übergehen.«

Ramler blickte noch wohlgefälliger. »Wie könnte ich in einer solchen Stunde eine solche Kleinigkeit abschlagen! Allein, Verehrter, die Ode ist eine mitternächtliche Ausgeburt, wer weiß, ob neunjährige Feile sie geschickt macht, ans Licht der Kritik zu treten, wer weiß, ob mein Vaticinium vom Publikum gebilligt wird, nicht höchsten Ortes Anstoß erregt. Sie sollte im verschwiegensten Winkel meines Schreibpultes ruhen –«

»Auch will ich sie nicht drucken lassen.«

Ramler hatte unterdessen den rotfunkelnden Wein in zwei Spitzgläser eingeschenkt. Etienne ergriff das eine: »Dem kühnen Fluge des Adlers!« Die Gläser klangen. »Daß er nie rückwärts fliege!« – »Immer in die Sonne!« – »Demnächst, der ihn gen Himmel sandte, der Geber des teuren Geschenkes!« – Das Konzept war in die Brieftasche des Offiziers gewandert. Aber in Ramlers Auge stand eine Träne, nicht des Stolzes, nicht der geschmeichelten Eitelkeit.

»Ja, lassen Sie uns den teuren Geber des Geschenkes leben lassen. Dies Fläschchen Cyper kommt von dem edelsten Manne, ein letztes Geschenk, ehe er dahinzog, von wo er nicht wiedergekommen. Der Sänger des Frühlings sandte es mir als Abschiedsgruß. Das Gedächtnis Ewald von Kleists

Die Gläser klangen noch heller als vorhin. »Ein freundliches Gedächtnis,« sprach Etienne. »Die deutschen Dichter überlassen Sturm und Krieg den Gewaltigen und die zerreißenden Leidenschaften den Sängern der Vorzeit. Sie schwärmen für Friede und Eintracht, und der Gedanke an einen fernen Freund begeistert sie wie den Sänger der Laura zu ewigen Tönen. Das hat auch sein Schönes. Wird aber diese harmlose Glückseligkeit dauern?«

»Wir wollen, denk ich, heute nur in eine frohe Zukunft blicken,« sagte Ramler. »Und wenn auch der deutsche Genius einst in die Blitzregionen dringt, warum sollte er den freundlichen Sinn der Liebe nicht dahin mitnehmen! Doch lassen Sie uns mit diesem Glase alle trüben Gedanken hinunterspülen. Die Toten rührt nicht mehr der Jammer und wir brauchen eine heitere Aussicht. Eine gute Reise unseren armen Kadetten, und eine glückliche Rückkehr! Es sind Knaben von ausgezeichneten Fähigkeiten darunter. Und wer weiß, ob dies Mißgeschick nicht zu ihrem Wohlsein anschlägt. Frühe Leiden sind eine gute Schule wider den Dünkel; neben den Talentvollen, und gerade unter ihnen, regt sich zu meinem Leidwesen bereits der Junkerstolz. Sie träumten mir schon zu viel von der Zeit, wo das Portepee an ihrer Seite und in ihrer Hand die Fuchtelklinge glänzen soll, und es war ihnen schwer beizubringen, daß der Mut auch ohne Schläge existieren kann. Sie werden lernen, wie Schmerzen weh tun, und menschlicher gegen ihre künftigen Untergebenen verfahren.«

»Meinen Sie?«

»Sie sind selbst Offizier!« rief Ramler etwas erschrocken aus.

»Aber kein Freund des Fuchtelwesens. Die Zeiten, wo Ehre allein den Soldaten regiert, müssen noch kommen. Sie bleiben auch nicht aus, allein ich zweifle, daß Ihre Knaben Milde lernen werden, weil man gegen sie grausam war.«

»Sie werden doch nicht Unschuldige wieder entgelten lassen wollen, was Sie unschuldig litten?«

» Expellas furca naturam,« rief der Offizier.

»O schreiben Sie keine Epigramme auf die menschliche Gebrechlichkeit; die Schriftzüge des Soldaten sind verwundend genug.«

»Man schilt mich unter meinen Kameraden einen Ketzer, Schwärmer, Phantasten, weil ich andere Grundsätze verteidige.«

»Und streiten Sie mir ab, daß Erfahrung die beste Pädagogin des Menschengeschlechtes ist, auf seinem Wege zur Vervollkommnung?«

»Keineswegs.«

»Und die Erfahrung, die wir an uns selbst machen, die beste Erfahrung?«

»Um uns vor dem Feuer zu hüten, ja. Ob vor uns selbst, da liegt der Zweifel. Schöner werden unsere Städte werden, anmutiger das Leben, milder die Sitten, doch wir selbst –«

»Rastlos arbeitet die Bildung, lassen Sie den Frieden kommen, einen hundertjährigen.«

»Wird der den Wurm in uns töten, den ewigen Rebellen in der Brust, der unsere Voreltern aus dem Paradiese trieb und uns täglich noch? Und sei die Welt auch noch so schön, um uns Glück und Lust, eine Republik von Engeln, wer bringt den Frieden in unsere eigene Brust, – er ist nur da im Kampf, Glück nur in der Sehnsucht, Lust nur im Rausche.«

»In welche chaotische Regionen verirren wir uns, mein Freund?«

»Liegt nicht jedem dies Chaos so nahe?«

»Darum rühren wir es ja nicht auf!«

»Ihr Adler hat es aufgerührt. – Ist Friedrich glücklich?«

»Er wird es werden.«

»Wann?«

»Wenn er seine Feinde besiegt hat.«

»Wovon wird alsdann sein Geist leben?«

»Vom Anblick seiner Untertanen. Beneidenswerte Ordnung, Gesetze, die Wohlhabenheit des Bürgers, die Fortschritte der Kultur, das Glück aller wird sein Werk sein.«

»Wird er diese Untertanen anders betrachten, als der Matador im Schachspiel die hölzernen Puppen? Ist der Schachspieler glücklich, wenn er mit ihnen ein Spiel gewonnen und sie sauber wieder in die Schachtel packt? Umgekehrt! Der Geist ist abgemattet von der Anstrengung, er findet keine Behaglichkeit im Gedanken, ihn solange angestrengt zu haben um ein Spiel mit ungeschickt gedrechselten Figuren. Friedrichs Glück, sein Frieden dauert nur so lange er kämpft. Rettung zu finden, wo alle verzweifeln, das ist seine Größe. Aber wenn er gerettet ist, wer rettet ihn dann vor sich, wenn er überwunden hat, wer stärkt ihn zum Siegerkampfe mit sich selbst! O, er wird so groß hervorgehen, daß er so erhaben dasteht, wie der Montblanc öde und kalt über den Bergen und Fluren. Die Gewitter berühren ihn nicht mehr, die Stürme wehen vergebens um seinen nackten Scheitel, er sieht die blühenden Menschen und ihr Treiben, klein, klein, zu seinen Füßen, aber er hört nicht ihre Stimmen.«

»Hüten Sie sich, ein Dichter zu werden, Sie fallen aus den Gleichnissen.«

»Jene armen Kleinen werden kein Erbarmen lernen unter den Peitschenhieben der Kosaken; wird er die Liebe lernen, weil man sie ihm nicht bewies? Er weiß, wie Schmerzen tun, was es heißt: das Herz blutet. Des geringsten Tagelöhners Frau in seinem Reiche, darbend, in Lumpen, gichtbrüchig, aussätzig, kann nicht sagen: ›Ich habe mehr gelitten als mein König.‹ Denn, was von Leid einem Menschen kann zugemessen werden, von der Knabenzüchtigung bis zu dem Seelenschmerz, den nur erhabene Geister empfinden, er hat das volle Maß bis auf die Hefen geleert. Die rauhe Hand des Vaters lag auf seinen Schultern, er sah die Angst der Mutter, der Schwestern, ein Beil schwebte an einem Haar über seinem Haupte, er sah es sinken auf den Hals seines Busenfreundes. Hohe Schlösser kühner Jugendträume stürzten zusammen, Gift schwebte an seinen Lippen, die Welt stand gegen ihn auf, die Vernichtung öffnete mehr als einmal gegen ihn den Rachen, er hat nie verzagt, er hat überwunden und nicht geklagt. Was sind ihm die kleinen Wesen unter ihm besser, was gibt ihnen ein Recht, daß er Rücksicht auf ihren Schmerz nehme, daß er ihre Klagen anhöre. Können sie ihren kleinen Schmerz nicht verbeißen, da er seinen königlichen verbissen hat? Er ist gerecht gegen sie, er wird jedem abwägen, was ihm zukommt, doch mit der Miene eines Rhadamant. – Ist unter allen seinen Untertanen ein Geist, vor dessen Überlegenheit er Achtung fühlen muß, von dem er lernen mag, ein genialer Kopf, dessen Phantasie ihn überflügelte? Er ist und bleibt der größte an Geist wie an Würde, hoch steht er über der Menschlichkeit, deren Anforderung er nicht kennt, und allein hadert er mit sich und dem Wurme, den niemand tötet, wenn ihm nicht Beistand von außen kommt.«

Ramler sah ihn befremdet an: »Das hat noch niemand ausgesprochen. Wie kommen Sie darauf, eine so trübe Aussicht sich auszumalen, die mindestens nicht zu den Eindrücken der Gegenwart paßt? Wie kommen Sie darauf mitten im Kriege, wo alle Gedankenstrahlen auf einen anderen Fokus gerichtet sind? Wir sind nicht gewöhnt, uns den Helden allein zu denken, wenn wir ihn in der Mitte seiner Braven wissen.«

»Aber der Krieg wird ein Ende nehmen.«

»Und darf der Tapfere über den Sieg hinaus denken?«

»Ich lernte zu viel grübeln. Ein vaterländischer Fehler, Herr Ramler! Ich meinte oft nach meiner Sinnesart sonst dem Süden anzugehören; diese Neigung beweist mir wenigstens, daß ich ein echter Norddeutscher bin. Kann ich meinen Gedanken wehren, wenn ich, gelangweilt von tagelanger Rast in meinem Zelte, mir Friedrich denke in ähnlicher Lage. Welche Langeweile muß ein König haben; wie aber erst ein Friedrich, wenn er nach einem Kriege, wie der, noch dreißig Jahre in Frieden lebt!«

»Wissen Sie nicht, daß Friedrich neulich gesagt, er möchte mit jedem wohlhabenden Bürger aus der Brüderstraße tauschen?«

»Wir sind genügsame Menschen, lieber Herr Ramler, ein Gericht durch Arbeit erworben, eine warme Studierstube, ein bescheidenes Gärtchen hinter dem Hause, ein Abendspaziergang aufs Feld nach der Arbeit, ein Lied der Geliebten, eine Unterhaltung mit einem Freunde, danach kann sich sehnen, wer in der Julisonne mit blutigen Füßen neun Meilen den wunden Leib schleppen muß. Aber dem invaliden Husaren dünkt schon eine Winterruhe bei gemächlicher Pflege unerträglich! Und ein Friedrich! Ein Spott, es zu denken. O, wenn er nicht mehr wird siegen können, er wird fürchterlich sein.«

»Hat der König Sie zurückgesetzt?«

»Woher das?«

»Wie Sie zusammenfahren! Ein bitteres Gefühl hat sich in Ihre Begeisterung eingeschlichen, Sie dürfen es nicht leugnen.«

»Verleumde ich den großen Mann?«

»Das nicht. Ihre Sprache klingt mir nur fremd.«

»Er verkennt auch Sie. Er liest nicht Ihre Oden; er lächelt vielleicht über Ihren Eifer.«

Ramlers Gesicht verklärte sich ungewöhnlich. »Ich weiß. Es ist auch ein Schmerz, aber ein schon verwundener. Sie sollen meinen neuen Oden nicht anmerken, daß der sie nicht würdigt, zu dessen Ehre sie erklingen. Nicht wahr, Sie werden darum auch nicht den Abschied fordern, wenn Sie nicht avancieren, selbst wenn Sie niemals avancieren! O, Ihr Gesicht täuscht mich nicht.«

Etienne war aufgesprungen und drückte mit Heftigkeit die Hand des Dichters. »Niemals.«

»Stürmen Sie nicht so fort. Ein letztes volles Glas auf den einen, den Unvergleichlichen. Ob uns die Sonne sieht, wissen wir nicht; doch welcher Eingekerkerte wollte so töricht sein, nach Flecken in ihr zu suchen, wo er sie zum erstenmal wieder erblickt, welcher Kranke erweisen, daß sie ein kalter Körper ist, während sie seinen siechen Körper wärmt. Friedrich der Einzige lebe!«

»Ewig!« entgegnete Etienne anstoßend. Die Gläser klangen hell.


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