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Was Rabener geantwortet, als ihn das Fräulein Klinkauf am siebenten September 1759 morgens in der neunten Stunde nach dem Inhalt der fremden, eben durch die Moritzgasse nach dem Elbtor fahrenden Kutsche gefragt, davon geben weder die Dresdener Chronik noch Rabeners Schriften Nachricht. Befand sich unter letzteren eine Notiz darüber, so ist sie bei dem Bombardement, welches ein Jahr später die Moritzgasse und mit ihr Rabeners Haus und darin seine eben zum Drucke fertigen Satiren in Schutt und Asche verwandelte, mitverbrannt. Annehmen läßt sich, daß er sehr verwundert das Fräulein angehört, seine Unwissenheit beteuert, und gewiß ist, daß er aus der Unterredung keinen Stoff zur Satire geschöpft haben wird, denn das Fräulein war von Adel und kam an Hof, Rabener aber war bürgerlich und nur bei der Steuerkontrolle angestellt. Die respektvolle Zeit überließ es einer Generation, welche damals noch in den Windeln lag, ihre Narren und Bösewichter in den höchsten Klassen der Gesellschaft zu suchen, und Rabener war, wie billig, ein Mann seiner Zeit.
So viel weiß man aus gelegentlichen Äußerungen der Klinkauf, daß er die Abwesenden verteidigte, daß er ebensowohl die mögliche Absicht der gräflichen Familie, das Fräulein zum besten zu haben, als staatsverräterische Geheimnisse in Abrede stellte. Er lobte die Munterkeit des Gesellschafts-Fräuleins, »welche ihrer Zunge nur zuweilen etwas allzuviel Freiheit lassen dürfte, jedoch unbeschadet ihrer stets achtbaren Gesinnung,« und rühmte die Kenntnisse des jungen preußischen Offiziers, welcher, so viel ihm vertraut worden, die Zeit seiner Genesung zu schriftlicher Darstellung seiner Jugendgeschichte benutzt habe. Nur von der Komtesse konnte er sich nicht entheben zu äußern, daß sie etwas exzentrisch denke und handle. Was aber diese Mitteilungen verdächtig macht, ist der Umstand, daß er auch des »großen Friedrich« erwähnte; eine Äußerung, welche die Klinkauf nie vergeben mochte, weshalb man annehmen darf, daß sie dem Dichter lästerliche Gedanken in den Mund gelegt, welche seinem bescheiden vorsichtigen Sinne fremd waren.
Der Kranke in der Kutsche des Marquis sah, als der Wagen über die Elbbrücke rasselte, mit wehmütigen Blicken auf die herrlichen Ufer des breiten Stromes. »Wird Friedrichs Adler noch einmal auf diesen Bastionen wehen, oder ist sein stolzer Fittich durchschossen und sein Flug geht abwärts?« fragte sein trübes Auge, als er, so lange es ging, nach der verschwindenden Elbbrücke zurücksah. »Vorsicht!« stieß ihn seine Nachbarin an, als sie sich dem japanischen Palais und der österreichischen Torwacht näherten. »Es dürfte Sie ein Feind erkennen.« Sie wurden am Tore aufgehalten, aber die Schildwacht, der bärtige Feldwebel und der wachthabende Offizier waren mit ihren langwierigen Dienstfragen und Notaten minder gefährlich als das eine Fräulein Klinkauf.
»Aloysius Stephan Xaver, Marquis von Cabanis, Ritter eines päpstlichen Ordens, Kammerherr des Königs von Sardinien,« und einige Lehns- und Ortstitel hinterher, erfunden oder wirklich, tönten so befriedigend in das steiermärkische Ohr, daß der Offizier auch ohne die genügenden Papiere zu wohlwollender Bereitwilligkeit geneigt gewesen wäre. Ein kranker Sohn, der in die Bäder geschafft werden sollte, galt dem Österreicher für einen genügenden Grund, weshalb ein vernünftiger Mensch reisen kann, und ein Graf, der von der Residenz auf seine Güter ging, war ebenfalls in der Ordnung.
Eugenie atmete freier, als die letzte Bastion hinter ihnen lag, und die Postzüge in munterem Trabe durch die fruchtbare Ebene des Weichbildes den östlichen Höhen zueilten. Als sie langsam durch den Hohlweg hinauf fahrend zum letztenmal die Kuppel der Frauenkirche und den katholischen Dom tief unten im Herbstnebel des Tales verschwinden sahen, ging ihre Aufregung in eine stille Wehmut über. Hier durften, selbst wenn die Glocken der Residenz Sturm läuteten, keine nachgeschickten Patrouillen sie einholen. Sie zog den Schleier dichter herab und drückte den Kopf in die Wagenecke, ein Zeichen, daß sie nicht gestört sein wollte. Kaum bedurfte es desselben, da ihre Kammerjungfer durch lange Diensterfahrung zur Schweigsamkeit in Gegenwart der Gebieterin angewiesen war.
Im Jahre 1759 führte noch keine Chaussee wie heute in der Richtung nach Großhayn durch den anmutigen Laubwald. Die Sonne des Herbsttages brannte schon heiß herab, als die Reisenden erst die schilfreichen Teiche vor Schloß Moritzburg und dessen Türme zu ihrer Rechten ließen, und als sie die bescheidene im duftigen Walde versteckte Schenke, das Auerhaus genannt, erreichten, bedurften nicht allein die Postpferde, sondern auch die Reisenden schon der Erholung und Erfrischung. Stephan hatte die Kissen und Pelze allmählich abgeworfen und fühlte sich so stark, daß er selbst die Unterstützung zurückwies, als er den Versuch machte zu gehen. Amelie geleitete ihn, während Eugenie bei dem Vater blieb, scheinbar achtlos, und doch kamen die Spaziergänger ihr keine Minute aus dem Auge.
»Unbesorgt!« rief der Marquis dem Grafen zu, indem er ihn einige Schritte abwärts zog – beide waren in einem Wagen gefahren – »Unbesorgt, sie läßt nicht von ihm.«
»Sie kennen Eugenie nicht.«
»Aber die menschliche Natur und des Weibes Gemüt. Sie hat ihn gehegt und gepflegt, sie war seine Wohltäterin, seine Retterin; er kann undankbar werden, aber sie nimmermehr den vergessen, der, wie er ist, ihr Werk ist. Das Gedicht liebt nicht den Dichter, aber der Dichter das Gedicht.«
Der Graf wiegte lächelnd den Kopf, während der Marquis ein Glas Landwein, das ihm der Auerwirt demutsvoll gereicht, auf der Zunge prüfte und dann in rascher Aufwallung dem bestürzten Manne über den Kopf goß.
»Ist es möglich, daß man diesen Krätzer Wein nennen kann!«
»Ländlich, sittlich!« meinte der Graf, und wollte den Wirt befriedigen, was aber der Marquis nicht zuließ. Indem er ihm einen Speziestaler in die Mütze warf, schien er sich das Recht zu erkaufen, ihm eine Strafrede zu halten, die anfänglich gegen das saure Getränk, dann gegen allen Landwein, gegen den Weinbauer in Sachsen, gegen die Regierungen, die hier Weinberge duldeten, endlich gegen alle Länder, wo die Sonne nicht so warm schiene, um die Trauben zu reifen, losging. Als er mit einer lebendigen, vielleicht übertriebenen Schilderung der südlichen Vegetation dergestalt schloß, daß dem Zuhörer bei einiger Einbildungskraft die Fichten umher zu Oliven, die Buchen zu Feigenbäumen, die Eichen zu Palmen, die Nesseln zu Aloen und die hölzernen Pferdekrippen zu weinumrankten Ulmen werden konnten, war der Genesende wieder an die Gruppe getreten. Er nickte lächelnd mit dem Kopf und eine Röte zog über das bleiche Gesicht.
»Ist's nicht so, Etienne?« fragte ihn der Marquis.
»Ich denke weniger an die Wunder, die ich im Süden gesehen, als die ich ehemals vom Süden geträumt,« entgegnete der Offizier. »Die Sonnenglut läßt sich angenehmer von der Ferne aus denken, als in der Nähe genießen. Ich meinte als Kind, der Mensch könne nur unter den Orangenhainen Sorrentos und den Olivenwäldern von Languedoc glücklich sein. Doch seit ich die zerlumpten Bettler mit den verkohlten Augen in der schattenlosen Kampagna gesehen, und das ausgebrannte Geschlecht, das mit brennenden Blicken zwischen den trockenen Olivenwäldern des sonnenverbrannten Südfrankreichs schleicht, weiß ich erst einen deutschen Wald mit seinem schwellenden Moosteppich, seinem feuchten Grün unter dem lichten Herbsthimmel zu schätzen. Ja, wenn ich an die Mittagsstunde in den hesperischen Gärten denke, ist mir die Erinnerung an einen brandenburgischen Kiefernwald, wo die Sonne das Herz aussengt und der Flugsand schuhtief zu Staub gebrannt ist, eine wohltätige Erinnerung. Es weht doch immer ein Luftzug in den Kiefernwipfeln und sie reden eine Sprache, die wir verstehen.«
»Eine italienische Gegend muß man nur bei Sonnenuntergang sehen,« warf der Marquis rasch ein.
»Ganz Italien, meine ich, ist ein Sonnenuntergang,« sprach Stephan.
»Die Sonne kann wieder aufgehen.«
»Sie ist eine heidnische Göttin, die man dort nicht anbeten darf.«
Der Marquis, in Gedanken vertieft, antwortete nicht. Stephan fuhr fort:
»Es ist überall dort Mitternacht und hier allein ist Morgen. Nur hier weht der frische Geist der Wissenschaft und Humanität, und selbst die Kunst will ihre uralten Sitze von Athen und Rom nach unserem kalten Norden verlegen. Ich bin gewiß, in Sanssouci und Charlottenburg Schätze zu finden wie in Florenz.«
»Sind Sie auch der Meinung, Komtesse, wie unser Enthusiast?« fragte der Marquis.
»Ich traue darin Friedrich wenig Geschmack zu,« sagte Eugenie. »Ich sah ihn, als er die Dresdener Bildergalerie zum erstenmal besuchte, und man mußte sich wundern, bei welchen Schildereien der große Mann verweilte, während er beim Rafael und den Correggios vorüberging.«
»Von daher,« bemerkte lächelnd der Graf, »schreibt sich Eugenies Widerwille gegen den Monarchen. Sie ereiferte sich so öffentlich über seinen schlechten Geschmack, daß selbst unsere Hofdamen es für nötig hielten, für das gekrönte Haupt Partei zu nehmen –«
»Aus Besorgnis –« fiel Amelie ein – »daß im ganzen der schlechte Geschmack darunter leiden könne. Wie sollte ohne ihn ein Hof bestehen!« Der Offizier nahm wieder das Wort.
»Hätte Rafaels unsterbliche Hand statt der Madonna die Tugenden versinnbildlicht, welche der Große verehrt, er würde davor so lange verweilt haben, als der Galerieinspektor für nötig hält. Was kümmern ihn und uns die Heiligen und Märtyrer. Sie passen so wenig für uns als ein wundertätiges Muttergottesbild in diese alte Buche. Möchten Sie sich vorstellen, daß solch ein kleines häßliches, geschwärztes Bild in dieser Rinde stecken könnte, und die Landleute von nah und fern her wallfahren kämen, und die Pilger hier rutschten, knieten, sich segneten; daß Wachslichter brennten, Chorhemden umherzögen, Weihrauch duftete, Votivtafeln umhergingen und Tausende sich zu Boden würfen, um den Segen eines Priesters zu empfangen. Möchten Sie sich das vorstellen?«
Es fehlte nicht viel, so hätte der lutherische Auerwirt, der vorhin die Weintaufe von seinem herrschaftlichen Gaste demütig hingenommen, bei dieser beleidigenden Vorstellung sich vor Entsetzen bekreuzt. Dem Marquis entging es nicht, wie er unwillig den Kopf schüttelte und der Graf seine Augen niedersinken ließ, eine Bewegung, die andeutete, daß der Hofmann viel sagen könnte und nichts sagen wollte. Cabanis' Gedanken hatten mit Blitzesschnelle zehn Glieder einer Ideenkette durchlaufen, als er anfing:
»Der Katholizismus paßt nicht her, er taugt nicht für den Norden; die deutsche Zunge ist dafür zu schwer, das Blut zu träge, die Luft zu nüchtern und die Sonne zu matt.« Er blieb nicht bei Deklamationen stehen, er sprach sich mit einem Eifer und einer Eindringlichkeit, die, wer ihn nur aus seinen scharlatanartigen Äußerungen kannte, dem Manne nicht zugetraut hätte, über den rasch hingestellten Satz aus. Er zeigte sich bewandert in der Geschichte Sachsens, wenn er gleich etwas zu weit ging, den protestantischen Sinn des Volkes schon in dem hartnäckigen Widerstande der alten Sachsen gegen Karl den Großen zu suchen. Jede scharfe Behauptung des Marquis schien immer Eingebung des Augenblicks; der Hörer wußte sie nicht gleich mit dem vorhin Geäußerten zusammenzureimen. So hatte auch er jetzt den Anstrich eines Inspirierten, seine Augen funkelten, sein kleiner Körper war in steigender Agitation und seine Arme gestikulierten, als er die Torheit des Übergangs August des Starken zum Katholizismus auseinandersetzte. Er fragte: »Wer gab ihm ein Recht dazu, seine Religion zu ändern? War sein Volk katholisch? Schlummerten seine Ahnen auf geweihtem Boden und weigerte der Priester ihm den Zutritt? Stand, wozu er ein geborenes Recht hatte, auf dem Spiele?« Nachdem er alles dies verneint und mit glänzenden Farben die Gründe hingemalt, welche die sächsischen Kurfürsten bewegen müssen, Protestanten zu bleiben, sprang der kleine Mann auf einmal auf den fest eingegrabenen Tisch und fuhr von hier aus mit seiner Lage angemessenen Gesten fort:
»Wäre der Sachse treu geblieben der Kirche Luthers, was wäre der Preuße jetzt in allem seinem Stolze? Wem gebührte das Prinzipat in Deutschland unter den Protestanten? Dem Brandenburger an der Schwelle, oder dem Sachsen im Herzen? Dem in der Sandsteppe am öden Meere, oder dem in den lachenden Elbufern? Der angespülte Bernsteine sammelt und Fische trocknet, oder Silber und Erze aus den reichen Schachten zu Tage fördert? Dem Calvinisten aus den Alpen oder dem deutschen Lutheraner? – Warum konnte der Brandenburger seine Fühlhörner über das Reich ausstrecken, warum in seinem großen Spinngewebe die losgebröckelten Städte, Grafschaften, Herzogtümer fangen; warum schwellte der Bauch an dem mageren Leib mit jedem Jahre? War der eine zum Schlucken geboren und der andere zum Zusehen; pfiffig zu sein der eine und der andere dumm? Haben die brandenburgischen Fürsten stärkere Knochen, festere Leiber und mehr Klugheit vom Mutterleibe her, als die Sachsen? Seht, hier wäre die Weisheit und hier die Macht, hier an der Elbe würden sich die Könige beugen und die Fürsten sich Rats erholen, Friedrich von Preußen wäre nicht zweimal in Dresden einmarschiert, er wäre zerplatzt wie der aufgeblasene Frosch, wenn Augustus der Starke beim Glauben seiner Väter blieb, und Sachsens Fürsten und Sachsens Volk eins und einig.«
Die Rede hatte eine verschiedenartige Wirkung hervorgebracht. Der Auerwirt hatte jeden Satz mit einem billigenden Kopfnicken begleitet. Er hätte, als der Marquis vom Tisch sprang, ihm, wenn sich dies geschickt, um den Hals fallen mögen. Der Hausknecht hielt seine Mütze mit beiden Händen vor sich hin, denn es kam ihm wie eine Predigt vor und die Postillone krauten sich vor Erstaunen im Haar. Einer gab nachher im Vorbeifahren der alten Buche einen Peitschenhieb, was nicht sowohl dem Baume als der Vorstellung galt, daß hier ein Marienbild hängen könnte!
Der Graf hatte mit allen Zeichen der Besorgnis den Anfang der Rede gehört und sich dann scheinbar mit dem Jäger unterhalten. Stephan schien am meisten verwundert. Er wußte, daß der Marquis nicht allein katholisch war, sondern es erst geworden. Sein Eifer gegen eine Bekehrung zu seinem Glauben würde ihm unnatürlich gedünkt haben; hätte nicht alles, was der Marquis aussprach, den Charakter des Wunderlichen an sich getragen.
Am teilnehmendsten hatte Eugenie zugehört. Die Pferde waren vorgespannt. Sie forderte den Marquis auf, sie in den Wagen zu führen. Man tauschte die Plätze und die Gräfin und der Marquis schienen gegenseitig zufrieden, nebeneinander zu kommen. Gegen letzteren bedauerte der Graf vor der Abfahrt so laut, daß man es bis über den Weg hörte, seine schätzbaren Eröffnungen verloren zu haben, indem ein Geschäft mit seinem Domestiken ihn gehindert, aufmerksam zu bleiben. »Es fehlte nur, daß er die Waldhüter zusammen trommeln lassen, und die Klinkauf als Zeugin,« brummte er für sich, als er in Eugenies Wagen stieg.
Als er den Eckplatz seiner Tochter eingenommen, hatte das Kammermädchen sich so wenig als vorhin über eine zu lebhafte Unterhaltung zu beklagen. Fast auf gleiche Weise schweigsam ging es in der zweiten Kutsche zu. Stephan und Amelie waren zu alte Bekannte, um viel Unterhaltungsstoff zu finden. Nur hätte man zuweilen glauben mögen, daß beide ihre Rolle vertauscht; denn sie war nachdenkend, während auf seinen Lippen ein Lächeln schwebte, das eine innere Heiterkeit oder gar Spott verraten konnte. Sie forderte ihn auf amüsant zu sein, er erwiderte aber, sie müsse ihn schon so hinnehmen, wie ihn die Natur gemacht.
»Eigentlich begreife ich nicht, wie Sie es mir angetan, daß ich das Interesse für Sie nehme,« sagte Amelie. »Sie haben doch nichts dazu getan.«
»Das kommt, meine Freundin, weil Sie mich nicht lieben. Indem Sie mir wohlwollen, vergeben Sie sich nichts. Ich bin ein Geschöpf Ihrer Kaprize; Sie wollen mit mir etwas anfangen. Das gibt Ihrem Geiste immer neue Nahrung. Hätte ich das Glück gehabt, Ihrem Herzen einmal näher zu stehen, wäre ich Ihnen vielleicht jetzt schon überdrüssig und beiseite geworfen.«
»Das könnte wohl sein,« sprach sie rauh hin, und doch glaubte er etwas in ihrem Auge glänzen zu sehen, als sie sich rasch nach dem Fenster umwandte.
Am lebendigsten war das Gespräch in dem Wagen des Marquis. Dieser und die Gräfin hatten beide Lust zur Unterhaltung, wiewohl beide einen verschiedenen Gegenstand in Gang zu bringen suchten. Mit Geschicklichkeit wußte sie das Gespräch, welches er auf Etienne zu lenken suchte, von diesem verfänglichen Gegenstande abzulenken, und der Marquis war neben dem Phantasten ein viel zu galanter Hofmann, um gegen den Willen einer schönen Dame etwas zu verfolgen. Überhaupt bemerkten, die ihn kannten, eine wesentliche Stufenleiter zwischen seinem Benehmen. Es gab Zeiten, wo er vernünftig bei der Sache blieb, und sie so weit verfolgen konnte, daß man es mit seinem grillenhaften Aufbrausen, seinen verworrenen Ideensprüngen nicht zu reimen wußte. Die Phantasien überfielen ihn wie eine Mondsucht meist des Nachts, während der Sonnenschein seine Vorstellungen aufklärte. So war der Marquis in vergangener Nacht auf des Grafen Zimmer ein weit verschiedener Mann von dem, der jetzt an Eugenies Seite der sächsischen Patriotin wohlgefällig zuhörte.
»Sie haben eine Saite aufgeweckt, die lange geschlummert, Marquis. Was könnte mein Vaterland sein und was ist es? Der Sternenkranz dieses Preußenhelden hat uns so geblendet, daß wir vergaßen, wie unser Sachsen ebenso und mehr berufen war, ein Schildhalter zu sein über dem deutschen Norden. Ging nicht von uns die Reformation aus, wuchs sie nicht hier, gepflegt von weisen, väterlichen Fürsten; den Schulen hier schreibt man die große, schnelle, segensreiche Ausbreitung der Wissenschaften zu. Hier blühten früh Wohlstand und Künste, die Städte waren wohlhabend, der Adel mächtig, der alte Name Sachsen klang gut in der Geschichte, der Fürstenstamm war frisch und kräftig, das Volk hing mit Innigkeit an ihm. Ein Herkules an Geist und Kraft war Friedrich August. O, hätte er sein buntes Liebesspiel zu einer großen Liebesflamme gesteigert, wie hätte sie über Sachsen geleuchtet; wie wäre Deutschland groß, wenn er ein deutscher Fürst blieb! Wenn er die Eiche gepflanzt im Vaterland und nicht mit den Setzlingen gespielt, die er in aller Welt Boden steckte, nur nicht in Sachsen. Wenn er sich hinabgebeugt zu seinem treuen Volke, und sein Volk zu sich emporgehoben – was wäre das für ein Volk! Da mußte aus China und Japan die Kunst nach Dresden kommen, der Pomp aus Spanien, die Galanterie aus Frankreich, die Täuschung aus aller Welt, und um sechs Porzellanvasen verhandelte er sein bestes Regiment dem Brandenburger. Wieviel jünger ist der Ruhm des Nachbars. Aus dem verwüsteten, armen Lande, aus den spärlichen entarteten Bewohnern mußten Brandenburgs Fürsten mit Strenge, Opfer und Ausdauer erst wieder ein Volk, einen Staat schaffen. Es war kein großer Adel da und kein reicher Bürger; um die Sandwüsten nur zu bevölkern, mußten sie fremde Einwanderer und Flüchtlinge aufnehmen, anlocken. So ungleich teilten damals die brüderlichen Stämme, und nun sind wir ein Nichts in der großen Wagschale, und Preußen ist auf den Flügeln der Morgenröte emporgestiegen.«
Der Marquis hatte die Rednerin mit wohlgefälliger Miene fixiert. Zuweilen nickte er mit dem Kopfe, wie etwa ein Lehrer den talentvollen Schüler ein gegebenes Thema ausführen hört. Aber ein ungläubiger Zug lag doch in seinen lächelnden Mundwinkeln versteckt.
»Sehr richtig und woher kam das?«
»Weil wir das außer uns suchten, was in uns lag. Weil Sachsen um Polen geopfert wurde.«
»Eine Krone, mein Kind, ist ein großes Ding, was vieles rechtfertigt. Eine Krone ist zu schwer für die Krämerwage unserer hausbackenen Vernunft, um eine Krone ist viel zu tun erlaubt, was man sonst lassen müßte. Die Könige stehen über ihrem Gerichte; es ist eine Sphäre, wo unsere Sinne und Begriffe nicht hinreichen: und dort angekommen, verwandeln sie sich wie die Farben in einem Prisma. Um eine Krone läßt sich etwas einsetzen, die Ammenbegriffe von Recht und Unrecht, auch etwas mehr –«
»Auch das Wohl eines Volkes!« unterbrach Eugenie.
»Hm! Man muß nur nicht katholisch werden.«
Eugenie blickte verwundert den Marquis an. »Sie sagen das. Ich glaube, es ist kein Geheimnis, daß Sie nicht durch Geburt der römischen Kirche angehörten, daß Ihre Väter –«
»Refugiés waren –« fiel Cabanis ein – »gewiß. Warum wurden sie's?«
»Wollten Sie ihnen das Recht nicht zugestehen, das Sie für sich selbst in Anspruch nahmen?«
»Das war etwas anderes, Gräfin.«
»Sie sind nicht aus religiöser Überzeugung in den Schoß der katholischen Kirche zurückgetreten?«
»Wer will mir die Überzeugung abstreiten!« rief der Marquis, wie infolge eines Nachdenkens, dessen Schlußsatz diese Exklamation schien. »Ich bin aus der vollen Überzeugung katholisch geworden: daß ich es mußte. Was sucht der alte Vernunftglaube dort unten, wo die Sonne von dem Languedocschen Kalkboden abprallt, wo der Provenzale Lebenslust saugt aus den afrikanischen Meereslüften, die in unserem Bergkessel sich fangen und unsere Trauben glühen machen? Der Protestantismus kam nur wie ein Verirrter in unsere Täler, wo sie heißer fühlen als denken. So lange er prophezeite, schwärmte, raste, rasten wir mit. Als er sich abklärte, trieb man ihn in die Berge oder aus dem Lande. Ein kalter Alpenwind, die Bise, macht wohl alljährlich dort einen Besuch, darum aber wird das Blut nicht kühl, man hüllt sich ein, man schaudert und ist froh, wenn er fort ist.«
Eugenie hatte aufmerksam zugehört. Ihre Gedanken verfolgten die Vorstellung. Als sie schwieg, fuhr der Marquis fort:
»Mein Vater wanderte mit meinem Großvater aus. Ich wurde unter einem blassen Himmel geboren. Die Prediger predigten und die Gemeinde sang, aber in die Ohren summte mir das Geläute der vollen Glocken, das Klingeln des Meßpriesters, ich fühlte das Blut meiner Ahnen noch in meinen Adern. Hatte ich kein Recht, in mein Vaterland zurückzukehren? – Welches Recht hatten meine Väter auszuwandern? Welches Recht sich aufzulehnen gegen die Gefühle, Ansichten, Sitten der Gemeinschaft, der sie durch Abkunft und Blut angehörten? Welches Recht durch eine Anomalie das ihrer Deszendenten auf Ewigkeit zu verspielen? Indem ich zurückkehrte, meine schöne, gelehrte junge Dame, machte ich nur mein Erbrecht geltend, ein geborenes Recht, das nie verjähren kann.«
»Auf diese Weise huldigen Sie der Philosophie unseres Jahrhunderts. Sie waren indifferent, indem Sie katholisch wurden.«
»Der Geist darf sich nicht losreißen von seiner Zeit, der einzelne nicht von seinem Volke. Ich gehorchte nur, ich habe nichts selbst getan.«
»Haben Sie es nie bereut?«
Wäre Eugenie so nervenschwach gewesen, als wir sie nervös reizbar kennen, so hätte der zornige Blick des Marquis sie verwunden müssen. Es lag darin und wie er mit verzogenem Munde »Wissen Sie das auch?« hinzusetzte, etwas, das wie Hohn und verhaltene Wut herauskam. Die Hand ballte sich. Er nickte schnell und heftig mit dem Kopfe, lachte auf und pfiff mit zusammengepreßten Lippen.
»Um Gottes willen, was ist Ihnen?«
»Nichts, nichts,« sagte er, ruhiger werdend. »Sie wissen's wohl nicht. – Sie können's auch nicht wissen. – Frauen brauchen auch nicht alles zu wissen. – Ich bin nun einmal katholisch. Sie können es nicht ändern, Komtesse Meroni! Werden auch nichts dagegen haben, hoffe ich? Sie sind ja kein Soldatenkönig.«
»So wenig als dagegen, daß meines Vaters Kammerdiener die Messe hört.«
Die Unterhaltung schwieg eine Weile; auf dem Gesicht des Marquis hätte man dem Fluge seiner Gedanken folgen können. Er mochte seine Heftigkeit bereuen, drückte die Hand der Dame an den Mund, schien aber schon während der Bewegung vergessen zu haben, was er sagen wollte, ja was er getan, so daß er die Hand fest in seiner behielt, während er sich, die Augen zu, wieder in die Ecke lehnte. Plötzlich riß er das Wagenfenster herunter, rief dem Schwager zu halten und sprang hinaus, in der Absicht, dem Grafen irgend etwas zu sagen, was ihm eingefallen war. Der Graf hätte aussteigen müssen; doch glücklicherweise verstand das Kammermädchen kein italienisch. Und das Gespräch ließ sich über den Kutschenschlag abmachen. Dasselbe wiederholte sich mehrmals und doch versicherte der Graf nachher, die Impromptus seien garnicht so wichtig gewesen, um darum zu halten.