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Zwölftes Kapitel.
Der Bruder

Die Flammen der niedergerissenen Scheune leuchteten noch in die Schreckensnacht, als man die Kürassiere nach einer kurzen Ruhe und Erquickung schon wieder ihre Pferde tränken sah. Die klirrenden Pallasche an der Seite stolzierten die großen kriegerischen Gestalten in der Dorfgasse umher, halfen hier dem Bauer aus dem brennenden Gehöft ein vergessenes Möbel forttragen, dort eines, was Beute werden sollte, wieder hineinschaffen. Hier nahm einer den Dank des Landmannes hin, indem er mit stolzer Miene seinen Knebelbart strich; dort machte ein anderer sich selbst bezahlt, indem er den Arm um die Hüfte der einen hübschen Bäuerin schlang und der anderen unter das Kinn griff. In Tritt und Miene eines jeden lag das Bewußtsein weniger dessen was er getan, als was er nicht getan. Denn wie groß ist der Schritt zwischen dem Soldaten, der in der Linie Feindesland besetzt, und dem Marodeur! So mochte wenigstens dieser und jener Bauer denken, und meinen, daß auch der Kürassier unter anderen Verhältnissen auf andere Weise Hand angelegt hätte. Allein der Wachtmeister schimpfte auf das Gesindel und erklärte den Bauern, daß seine Leute Landeskinder wären, geborene Brandenburger, und die plünderten nur, wenn sie expreß Order hätten, dann aber auch ordentlich. »Im übrigen was prätendiert der Bauer in allgemeiner Kriegskalamität? Damit, daß er Heu und Hafer gibt, kontribuiert, Schnaps und Roggenbrot vorsetzt, ist's nicht abgetan. Der Krieg ist einmal ein Ding mit Feuer, und wer nicht das von Salpeter und Schwefel riechen mag, der muß sich was gefallen lassen und darf nicht zu viel schreien, wenn so ein anderes ihm über den Kopf aufflackert. Im Kriegsfeuer gehen Menschen drauf, exerzierte Soldaten, in solchem ordinären wird nur Stroh verbrannt und höchstens eine Gans geschmort. Aber es sollte, was ein rechtschaffener Soldat ist, nicht ohne Permiß brennen, das hat seine Richtigkeit, und die Marodeure, wenn Preußen darunter sind, wie sie sagen – das sind aber schlechte Preußen, versteht Ihr mich! – kommen ohne Gnade vors Kriegsgericht. Mit den anderen macht man kurzen Prozeß.«

Der Schulze sprach von seiner Besorgnis, wenn die Kürassiere abgezogen wären, da, wie verlautet, die Eingefangenen in den Schloßkellern, wo sie eingesperrt waren, zurückbleiben sollten. Der Wachtmeister beruhigte ihn durch die Versicherung, daß auch eine Eskadron mit maroden Pferden hier bleibe, um noch eine Eskorte abzuwarten. Sonst brannten ihnen die Sättel unter dem Leibe und wenn man in forcierten Märschen nach der bedrohten Hauptstadt aufbreche, sei es tunlich, nicht Malefikanten an die Schweife zu binden, indem Galgen allerwärts zu treffen, Ruten an jedem Wege wüchsen, und die Kugel, wem sie bestimmt sei, in Sachsenland wie in Preußenland treffe. »Im übrigen,« – und dabei strich er den Bart und stürzte die letzte Neige über die Lippen – »sind wir zu Dienst Seiner Majestät des Königs von Preußen, und nicht allhier im Lande, um vor des Bauern Tür Schildwache zu stehen, daß ihm der Gaudieb nicht in den Hühnerstall steigt.«

Ungefähr dasselbe, nur mit anderen Worten, mochte Stephan in dem Gespräch mit dem Obristen gehört haben. »Trösten Sie sich, Leutnant, daß Sie die schlechteste Kampagne dieses Krieges auf der Bärenhaut liegen mußten. Die Ehre war verdammt knapp und der Tod spottwohlfeil bei Kunersdorf. Es muß jetzt auf etwas Extraordinäres losgehen, sonst nimmt das Ding ein schiefes Ende, was der Himmel verhüte! Wir sind vielleicht bestimmt, eine große Affäre, die entscheidet, auszufechten, und alles Versäumte läßt sich nachholen. Dieser Krieg zehrt wie ein strenger Winter im Frost; der Nachwuchs wird schon angegriffen, und wenn sich wo ein tüchtiger Stamm unter der Schonung erhalten hat, kommt er nie zu spät ans Beil. – Die Russen machen aufs neue Miene auf Berlin, der kranke Fritz ruft. Wir wollen dahin wie der Blitz und ihnen zeigen, ob unsere Leiber eine gute Schanze sind für unseres Königs Residenz. Mich freut es, Kamerad, daß Sie sich hier losgerissen und mitkommen. Eingeschlagen auf Viktoria und Gloria vor den Toren von Berlin!«

Beider Hände drückten sich in einem kräftigen Schlage. »Wie wäre es, Kamerad,« sagte der Obrist mit leiserer Betonung, »wenn Sie sich ohne Abschied, in der Stille gleich jetzt davonmachten? – Ich folge. Ein Abschied, weiß ich aus Erfahrung, wird oft gefährlicher, als eine Schanze mit Vierundzwanzigpfündern.«

»Ich habe nur Ihre Order zu empfangen,« sprach der junge Offizier, hell seinem forschenden Blicke begegnend. »Doch seien Sie ohne Sorgen, Obrist. Wo die Ehre ruft und die Pflicht gebietet, kennt der Preuße keine andere Stimme. Nur wünschte ich –«

»Nachricht abwarten, wo Ihr Herr Vater geblieben,« fiel der Obrist ihm ins Wort. »Nicht mehr als billig. Sie muß ja in der nächsten halben Stunde eingehen. Bis dahin wird gesattelt und die Trompeten werden uns rufen. – Sie werden nicht der letzte auf dem Sammelplatze sein, wo der bedrängte Friedrich ruft –«

Stephan schlug noch einmal heftig ein. Er fühlte sich Mannes zu diesem Abschiede; daß ihm noch einer bevorstand, ahnte er nicht, als der Bursche mit dem letzten Gepäck die Schwelle verließ und er, die Bärenmütze aufstülpend, den erblaßten Tapetengesichtern im matten Flammenschein ein Lebewohl zunickte.

»Herr Leutnant,« sprach der Jäger des Grafen, ein ernster, umsichtiger Mann, der das Hausregiment im kleinen führte und des Offiziers Vertrauen genoß; er trug den Arm in der Binde, »es tut mir leid, wenn ich Sie inkommodiere: jedoch hielt ich's für Schuldigkeit, Ihnen zu rapportieren –«

»Vom Marquis –«

»Nein,« antwortete der Jäger, mit einem leisen Spott um den Mund, »von dem Herrn Marquis werden wir wohl nicht früher zu hören bekommen, als bis die Herren Preußen drei Tagereisen fort sind. – Ich führe die Schlüssel zu den Kellern und bin so gewissermaßen der Stöckler von der Bande. Und sie sitzen fest, dafür bürge ich. Aber der eine von den Rädelsführern – er liegt auch besonders und nach des Herrn Obristen Befehl in Ketten – besteht darauf, Sie, gnädiger Herr, zu sprechen, er hätte Ihnen viel zu eröffnen.«

»Mir? Was hat er mit mir?«

»Ich würde mich nicht unterstanden haben, wenn er nicht dringend gebeten, wie ich es dem Kerl nicht zugetraut. Es ist eine trotzige Natur, wie man sie selten sieht, allein der Blutverlust, er ist verwundet, hat ihn weich gemacht und es kam mir beinahe vor, als redete er im Fieber, wie er mich bat, diese alte Perlenbörse Euer Gnaden zu übergeben. Sie würden, wenn Sie auch erst nicht wollten, dann doch vielleicht wollen.«

Der Jäger erschrak fast über die Heftigkeit, mit welcher Stephan nach der Börse griff und sie zitternd betrachtete.

»Im übrigen glaube ich für ihn bürgen zu können; sein Zustand hindert ihn, etwas Tückisches im Schilde zu führen.«

Stephan hatte sich auf das Kanapee geworfen, den Kopf auf den Arm gestützt. Plötzlich sprang er auf und fragte, des Jägers Arm fassend: »Was denkt Er, daß sie mit dem Unglücklichen machen werden?«

Der Jäger blickte ihn noch verwunderter an: »Mein Herr Leutnant, ich bin hier Domestik; aber wenn ihm Ihre Kriegsgesetze nicht die Kugel diktieren, so wird er doch bei uns dem Holz – leichtestens der Karre nicht entgehen.«

»Was, Mordbrenner!« fuhr Stephan auf. »Das war halb im Kriege getan!«

»Sie müssen das besser wissen,« sagte der Jäger langsam und neigte sich, nicht ohne daß er mit dem Auge verwundert nach dem Offizier hinaufblinzelte. »Ich habe die Schlüssel bei mir; wir können durch die Wendeltreppe ungesehen nach den Kellern.«

Es war ein niedriges, enges Gewölbe, dessen Tür vor fünf Minuten sich geöffnet und geschlossen. So niedrig, daß der preußische Husar, der hereingetreten, auch ohne die hohe Federmütze an die Decke gestoßen hätte. Er saß auf einem Schemel, den Kopf in die Hand gestützt, als summe ihm noch immer der Schall der verrosteten Angeln im Ohre. Eine Laterne stand zu seinen Füßen und neben dem Schemel lag auf Stroh ein Gefangener. Eine Wunde oder die Mattigkeit hatten ihn überwältigt, er schlief. Oft schon hatte der Offizier ihm ins Gesicht geleuchtet und die Laterne wieder hingestellt. Er schien zu warten, daß der Gefangene von selbst aufwache, er hatte auch seinen Arm gefaßt, ihn zu wecken, aber sacht wieder losgelassen, als wünsche er und scheue doch den Augenblick. Man hätte eine Träne in dem Auge entdecken können, die wenig zu der Kriegsrüstung paßte, er wünschte sie eilig weg. Man hätte sein Herz können schlagen hören, aber er schüttelte mit dem Kopf, es vor sich selbst zu verbergen, und das Winseln eines Hundes draußen, der an dem Gitterloch scharrte, tönte stärker durch die Stille der Nacht als die Herzschläge.

Der Hund hatte den Unglücklichen geweckt, nicht der Offizier, der, den weißen Mantel um das Gesicht geschlungen, wie ein Bild aus Stein dasaß. »Bist du da?« sagte der Gefangene und schnalzte mit den Fingern. Er meinte das Tier und raffte sich halb erschreckt – wenn der Schreck zu einem solchen Wesen paßte – auf. Er strich das Haar aus dem Gesicht und schlug das Auge auf nach dem Besuch. Stephan ließ den Mantel sinken, ihre Augen trafen sich. Der Lichtschein zitterte zwischen den Gesichtern, zwischen dem bleichen, jugendlich schönen des Offiziers, nur von einer Wolke der Schwermut schattiert, und dem gedrungenen festen des Missetäters, umstarrt vom struppigen Bart, von Furchen zerrissen, wo Roheit und Stumpfsinn längst ihre Stempel aufgedrückt und nur im großen Auge noch ein Strahl vom bessern Sonst zu suchen war. Voll starrte dieses den anderen an, nur halb erwiderte Stephan den Blick, sein Auge suchte in dem leeren Dämmerraum nach einer glücklicheren Erinnerung. Der Lichterschein zitterte, aber auch seine Hand zitterte und, das Gesicht noch abgewandt, öffnete sie sich unwillkürlich gegen den Verbrecher. Er sah es nicht, oder wenn er es sah, wagte er nicht zuzugreifen. Er stierte hin auf das edlere Wesen, es mochte lange her sein, daß eines der Art ihm nahegekommen war. So starrt man Erscheinungen aus einer anderen Welt an, man sieht, aber man fürchtet sie nicht. Dies Gefühl, wenn noch eines in ihm lebte, hatte der Mensch verlernt. Es konnte einmal ein Silberblick der Empfindungen auf diesem Metall geleuchtet haben, jetzt war es lichtloses, schweres Blei. Es brauchte die konvulsivischen Zuckungen des Wundfiebers, um die Funken der Empfindung aus dem dunklen Bodensatz vorzulocken.

Es war ein Gefühl, dem er keinen Namen zu geben wußte – und doch war es im Grunde nur Furcht – was den Offizier zwang, als er die inhaltsschwere Stille durch die Frage unterbrach: »Was willst du?« – Das »von mir« erstarb auf den Lippen.

Der Mensch schnalzte wieder mit den Fingern und lockte dem Hunde. – »Das ist mein Hund da.«

»Riefst du mich um den Hund?«

»Das ist ein gutes Tier. Besser als mancher Mensch.«

»Der Hund ist kein Mordbrenner und kein Dieb,« schauderte Stephan.

»Ich habe auch noch nie gestohlen.«

»Was willst du – von mir?«

»Ich wollte Sie nur bitten um den Hund – er gehört mir – ich hab' ihn mir auferzogen von klein auf – wahrhaftig von klein auf – der Schuft von Jäger will ihn wohl für sich behalten.«

»Es wird jedem hier sein Recht.«

»Dann können sie ihn doch zu mir lassen. Der Hund hat die Scheunen nicht angesteckt.«

»Unglücklicher, willst du sonst nichts, nichts mehr von – mir, als den Hund.«

Der Gefangene schwieg. Er blickte den Offizier an, dann den Boden, dann lockte er mit der Zunge, es war ihm aber nicht Ernst.

»Meintest du, daß ich darum kommen würde.«

Er schwieg.

»Weißt du, wer ich bin?«

Er schlug noch einmal die Augen in die Höhe, um sie dann auf das Stroh unter seinen Knien wurzeln zu lassen.

»Du weißt es?« wiederholte Stephan bebend.

»Ich wußte es wohl, daß Sie kommen würden, was auch der Jäger sagte. Der Jäger ist ein schlechter Kerl.«

»Gottlieb!« entfuhr es den Lippen des Offiziers, weicher als er wollte. Der Gefesselte fuhr zusammen. Die Fieberglut fing an ihn zu schütteln. Es blitzte in den großen Augen, das Blut pulsierte durch die Wangen. Die Lippen bewegten sich, die Brust hob sich, aber er schwieg.

Die Tränen stürzten dem glücklicheren Bruder aus den Augen, er war nicht mehr Mannes genug, um es bei diesem Abschiede zu bleiben. »Gottlieb!« wiederholte er weich wie vorhin. »Daß ich dich so wiederfinden muß.«

Die Ketten rasselten. Ein Hund, der seinen Herrn lange Jahre nicht sah, nun seinen Tritt hört, die Tür sich öffnen, ihn über die Schwelle treten sieht, ihn erkennt, stürzt auf ihn los und möchte in der Heftigkeit seiner Freude den Wiedergefundenen durch seine Liebkosungen umbringen. Der noch eben sich mit dem Fuße treten ließ, unermüdlich den zehnmal hingeworfenen und wieder entrissenen Stock apportiert, im tierischen Stumpfsinn nicht merkt, daß man ein müßiges Spiel mit ihm treibt, denselben durchzuckt elektrisch ein Etwas, das ihn über das Tier erhebt. Auf deren Lockung er noch eben herangekrochen, sich niedergedrückt, über den Stock gesprungen, sind für ihn nicht mehr da. Die Erinnerung hat den Hauch des Gefühls erweckt, es zeigt sich in halbem Wahnsinn, er lebt nur für seinen Herrn, er heult, er kläfft, er springt, er winselt, nur um ihm sich zu zeigen, ihm zu beweisen, daß er da ist, daß er ihn erkennt. Es ist nur ein Fieberzustand; wenn ihn der Herr gestreichelt hat und sagt: »sei ruhig!« ist er wieder Hund wie vorhin.

Die Ketten rasselten und der Gefangene hielt den ihm hingehaltenen Arm. Glich seine Heftigkeit, wie er zufaßte, der Freude des treuen Haustieres, so war das doch nur der erste Moment. Der Mensch gewordene wollte den wieder gefundenen nicht zerreißen, sanftere Gefühle durchbebten ihn, er oder das Fieber in ihm zitterte, sein Auge blickte freundlich, es lösten sich erstarrte, verschlossene, begrabene Gefühle. Der sprach, war nicht der, der er zehn Jahre lang gewesen, es war ein anderes Ich, das er selbst vergessen, das unwillkürlich, gegen seinen Willen, lebendig wurde. Es war kaum seine Sprache, als er sagte: »Ich hatt' es mir wohl gedacht.«

»Daß ich dich wiederkennen würde, Gottlieb?«

»Sie haben mich Ruten laufen lassen, mir den Kragen abgetrennt, mich ausgestoßen, mit Füßen getreten, und ein so vornehmer Herr kennt mich doch wieder! Gott lohne es Ihnen.«

»Gottlieb, wir – nannten uns sonst Du.«

»Ach, und Sie sind jetzt ein vornehmer Offizier und ich bin nicht mal Gefreiter geworden.«

»Wir sind Brüder,« sprach Stephan und drückte den Kopf des Gefangenen mit beiden Händen.

Wo bei starken Naturen ein lange unterdrücktes Gefühl endlich ausbricht, ist es kein sanft rinnender Bach, es ist ein Strom, der die Ufer mit sich fortreißt, ein Vesuv, der lange Verhaltenes, trübe, dunkle, gärende Stoffe auswirft. So brach es aus, Freude, Schmerz, Selbstanklage, Flüche. Was sie da gesprochen, was sie sich gefragt, wußte keiner nachher. Wer entsinnt sich in der Nüchternheit aller Worte im Rausche. Wilde Ausdrücke, Verwünschungen wechselten mit einer Weichheit der Sprache, die niemand dem rohen Soldaten zugetraut hätte. Es war nicht Gottlieb, es war ein wunder, fieberhaft schwacher Mensch. Reste einer dunklen Erinnerung sprachen mit. Hätte er sich außer sich versetzen können, er hätte sich selbst nicht gekannt.

»Ich habe es mir immer gesagt und gedacht: er vergißt mich nicht« – fuhr er weich in raschem Redeflusse fort, nachdem die ersten wilden Ausbrüche vorüber, »ich habe ihn ja auch nicht vergessen. Der kleine Fritz war mein einziger Freund im Hause, – er hatte einmal geweint für mich und für mich gebeten. – Mir ist nie mehr von Hause etwas Liebes geschehen und ich mochte nie mehr zurück.«

Stephan trocknete eine Träne und machte eine abwehrende Bewegung.

»O, mein lieber Herr Rittmeister, oder was Sie sind, lassen Sie mich ausreden. Das wußt' ich dazumal schon, daß ich nur ein gemeiner Mensch würde, und Sie würden einmal ein vornehmer Herr werden. Ach, ich weiß noch recht gut, wenn Sie's auch vergessen, ich war ja viel älter als Sie, wie ich Sie bat, daß Sie mir dann nicht den Rücken kehren möchten und sich des armen Gottlieb erinnern. Ich bin nun ein schlechter Kerl und Sie sind ein vornehmer Offizier und nun sind Sie doch bei mir.«

»Du hast an mich in der langen Zeit gedacht!«

»Und Sie schämen sich nicht, was Ihre Herren Kameraden sagen werden, Sie haben mir die Hand gegeben, und sich nicht vor meinen Ketten erschreckt.«

»Unseliger, ich kann dir dein Leben nicht wiedergeben.«

»Sie haben mir beigestanden, und wußten es nicht. Ich war Ihnen schon immer gut, aber als ich wußte, Sie waren fortgelaufen, da ward ich Ihnen doppelt gut. Ich spitzte mich, ich würde doch manchmal mit Ihnen zusammentreffen; aber da wurde es immer schlimmer mit mir. Ich war nun mal tückisch. Wären Sie bei mir gewesen, ach Gott, es wär' gewiß anders geworden, aber es war ja keine Seele da, die mir ein freundlich Gesicht machte. Die traktierten mich alle als Taugenichts, bei dem kein gut Wort einschlüge. Das will ich ihnen noch gedenken! Und wie sie's gaben, so gab ich's wieder. Ach, Sie sind gewiß ein gütiger Offizier und lassen nicht schlagen, als wenn's einer verdient. Sie hätten mich fuchteln lassen können und Gassen laufen, so viel Ihnen beliebt, aber Sie hätten dann ein freundlich Gesicht gemacht und es wäre wieder gut. Nicht wahr, Sie hätten mich auch zum Burschen genommen und Ihnen wär' ich ein guter Bursch gewesen, ich hätte es keiner Seele sagen wollen, daß ich Ihr Bruder war, und es wär' dann alles anders gekommen.«

Stephan wußte keine Antwort auf die Fieberrede, er hielt sich die Augen. Aber es war, als würde dem Gefangenen durch das Schnellreden die Brust erleichtert, die rauhe Stimme immer weicher. Der starke Mann zitterte am ganzen Leibe.

»O wissen Sie, ich habe es nie aufgegeben, Sie zu sehen, aber ich meinte, Sie wären bei den Kaiserlichen. Ich hatte oft gedacht, wenn ich auf Vorposten stand, du wirst ihn einmal zu Gesicht bekommen. Wenn sie einen österreichischen Offizier einbrachten, lief ich zu und hoffte immer meinen Bruder zu finden. Sie müssen mir das nicht bös anrechnen, lieber Herr; ein armer Soldat, der sonst nichts auf der Welt hat, der behält das bißchen Gutes, was er mal erlebt, lange im Sinn. Es ist nicht so, wie mit vornehmen Herrschaften und Offizieren, denen täglich was Gutes in den Mund gelaufen kommt, die vergessen das bald, was bei unsereinem lange aushält.«

Als Stephan im Mantel verhüllt dagesessen, hatte er Worte aneinandergereiht und eine Strafrede gewußt für den Bruder, den er als Verbrecher wiedergefunden. Für den Unglücklichen, um dessen Brust die harte Rinde gesprungen von der sanften Berührung einer Erinnerung, für den Bruder war jedes Wort zu hart. Mochte es Wahnsinn sein, Fieber, Trunk, das ihm diese Sprache eingab, es war eine Sprache, die überwältigte.

»Ach, Gottlieb, wenn ich dich retten könnte!«

»Ich weiß wohl alles, was ich verdient habe, und Sie müssen Ihre Pflicht tun. Ich war aber kein schlechter Soldat, wahr und wahrhaftig nicht, das muß ein Hundsfott sein, der mir das nachsagt! Ich habe mich brav gehalten, lieber Herr Rittmeister; aber vertragen konnte ich nur nichts, und ließ nichts auf mir sitzen. Das war mein Unglück. Die verfluchten Fuchsschwänzer! Ja, wenn ich sie hier hätte!«

»Unglücklicher, du warst bei einer Räuberbande!«

»O, das waren brave Kerls!«

»Wie kamst du zu ihnen?«

»Sie wollten mich ja nicht mehr haben. Ich konnte nicht federfuchsen und ein hübsch Gesicht machen, wenn der Rücken mir weh tat, ich wußte nicht, warum ich nicht trinken sollte, wenn ich durstig war, und wegspielen, was mein war, und der Bauer besser leben sollte als ich. Sie trauten mir nicht. Zehnmal hatten sie's mir versprochen: ich sollte Unteroffizier werden. Ja, da sollt' ich das tückische Bauernvolk streicheln. Dazu hatte ich nicht Lust; dazu hatte ich nicht meinem König geschworen. Die Sächsischen sind meines Königs Feinde. Meines Königs Feinde sind auch meine Feinde. Da trauten sie mehr solchem hochgräflichen Fuchsschwänzer als einem alten Soldaten. Aus der Linie haben sie mich gestoßen, laufen mußt' ich, ins Lazarett warfen sie mich, in den Troß sollt' ich – da gehört' ich nicht hin, ich hab's Feuer nicht gescheut –«

»Du hast Feuer angelegt, Gottlieb.«

»Nicht wahr, das brannte gut!«

»Unseliger, was tat dir der Graf.«

»Der just hat's um mich verdient. Das ist jetzt so abgeblitzt, aber dem steige ich noch mal zu Dache. O ich will pfeifen.«

»Die Gräfin war einst deine Wohltäterin.«

»Der hab' ich nichts tun wollen, wahrhaftig nicht, lieber Herr Rittmeister. Sie können mich fuchteln lassen aufs Blut, ich habe nichts Böses im Sinn gehabt. Sie hat mir ja den Geldbeutel zugeworfen; ich wußte damals noch nicht, daß Sie der Herr Offizier waren, der mit den Frauenzimmern war. Und wer mir was tut, das vergesse ich nicht, Gutes und Böses. Ich bin ein schlechter Mensch, aber ganz schlecht bin ich auch nicht.«

»Du fühlst keine Reue über die Verwüstung. Du kannst ruhig die Flammen ansehen, die das Gut von so vielen hundert Leuten verzehrt haben.«

»Das sind unsere Feinde, lieber Herr Rittmeister, und keinem Preußen habe ich nichts nicht getan. Das Feuer tut mir just nicht leid, denn als ich oben stürzte und die Flammen so hell durchs Fenster Ihnen ins Gesicht schienen, da wurd's mir erst klar, daß Sie mein kleiner Bruder waren, und da hätt' ich keinen Schlag mehr gegen Sie tun können, wenn's auch mein Tod gewesen wäre.«

Und auch Stephan wurde erst jetzt klar, was lange wie trübe Bilder einer erhitzten Phantasie ihn umgaukelt. Das Gespenst und der verlorene Bruder wurden eins, der Verbrecher verschwand. Was ihm die Flammen nicht gezeigt, verriet ihm die Kerkerfinsternis: Sein Bruder wäre ja beinahe von seiner Hand gefallen. Er bückte sich, er drückte das Haupt des Gefesselten an seine Brust, als wolle er sich versichern, daß jener wirklich lebte, daß er kein Brudermörder war. »Der Himmel vergebe denen,« sprach er halb leise, »die dich dazu zwangen!«

»Und nun, lieber Herr« – hub der Gefangene nach einer Pause an, – »wollen Sie's denn nun tun? Es kommt eigentlich wohl 'nem Arrestanten nicht zu; aber da Sie so gütig sind, so tun Sie's doch wohl?«

»Was bittest du?«

»Um den Hund. Wenn der sprechen könnte, er sagt' es Ihnen, daß ich ihn nicht gestohlen habe, sondern wir waren immer miteinander.«

Als Stephan gerührt schwieg, und Gottlieb glauben mochte, er nehme Anstand, setzte er hinzu: »Er hat Sie zwar angefallen, aber bedenken Sie doch auch, daß es von ihm nicht schlecht war. Hätt' ich gewußt, wer Sie waren, und es wäre jemand Ihnen zu Leibe gegangen, ich hätte just getan wie der Hund –«

Er sprach es nicht aus, daß es ja der Hund war, der den Bruder vom Brudermorde abgehalten. Stephan versprach es ihm so hastig leise, als schäme er sich, ihm nicht mehr zu versprechen. Der Offizier erkundigte sich nach seiner Wunde. »Die ist wohl leicht geheilt,« war die Antwort, doch mehr über die Zukunft schien er nicht denken zu wollen, es kümmerte ihn nichts. Die fieberhafte Erleuchtung ging vorüber, nachdem sie ihren Gipfelpunkt erreicht, der alte Stumpfsinn trat wieder ein, vielleicht um so stärker, je größer die Aufregung gewesen. Es war etwas, das Stephan mehr in dem Augenblick schmerzte als das Los, das seinem Bruder bevorstand. Dies Los abzuwenden, war nicht ganz unmöglich – aber gelang es ihm, den Bruder vom Tode zu retten, was rettete den Menschen? War da kein Funke eines besseren Daseins zu wecken? Hatten die Schläge seines bitteren Schicksals die Wurzel seines Lebens getroffen? Wollte sich nicht mehr Reue als die spärlichen Äußerungen zeigen, welche die Bruderliebe, auch halber Instinkt nur, hervorgerufen? Die Erinnerung lebte doch in ihm. Er versuchte die Pflichten gegen den Vater, das Elternhaus, die Gespielen der Jugend anklingen zu lassen. Vergebens. Gottlieb schüttelte den Kopf; er entsann sich nur des Unangenehmen, ach und es war so viel, dessen er sich entsinnen konnte. Der Geist der Rache durfte bei dem Rohen nicht geweckt werden. Moral und Religion, in spärlichen Brocken empfangen, wie konnten sie aushalten durch fast zwanzig heiße Kriegsjahre! Er wollte die Hoffnung beschwören – Gottlieb hoffte nichts – die Liebe – sie lag im Grabe und zwanzig Winter hatten eine Eisschicht drüber gezogen und das Eis war liegen geblieben in dem kurzen Sommer dazwischen.

Man hörte die Stimmen einiger Soldaten. Sie sangen Strophen aus einem traurigen Liede, eine barocke Auffassung von Schwerins Tode, aber von unbeschreiblicher Wirkung, wenn ganze Kompagnien es auf ihrem Marsche anstimmten, einzelne Vorsänger die Inhaltsverse vortrugen, und dann der volle Chorus in den Refrain: »Schwerin ist tot« einstimmte. Es lautete vollständig, wenn man auch hier nur den ersten Vers hörte, wie folgt:

Schwerin, mein General, ist tot,
            Schwerin ist tot!
Sie luden in eine Kanone ein,
Vier Kugeln, schwarz, wie Pech und Stein,
Vier Kugeln in der Prager Schlacht
Die haben meinem General den Tod gebracht.
            Schwerin ist tot.

Als der Kanonier sie laden tät
Ein Pfaff aus Welschland bei ihm steht.
Was macht der Pfaff beim Kanonier?
Der Pfaffe betet im Brevier.
            Schwerin ist tot!

General Schwerin ergriff die Fahn'
»Allons, Grenadiers, ich geh' voran!«
Vier Kugeln ach von heißem Blei
Die rissen dem General die Brust entzwei.
            Schwerin ist tot!

»Mein Feldmarschall; was stehen Sie dann still,
Da jeder brave Preuße Ihnen folgen will.« –
»Vier Kugeln, ach von heißem Blei
Die rissen mir die Brust entzwei.«
            Schwerin ist tot!

»Sie luden in eine Kanone ein,
Vier Kugeln, schwarz wie Pech und Stein.
Ein Pfaff aus Welschland stand dabei
Und sprach den Segen auf das Blei.«
            Schwerin ist tot!

»Die Kugeln drangen ins preußische Herz
Die Seele geht nun himmelwärts.
Dieweil ich geliebt meinen König und sein Land
Und war ein guter Protestant.«
            Schwerin ist tot!

Er sank, die Fahn' in seiner Hand,
Wie ein guter Preuß und Protestant.
»Es lebe mein König!« rief er noch
Und hörte die Siegestrommeln noch.
            Schwerin ist tot!

Das Bajonett vor, zum letztenmal
Grüßten wir unseren toten General.
Wir schworen, kein Pfaff und Kanonier
Der kriegt von uns vor Prag Quartier.
            Schwerin ist tot!

»Ach, Pfäfflein,« sprachen die Kaiserlichen,
»Kratz aus, sonst ist's um dich geschehen,
Das sein die preußischen Grenadier,
Die geben keinem von uns Quartier!«
            Schwerin ist tot!
Schwerin, mein General, ist tot.
            Schwerin ist tot!

Gottlieb richtete den Kopf auf, seine Augen leuchteten: »Schwerin ist tot!« – rief er. »Schwerin war mein General!«

»Warst du bei Prag?«

»Ich war hinter ihm, als er fiel. – Das war ein schöner Tag,« – und nun erwachte noch einmal das Feuer, der Stumpfsinn wich einer feurigen Erinnerung; Stephan hörte entzückt nicht auf seine Worte, die den Sieg schilderten, nur auf den Ton seiner Stimme. Es lebte noch etwas in dem Bruder.

»Du bist noch ein Preuße?«

»Bis an mein Ende.«

»Du liebst den König?«

»Mit Leib und Seele.«

»Es geht ihm schlimm. Er liegt krank. Die Feinde rücken auf Berlin. Wer Arme hat, muß sie rühren. Gottlieb, wenn du frei wärst, würdest du alles einsetzen?«

»Leib und Seele für meinen König Fritz!« rief er, mit den Ketten rasselnd.

Doch in dem Augenblick schmetterten draußen die Trompeten der Kürassiere, sie riefen durch das Dorf. Friedrich rief. Der Gefangene sprang auf. Sein halbes Leben hätte Stephan darum gegeben, wenn er des Bruders Ketten damit losgekauft. »Mutig, Gottlieb,« sprach er, ihn an die Brust zum letztenmal drückend, »wir sehen uns nicht zum letztenmal. Mutig, dein König lebt und du bist ein Preuße!«

Der Offizier hielt die Geldbörse in der Hand, als er die Kellertür zudrückte, doch statt des gräflichen Jägers schulterten jetzt zu seinem Schrecken zwei Kürassiere vor der Treppe. Er besann sich; die fremden Gestalten blickten ihn ehrerbietig, aber stolz an, die Börse blieb in seiner Hand. »Es ist nur ein Weg,« rief er und flog durch die Gänge.

War es Zufall, war es mehr, daß ihm Eugenie allein im Saal begegnete. O, wie viel milder war der Blick, wie anders reichte sie ihm die Hand zum Abschied, wie bebte die edle Gestalt, die sonst in stolzer Würde daherschritt. Ihr Arm, ihr Auge zeigte auf die Reihen der Kürassiere draußen. Die Pferde stampften ungeduldig, die Trompeten riefen fort und fort, die Harnische flimmerten rötlich im Schein der ersterbenden Flammen.

»Glauben Sie eine Schuld an mich zu haben,« sprach der Offizier, ihre Hand fassend, »Eugenie, Sie könnten mir jetzt ein Leben bezahlen durch ein Versprechen.«

»Mein Leben wollte ich geben,« antwortete sie, »ein Versprechen ist ein totes Wort.«

»Ein teures Erbteil laß ich Ihnen, mehr als ein Leben. Der Unselige in Ketten ist ein Verworfener, aber noch nicht ein Verlorener, er soll mehr für Sie sein, als wär' ich es selbst, er ist – mein unglücklicher Bruder. Er scheidet uns auf immer, aber er knüpfte auch einen heiligen Bund zwischen uns. Was ich nicht mehr kann, versprechen Sie es mir. Retten Sie ihn mir – sich selbst, – seinem Könige – es ist das teuerste Vermächtnis, Eugenie –«

»Und soll mir heilig sein« – rief sie an seinem Halse. Es wurde kein Wort mehr gewechselt, kein Laut kam von ihren Lippen, kein Lauscherauge störte den stummen, langen, schmerzlichen, süßen Abschied. Erst als die Trompeten in lang ausholenden, fast zürnenden Tönen, wie schneidende Instrumente, die Arme, die Lippen, die Herzen voneinander gerissen und der Krieger schon auf seinem Pferde saß, trat Amelie still herein und ließ die Freundin an ihrer Brust das glühende Gesicht verbergen, und beide horchten stumm, bis die Hufschläge nicht mehr dumpf herübertönten und die letzten Trompetenstöße in der Heide verhallten. Da erst fand Eugenie Tränen, Amelie noch keine Worte für die Freundin.


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