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Zweites Kapitel.
Der ›Hungrige Wolf‹ und der ›Tote Mann‹

Der Himmel umzog sich gegen Nachmittag, die Heide wurde immer trauriger, der Luftzug, der vorhin monoton die hohen Wipfel bewegte, wurde zum Sturm, der sich in das düstere Nadelmeer der Büsche warf. Auch die Reiter zogen die Mäntel dichter um und ließen die Augen vorsichtiger umherschweifen, denn der in den Waldschluchten gefangene Wind konnte wie ein Signal, wie ein Hurraruf oder wie eine galoppierende Schwadron klingen. Die Pferde waren angegriffener als man gehofft; der Sand, immer lockerer, kostete ihre wiedergewonnenen Kräfte, und die Anstrengung, die spärlichen Flecken festeren Bodens an den Seiten aufzusuchen, ermüdete auf die Dauer. Stephan meinte, da nichts als Kiefern und Kiefern und wüste Heide dem Auge begegneten, sie hätten sich verirrt. Der Kamerad schüttelte den Kopf: »Die Irrung liegt in uns. Die Heide ist verrufen, seit man von Sachsen und Brandenburgern weiß. Aber wir reiten nun schon wieder zwei Stunden und haben noch kein Strohdach, nicht mal ein Buchweizenfeld gesehen.«

»Es ist die Wüste, die beide Kurfürstentümer trennt, damit keines Geschmack am andern bekommt.«

»Und kein Menschengesicht, um es nach dem Wege zu fragen.«

»Traue meinem Bruno, er ist hier geboren.«

»Aber das Zwielicht kommt schon. Wir müssen die Nacht im Sande kampieren.«

»Sind wir nicht in der Sandbüchse des heiligen Römischen Reiches! Langsam ist deutscher Charakter.«

»Aber auch sicher. Bei jedem Schritt gleiten wir um einen halben zurück.«

»Dafür brauchst du vor keinem Erdbeben bange zu sein.«

An einen freien Fleck gelangt, warf sie ein Windstoß so heftig, daß sie sich mit Mühe auf den Pferden hielten und die Tiere selbst sich geduckt an die dichte Waldseite lehnten. Die dunklen Wolken jagten am Horizont, eine große Kiefer, einsam, in der Mitte des Haues, kämpfte mit ihren knorrigen Ästen gegen ihn. Man glaubte bei jedem Stoß, sie müsse brechen, aber es sank kein Ast, und jeder schnellte, sobald der Sturmwurf vorüber, in seine vorige Stellung zurück.

»Eine Buche hielte das nicht aus,« sagte Stephan.

»Du liebst,« entgegnete der Kamerad, »Gleichnisse. Die Brandenburger sind wie ihre Kiefern. Ein junges Geschlecht, wächst schnell auf, haben an wenigem genug, sind nicht schön, aber fest, zäh, unverwüstbar. Lassen sich vom Sturme biegen, aber nicht umwerfen, sie waren niemals frühlingsgrün, sind aber immer spitz wie ihre Kiefernnadeln.«

Ein Windzug durchbrach auf einen Augenblick die mannigfachen Wolkenschichten, ein gelbes Regendunstlicht beschien die hohe Kiefer, die ihre ungekränkten Äste, wie sich erholend von dem Sturmangriff, schüttelte und wiegte und bald wieder ruhig wie vorhin stand. Der verschlungene Wuchs der Äste, kühn ausgestreckt in die Lüfte, die braune Rinde glänzend vom Abendlicht gerötet, die träufelnden Nadelzweige, der zerrissene Horizont, die Stille um die einsame, hoch hervorragend über das Zwerggestrüpp, es war ein stolzer Anblick. »Das ist Friedrich selbst,« rief der Kamerad, halb lachend, halb ernst, »er schüttelt sich von einer verlorenen Schlacht und keiner glaubt es ihm, daß er geschlagen worden. Siehst du, Gleichnisfreund, alles ist hier Charakter.«

Ihr Bursche, der immer voraufritt, meinte nach einer Weile, sie erreichten doch nicht mehr den Marktflecken Buchholz vor Nacht. »So betten wir uns hier unter Regenwolken und auf Kiefernnadeln,« sagte der Chevalier. »Das ginge im Kriege schon an, allein wo was von den Bäumen zu beißen und zu brechen schütteln? Und wenn wir es aushielten, am Patriotismus zehrend, wie aber unsere Tiere, die uns spätestens morgen abend nach Berlin tragen sollen?«

»Ist keine Hütte, keine Köhlerwohnung in der langen Heide?« fragte Stephan.

»Es ist schon!« antwortete Bruno. »Wir können beim ›Toten Mann‹ ansprechen, oder im ›Hungrigen Wolf‹. Da müssen wir rechts und da links.«

»Was ist das?« fuhren beide Freunde auf.

»Man tut's sonst nicht gern,« antwortete der Diener. »Essen haben Sie nicht beim ›Toten Mann‹ und beim ›Hungrigen Wolf‹ auch nicht, und Trinken vollends nicht, aber's ist doch schon besser beim ›Hungrigen Wolf‹ als im Freien.«

Die Kameraden erfuhren von dem der Gegend kundigen Burschen, daß die ominösen Namen den beiden bewohnten Gehöften angehörten, welche noch jetzt die einzigen Stationen in der großen Luckauer Heide bilden. Als Heidekrüge zwischen dem Preußischen und Sachsen wurden sie doch von den Reisenden und Fuhrleuten vermieden, teils, weil nichts zu finden sei, teils, weil sie im Ruf schlechter Herbergen für allerlei Gesindel ständen. Woher die Namen kamen, wußte man damals so wenig als jetzt.

Man entschied sich für den ›Toten Mann‹, obwohl Bruno mehr für den ›Wolf‹ stimmte.

»Der ›Tote Mann‹ hat doch gefunden, was wir alle suchen,« sagte der Kamerad, »während der ›Hungrige Wolf‹ nach dem noch immer sucht, wonach uns jetzt vor allem verlangt.«

Sie trabten in der einbrechenden Dunkelheit fort; doch war es schon völlig Nacht, als sie vor dem Heidekrug vom Pferde sprangen.

»Küsse die Schwelle,« sagte der Kamerad, als ihnen nach langem Pochen geöffnet wurde. »Es ist die erste preußische Diele unter dir.«

Doch wäre unser Freund auch dazu geneigt gewesen, der Anblick des häßlichen Kindes im groben Hemde, wie es eben aus dem Bett gesprungen, verschlafen und verdrossen ihnen mit dem Kienspan ins Gesicht leuchtete, der Schmutz, die verdorbene Luft, das Schnarchen der Schlafenden verdarb ihm die Lust. Er spürte sogar eine, stehenden Fußes umzudrehen und sich im Freien eine lockendere Schlafstelle zu suchen, als sie diese einzige Wohn-, Putz- und Gaststube versprach. Allein der Freund riß ihn lachend herein: »Es ist das Vaterland, Stephan.«

Die Kienfackel, in eine Lehmritze gesteckt, ließ jetzt die Stube und ihre Bewohner, nicht zum Vorteil beider, erkennen. Verschiedene Gesichter und nackte Beine wurden sichtbar auf den Ofenbänken und in zwei großen Himmelbetten. Der kleine Gnom, der ihnen geöffnet, war schnell wie der Blitz, ohne sich um die Gäste zu bekümmern, in das eine gekrochen, während jetzt aus dem anderen eine noch häßlichere Alte, dem Anschein nach die Mutter, den Kopf vorsteckte und von den Fremden Notiz nahm. Sie rüttelte den Ehemann neben sich: »Es sind Offiziere!« Ein schielendes Gesicht blinzelte durch die Vorhänge, drehte sich aber wieder verdrossen um, und auch das Weib schien geneigt, dem Beispiel zu folgen, und die Gäste wären sich selbst und Haus und Hof ihrem Schicksal überlassen geblieben, wenn nicht der Kamerad seinen Säbel klirrend aufgestampft und in einigen kräftig kurzen Worten ihr Begehren zu verstehen gegeben hätte. Die Frau war aufgesprungen, nicht sehr bekümmert, mit welcher Grazie, vor welchen Zeugen es geschah, und ohne mehr für ihre Toilette zu tun, als den Friesunterrock um die Hüften zu binden. Die Arme, um deren müde Augen noch der gestrige Frondienst schwer lagerte, hatte eine immer wiederkehrende Arbeit, den alten Träumer munter zu schreien, die erwachsenen Buben aufzurütteln, diesem die Schlüssel zum Haferboden aufzudrängen, jenem zum Keller, Feuer anzumachen, den Kessel aufzusetzen, in den Schränken zu suchen und dabei das graue lange Haar aus dem Gesicht zu streichen. Stephans Freund, an derartige Szenen gewöhnt, mochte eher daran ein Vergnügen finden. Er schien dem Kameraden ein Schauspiel bereiten zu wollen. Er forderte bald dies, bald jenes und munterte die Frau auf, rüstig gegen die Verschlafenen zur Hand zu sein. Der Mann wurde wirklich nur durch eine letzte Kraftanstrengung der kräftigen Ehehälfte aus den Federn gerissen; bei den Kindern, die vier zusammen das andere Bett teilten, halfen jedoch nicht einmal Schläge. Zwei wollten durchaus nicht den süßen Schlaf und das weiche Kissen fahren lassen und beantworteten die Aufforderung der Mutter: »Krabben, die Offiziere wollen darin schlafen,« durch so zerrissene Laute, zwischen Lust und Weh in der Mitte, daß Stephan ihr in den Arm fiel und dem Kameraden französisch zurief, ob er denn darin schlafen wolle?

»Sprich nur gutes Deutsch,« entgegnete dieser lachend, »man versteht uns doch nicht. Ob ich drin schlafen will, steht dahin, ich muß mir wenigstens erst das Terrain besehen, aber man muß bei den Leuten nicht die Meinung schwächen, daß dem Soldaten alles gehört.«

»Der Schlaf ist so süß,« sagte Stephan.

»Sie schlafen zu viel, das ist ihr Erbfehler in der Mark.«

Der Bauer, ein langer, stämmiger Kerl, schien, indem er sich reckte und gähnte, die Anführung zu bestätigen. Die Gegenwart der Offiziere hinderte ihn so wenig als sein Weib, das er allein arbeiten ließ.

»Bauer, wie heißt dein Nest?«

»Der ›Tote Mann.‹«

»Hast du einen Reisenden totgeschlagen?«

Der Bauer schüttelte den Kopf.

»Dein Vater?«

Es kam dieselbe Antwort.

»Wie hieß dein Vater?«

»Der hieß just wie ich.«

»Und der Großvater?«

»Das weiß ich nicht.«

»Saß der schon hier im Kruge?«

»Das weiß ich nicht.«

»Du empfängst hier Erläuterungen zur brandenburgischen Geschichte,« wandte sich der Kamerad zu Stephan. »Der Kossäte hat mit seiner Familie unter den vaterländischen Kiefern gesessen und gehört, wie ihm die Erinnerung aus der Vorzeit zugerauscht hat. Wo liegt nun der Hund begraben?«

»Ich habe keinen begraben.«

»Aber einen toten Mann!«

»Der müßte noch kommen.«

»Wer ist dein toter Mann?«

»'s ist mancher heute noch frisch und rot und morgen liegt er schon im Leichentuch.«

Der Offizier hielt plötzlich in seinem Kreuzverhör inne. Als er sich neben Stephan am Tische niedergesetzt, glaubte dieser eine ungewöhnliche Blässe auf seinem Gesicht zu bemerken. »Es ist nichts,« äußerte der Kamerad, »eine Anwandlung von Schwindel – vom Hunger vielmehr.«

Ihr Abendessen war inzwischen fertig geworden. Der Hunger würzte eine Kost, die keinem Soldalenmagen Kräfte gibt. Stephan prüfte das schwarze Brot, die geschmacklose Grütze und die Blicke der Kleinen, die noch gierig darauf hafteten. Der Kamerad lachte, indem er die Kartoffeln ins Leinöl tauchte: »Du bist im Vaterlande.«

»Unmöglich kann dies ihre tägliche Kost sein. Der Krieg hat sie verarmt.«

»Es fällt wohl, Teuerster, an Sonn- und Festtagen eine verdorrte Speckseite aus dem Rauchfang, aber entwöhne dich vom Gedanken, unsere Bauern mit den steirischen zu vergleichen. Vom Wein bekommen sie einmal im Jahre in der Kirche einen Geschmack, Weizenbrot sehen sie bei Hochzeiten und vom Fleisch hören sie, wenn ihnen der Pfarrer von dem in den Töpfen Aegyptens predigt. Im übrigen aber siehst du, daß dies den Lebenstrieb nicht schwächt; zähle, wie es von blonden Köpfen und bloßen Beinen wimmelt! Kleider gibt, wenn es nottut, der König, Verstand brauchen sie nicht, um die Grube zu füllen, die Kugel trifft den Dummen so gut wie den Klugen, und der Patriotismus, nur für seinen König zu sterben, wird von Kartoffeln und Hirsebrei so gut genährt wie vom Tokaier und Rinderbraten.«


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