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Es schlug Mitternacht von der Marienkirche, als Etiennes Natur endlich mit dem lange ihr verkümmerten Zoll befriedigt schien, und er aus einem festen Schlaf erwachend die Augen aufschlug. Es war dunkle Nacht um ihn her, und nicht größer war die Mühe, welche seine Gedanken hatten, sich in die Lage, in der er sich befand, zu versetzen, als die andere, welche dem völlig Erwachten bevorstand, aus dem düsteren Labyrinth, in das er geraten war, einen Ausgang zu finden. Er hätte ruhig in der Umstrickung den Tagesanbruch erwarten können, allein es trieb ihn ein starkes Gefühl fort, das weder Besorgnis, Ahnung, noch Gespensterfurcht hieß, sondern – Hunger. Er hatte gestern den ganzen Tag nichts gegessen. Den Weg, den er hergekommen, versperrte ihm die Nacht; wo sollte er auch dort hin? Er tappte längs der Latten und Sparren umher, bis er eine Tür fand, die seinem Drucke nachgab. Dadurch gelangte er nach einigem Umhersuchen wohl an eine steile Bodentreppe und an deren Ende an eine Tür, welche glücklicherweise vergessen worden, zuzuschließen, allein im weiten Hause nur Nacht und Totenstille. Durch ein Gitter fiel einiges Dämmerlicht vom Treppenfenster, aber die Treppentür war fest verschlossen, der Schlüssel abgezogen. Türen ringsum; aber durfte ihm nicht der Ruf »Diebe!« wo er anpochte, antworten, konnte nicht eine Einquartierung ihm öffnen? Hier schnarchte es, dort war es totenstill. Aus diesem Schlüsselloch kam etwas angenehmerer Speisegeruch, es war eine Küche, und – die Tür war nur eingeklinkt.
Etwas minder vorsichtig als bis da, tastete er hier umher. Vergebens, es war eine gute Wirtschaft, alles fortgeschlossen, und in keinem Topf, in keiner Schüssel ein Rest geblieben, der einem preußischen Kavallerieleutnant für vierundzwanzigstündiges Fasten den dürftigsten Trost gewährt hätte. Die Wandschränke, die Küchenspinde alle fest zu, nicht einmal das Hausbackenbrot der Köchin war auf dem Schapp zu finden. Die Asche auf dem Herde war noch heiß, er pustete, um eine Kohle anzufachen, blies sich aber nur die Asche ins Gesicht, ohne Licht zu erhalten. Als ihn ein letzter, verdeckter Napf, der ihm in die Hand gefallen, auch täuschte, verführte ihn fast der Unmut, ihn auf Art und Weise einquartierter Soldaten fortzustellen, wenn ihnen die Speisen nicht nach Geschmack gekocht sind, als ihm ein Lichtstrahl, oder vielmehr ein Lichtpunkt auffiel. Er kam aus einem Schlüsselloch – im Nebenzimmer brannte Licht, mehr konnte er nicht sehen, da der Schlüssel von innen steckte, er legte das Ohr an. Es war kein Schnarchen, sondern das sanfte Aufatmen eines Schlummernden. Sollte er pochen. Schlaf oder Essen fragte er sich, die Klinke in der Hand. Da ging die Tür auf, sie war nicht verschlossen, nicht verriegelt gewesen. Sie knarrte nicht in ihren Angeln, und der Leutnant Etienne stand in dem kleinen, behaglichen Zimmer, ohne daß die Lichter auf den Armleuchtern, beschwert von langen Schnuppen, aufflackerten, und die schlafende Person auf dem grünen Kanapee aufwachte.
Zu essen fand er auch hier nichts, als er die Lichter vorsichtig geputzt, dagegen einen Anblick, den er nicht erwartet, den er in den Feldlagern und auf der kriegerischen Heerstraße lange entbehrt. Ein junges Frauenzimmer von ebenso lieblich feinen Gesichtszügen als zartem Körperbau ruhte schlummernd auf dem Kanapee. Nicht daß der Schlaf sie, etwa bei der Lektüre oder beim Ausziehen, überrascht hätte, sie war nicht hingesunken im Kampfe mit ihm, das Gesicht im Arm, die Wange auf der Sofalehne, halb sitzend, wie die müde Natur ihr Recht will. Nein, sie saß aufrecht so zierlich und hübsch, als wäre vorm Einschlafen jede Falte ihres Kleides, jede Miene ihres lieblichen Gesichts zurechtgelegt, geordnet worden, die Hände auf dem Schoß verschlungen, die Füßchen in den hochhackigen Atlasschuhen auf einem Polster, das Köpfchen mit seiner hohen Frisur, zweimal so lang als das Gesicht, über dessen weißer Stirn sie sich aufwärts türmte, gegen Kissen gelegt, daß sie sich nicht eindrücke. Es war alles gemacht bis auf den Ausdruck von Unschuld, Frieden und Seligkeit in dem holden Gesicht, und ohne das sanfte Wallen des Busens unter dem Taftkleide hätte man die ganze Gestalt für eine gelungene Wachsfigur im Brautstaate ansehen mögen. Ja, es war eine Braut, eine glückliche Braut, morgen war ein froher Tag; das sprach ihre Miene, das verkündeten Myrten und Rosen im Haar. Es forderte einen Kenner seiner Zeit, um zu wissen, daß die seltsame Positur der jungen Dame nur ihre Frisur zur Ursache hatte. Noch perlte der frisch gestreute Puder an dem aufgestrichenen Haar, noch sah man die kunstreich zitternde Hand des Friseurs in den anmutigen Etagen, hier, wo er die Myrtenblüte, dort, wo er die Rose, das Band, die Schleife eingenestelt; ein architektonisches Genie gehörte zur Erfindung eines solchen Bauwerks, mehrere Stunden, um es auszuführen; war nun die gute Erhaltung zu teuer erkauft von der glücklichen Besitzerin mit dem unbequemen Schlaf einer einzigen Nacht, damit es morgen in der ernstesten, seligsten Stunde ihres Lebens noch glänzend sei und frisch! Auch der Zweifler wäre von dieser Deutung der befremdenden Erscheinung aufs bündigste überzeugt worden durch den in die Ecke geschobenen Toilettentisch, wo noch Puder, Pomade, Kämme, Brenneisen und alles Handwerkszeug des glücklichen Künstlers aufgetürmt lagen, welcher am Abend zuvor sein Meisterwerk vollendet hatte.
Etienne blickte mit steigendem Wohlbehagen das anmutige Geschöpf an, dessen zarte Form eingepreßt im unnatürlichsten Modezwang, und dessen Seele doch in den reinsten Gefühlen der Lust zu schwimmen schien. Es war unmöglich, sie nicht selbst mit Lust anzusehen, und doch scheuchte der Friede, der unter ihren Augenlidern schlief, jeden bösen Gedanken fort, der hätte aufsteigen können. Wie nett und appetitlich war alles von der Zehe bis zum Wirbel, wie im Einklang mit dem Ameublement, der Ordnung im kleinen Zimmer, wo nichts Reichtum, aber alles Geschmack, Behaglichkeit atmete. Und wie sah er dagegen aus, abgerissen, unrein, verstört von wochenlangem Umhertreiben! Der Gedanke, sie zu wecken, empörte ihn. Aber er wollte auch nicht weggehen. Er leuchtete ihr behutsam ins Gesicht, ein Lächeln schwebte über den Lippen. Es kräuselte hin über die Grübchen der Wange, die Schönpflästerchen bewegten sich. Sie träumte wohl von ihrem Geliebten! Wie bekannt sie ihm vorkam! Er mußte das hübsche Kind schon einmal gesehen haben. Auf ihrer Brust schaukelte sich etwas Blankes, ein Medaillon. Er kannte das Bild darin, er kannte die Einfassung, das Bild in Wasserfarben stellte seine Tante, die königliche Rätin, vor, in ihren jüngeren Jahren. Er hatte es als Kind zu oft in ihrem Hause gesehen, und es war ihm immer gesagt worden, es sei ein schönes Porträt und einmal sehr ähnlich gewesen. Die Gold- und Perlmuttereinfassung kam von ihm; er selbst hatte sie für sein Taschengeld in Wien bei einem Goldschmied gekauft und mit anderen Geschenken nach Berlin geschickt, denn seine Mutter hatte ihm, dem zehnjährigen Knaben, geschrieben, er möge doch seinen Verwandten eine Erinnerung senden, und besonders der kleinen Stephanie, seiner lieben Cousine, die ihm noch immer so gut wäre und immer frage, ob Etienne denn nicht zurück käme. Da lag sie vor ihm. Die Schläferin, das holde Mädchen, die Braut, war seine Cousine Stephanie.
Nein, er konnte sie nicht erschrecken. Er wollte hinaus auf den Flur, die Nacht dort zubringen, bis der Tag anbrach. Aber ein Kuß zum Abschied der lieblichen Freundin seiner Kinderjahre war keine Sünde, er wollte ihn sanft über die Lippen hauchen mit seinem Segenswunsche zum Tage, der morgen anbrechen sollte. Er hatte vergessen, daß seit einer Woche kein Rasiermesser an sein Kinn gekommen war. – Sie fuhr zusammen – sie erwachte – sie schlug die Augen auf.
Das Licht aus ihren hellbraunen Augen flimmerte auf, um sogleich wieder zu verschwinden. Sie schloß die Augenlider im Augenblick, wo sie dieselben geöffnet. Aber der Verwirrte stieß an den Tisch; das Geräusch sagte ihr, es wäre kein Traum, sie schlug sie noch einmal auf.
»Barmherziger Himmel!« wimmerte ihre Silberstimme. Die Händchen preßten sich, der zarte Körper zuckte zusammen, als wollte er in sich vor Schreck versinken, das Blut erstarrte, sie konnte nicht den kleinen Finger bewegen.
Der nächtliche Gast, selbst nicht minder erschreckt, hastete sich, den Leuchter hinzusetzen und ihr Stille zuzuwinken. Er mochte es in seiner Bestürzung ungeschickt machen oder sie in ihrem halbwachen Zustande es falsch auslegen. Sie schrie auf. Zum Glück dämpfte die Angst, die dumpfe Gewißheit, verloren zu sein, die Stimme. Wer aber malt ihr Entsetzen, als der schreckliche Mann, rasch umgewandt, ihr Armgelenk faßte und den Finger ihr an die Lippen legte: »Will Er mich ermorden? – Ach! – Barmherzigkeit!« war alles, was sie vorbringen konnte. Auch wenn es ihr Mörder, dies der letzte Augenblick ihres Lebens war, der Mensch, um Mitternacht in ihrem Schlafzimmer, sein Anblick war zu furchtbar und wild, sie konnte ihn nicht ansehen, die Augen schlossen sich unwillkürlich, die Lippen bebten, die Lebensgeister zuckten zwischen Sein und Nichtsein. Sie ergab sich willenlos in ihr Schicksal.
Lange mochte er, mit so sanften Tönen als ihm möglich, den sanften Namen: »Stephanie! Liebe Stephanie!« ihr ins Ohr flüstern; sie hörte nicht, oder nicht wie eine Wachende. »Ich bin kein Mörder, kein Räuber,« fuhr er fort, – »in keiner bösen Absicht bin ich hier, – ich bin ein Verirrter – ein Preuße – ein alter Bekannter, ein Freund, ein Anverwandter.« – Endlich wirkte das Riechfläschchen oder die gesunde Natur des jungen Mädchens, denn die Nerven spielten um 1760 noch nicht die bedeutende Rolle in den Berliner Krankengeschichten wie heute.
Noch mit gläsernem Blick, aber nicht so konvulsivisch zusammenzuckend, sah sie den häßlichen Menschen mit dem großen Husarenschnauzbart, dem langen Kinnbart, dem mit Kohle und Asche geschwärzten Gesicht, in einem groben, unförmlichen Wollrock neben sich auf ihrem Kanapee sitzen, wo nie ein Mann gesessen, und um Mitternacht und mit ihr allein! Und der Mann hielt ihren weißen, vielbewunderten Arm in seiner braunen, aufgesprungenen Soldatenhand und sah sie groß an, aber das Auge war nicht böse, vielmehr freundlich, teilnehmend. »Wie hübsch du geworden bist,« brach es auf einmal von seinen Lippen, wie unwillkürliche Bewunderung, und sie schrie nun nicht mehr auf, und das Blut kehrte zurück, das Herz schlug wieder, die Finger waren nicht mehr eiskalte Gelenke und die Wangen röteten sich.
»Ach Gott, wie ist mir! – Was soll das?« kam es allmählich aus dem gedrückten Herzen und eine Träne stand im Auge.
»Ich bin unschuldig, liebe Cousine.«
Sie blickte ihn, tiefaufatmend, genauer an. »Wer sind Sie?«
»Ich war nicht immer ein Fremder in Ihrem Hause, liebe Stephanie. Wir sahen uns oft, wir spielten als Kinder miteinander, wir waren uns immer gut – ach, daß ich so Ihren Frieden erschrecken mußte! Ich heiße Etienne. Meine Mutter ist tot; sie war die Schwester deines Vaters.«
Die eine Träne in Stephanies Auge wich einer Flut. Galt sie der Überraschung, der Erinnerung, oder machte der Schreck sich Luft? Die Brust bebte, aber es war eine wohltätige Erschütterung. Er preßte die kleine Hand an seine Lippen.
»Ach, lieber Herr Etienne,« sagte sie, »wer hätte das gedacht!«
»Teure, liebe Cousine,« sprach er, und näherte seinen Mund den Rosenlippen der Wachenden; »Sie haben mich nicht vergessen,« aber sie wehrte ihn hastig ab.
»Ich bin Braut.«
»Doppelt willkommen!« entgegnete Etienne. Sie aber hatte Kraft gewonnen, aufzustehen, und verhüllte ihr Gesicht, gleichwie um ungestört durch den fremden Anblick zur Besinnung über alles das Unerhörte zu kommen, das wie ein Blitz aus heiterem Himmel sie in ihrem friedlich stillen Leben überrascht hatte.
»Ach, wie lange ist das her!« seufzte sie endlich auf, nicht mißtrauisch, aber doch prüfend zu ihm hinübersehend.
»Daß ich nicht über diese Schwelle trat!« fiel er ein. »Und wieviel ist seitdem geschehen!«
»Ach, mein Gott, Sie sind wohl sehr unglücklich. Was kommen Sie nicht bei Tage? Warum ließen Sie sich nicht melden?«
»Verzeihung, ich wollte nicht hierher kommen, ich bin für niemand, der mich kennt, in Berlin, und mein Leben schwebt auf der Zunge, die meinen Namen ausspricht.«
Stephanie fuhr zusammen und näherte sich dem Gast, dessen Stimme so sanft klang, als sein Besuch schreckenerregend gewesen: »Um Gottes willen, wie ist das?«
In gedrängten Worten erklärte er ihr seine Lage, soviel sie davon begreifen konnte, und wie er hergekommen. Sie schauderte beim Gedanken der Gefahr zusammen, die er beim Klettern über die Dächer gelaufen, ihr nächster verweilte bei der Vorstellung, daß ja auch ein anderer als der sich als ihr Cousin zu erkennen gab, diesen Weg gefunden haben könnte, und der dritte Gedanke verlor sich in einer Reihe von Schreckensbildern, die sie wieder in ihr friedliches Leben zurückführte.
»Doch wie kommt es,« schloß er, »daß ich meine zarte Cousine, die Tochter einer so musterhaften Wirtin, in der unheimlichen Geisterstunde hier in dem Zustande finde?«
Ein Purpurrot, das sich über das ganze Gesicht des holden Mädchens ergoß, sagte ihm auf die deutlichste Weise, daß ihre Lebensgeister wieder zurückgekehrt waren. »Monsieur Trenson, lieber Herr Etienne,« lispelte sie, »Sie wissen wohl noch, er ist unser Friseur. Morgen konnte er nicht so früh kommen und da hat er mich am Abend frisiert, daß es morgen keinen Aufenthalt gäbe.« – »Und morgen, meine schöne Cousine?«
Der Puls ihrer Hand antwortete statt der Lippen.
»Morgen schon, Stephanie? In so wilder, unruhiger Zeit?«
»Es war schon seit lange angesetzt, lieber Cousin.«
»Und wer ist der Glückliche?«
»Herr Meran, unser guter Cousin. Sie kennen ihn wohl noch. – Ach, mein Gott, wie tut mein Kopf mir weh.«
»Der glückliche Herr Meran! Er sollte Theologie studieren.«
»Ach, wenn er das wüßte,« brach es von ihren Lippen unwillkürlich, und sie barg wieder ihr Gesicht, auf einen Stuhl sinkend, in den Händen.
»Ich will zu ihm, liebe Stephanie. Noch ehe der Tag anbricht, soll er von mir selbst erfahren, wie mein Ungeschick –«
»Um des Himmels willen nicht. Niemand, niemand darf es wissen.«
»So will ich aus Berlin verschwinden, ehe jemand ahnt, daß ich hier war.«
»Ach, es wäre entsetzlich!« jammerte sie auf.
Etienne traten schnell alle Erinnerungen an das vor die Seele, was er von dem sittlichen Glaubensbekenntnis seiner Verwandten von Mutterseite wußte. Hier war keine Eugenie, deren Sitte über ihren Ruf erhaben war, der Ruf war in diesem Kreise das Höchste, oder vielmehr der Schein des Rufes. Sein unwillkürlicher Besuch, wenn eine Seele, die nicht darum wissen durfte, es wußte, hätte das Glück einer Familie auf immer zerstört. Das liebliche Wesen, die holde Braut, bebte dort beim Gedanken eines Unglücks, das sie nie als möglich zu fassen imstande gewesen. Er hätte unter anderen Verhältnissen darüber lächeln können, in dem Augenblick mochte er mit weinen. Er war ihr Verderben. Sein Entschluß war gefaßt.
»Leben Sie wohl, teure, gute Stephanie, und seien Sie glücklich,« lispelte er ihr zu.
»Wohin, lieber Cousin?« Sie war wieder aufgesprungen.
»Fort, aus dem Hause, ehe jemand mich bemerkt hat. Öffnen Sie mir das Gitter der Flurtür.«
»Es geht nicht, meine Mutter hat den Schlüssel. Auch ist das Haus zu. Wir dürfen Sie nicht so fortlassen!«
»So bleibt uns nichts übrig, liebste Stephanie, als Sie wecken Ihre Mutter; wir erwählen sie zu unserer Vertrauten.«
»Ach, die arme Mutter! Nein, lieber Herr Etienne.«
»Wie, Sie zögern, Ihre Mutter –«
»Ich müßte durch meines Vaters Schlafzimmer, meines Bruders Pudel fährt auf, der Mops hat sein Kissen am Bett der Mutter. Alles ist in Alarm, ehe ich den Schlüssel habe. Es geht nicht.«
»Vermutlich ist dort das Zimmer der Dienstboten. Einer von ihnen wird doch –«
»Etienne, – um Gottes willen, ich bin verloren.«
»Wohlan, hier darf man mich nicht finden. Ich stehle mich auf den Flur oder schleiche wieder auf den Boden und schlafe dort auf der Diele Angst und Sorge und meine freudige Überraschung aus, bis der Morgen die Türen öffnet und der fremde Mann ungehindert hinaus kann.«
Stephanie hielt das Taschentuch an die Augen.
»Keine Tränen, liebste Cousine. Das Schlimmste, was mir begegnet, ist, daß man mich für einen Dieb hält, der, Gelegenheit suchend, sich ins Haus geschlichen. Fangen soll man mich nicht, und Ihnen soll, darf, wird nichts Übles daraus erwachsen.«
Eine Stärke, welche die arme Stephanie bis dahin nicht gekannt, schien plötzlich in ihr gewachsen.
»Nein, lieber Cousin, da dürfen Sie nicht bleiben. Mein August würde es mir nie vergeben. Ein österreichischer Major liegt bei uns in Quartier, sein Bursche schläft in der Bodenkammer. Wenn man Sie dort morgens fände, nimmermehr.«
»So müssen wir doch hier wecken.«
»Nein, nein, nur jetzt nicht – wer weiß, wie es morgen – tun Sie's mir zuliebe nicht.«
»Es bliebe denn kein Ausweg, um uns zu trennen, als zum Fenster hinauszuspringen, und wenn meine freundliche Cousine es auch zugäbe, daß ich ihr zuliebe mir den Kopf etwas zerbräche, so würde doch das den Skandal, statt ihn zu heben, nur fördern.«
»Böser Cousin, noch in meiner Not zu spotten.«
»So warte ich den Morgen in der Küche ab.«
»Nein, die Köchin steht vor Tagesanbruch auf. Es kommt alles darauf an, daß ich meine Mutter, oder wen es ist, zuerst spreche, ehe Sie jemand unvorbereitet sieht.«
»Ich bin der Sklave Ihres Willens.«
»Würden Sie sich entschließen, lieber Cousin,« fragte Stephanie und zauderte, als schäme sie sich, den Vorschlag auszusprechen, »in dem Kleiderverschlage den übrigen Teil der Nacht zuzubringen? Erinnern Sie sich, als Kind, wenn wir Suchen und Finden spielten, versteckten wir uns da oft.«
»Ich will mich der schönen Zeit erinnern.«
»Aber ich schließe zu und ziehe den Schlüssel ab.«
»Ihre Sicherheit ist mein erstes Gesetz.«
Sie war hingesprungen und hatte die Tapetentür des Verschlages geöffnet. »Ach, mein Gott, es ist aber kein Sofa darin –«
Etienne lächelte. »Die Diele ist ein weicherer Pfühl als gefrorene Erde und nackter Stein.«
»Ach, meine Mutter vergäbe es mir nicht.«
»Seit zwei Jahren bin ich preußischer Soldat, und die schwarzen Husaren bekamen selten ein anderes Zelt zu sehen als das große kühle blaue, das der Himmel über ihren heißen Schläfen ausspannt.«
»Auch die Offiziere? Ach, was ist der Krieg fürchterlich.«
»Auf Wiedersehen, liebe Stephanie. Vergessen Sie den bösen Störer Ihrer Ruhe – nur auf ein paar Stunden.«
»Sie sehen so blaß aus. Sind Sie krank?«
» Die Krankheit soll morgen in einer halben Stunde geheilt sein.«
»O, was fehlt ihnen? Schnell! In dem Kästchen ist die kleine Hausapotheke meiner Mutter.«
Etienne blickte lächelnd das Kästchen an. »Bemühen Sie sich nicht, liebe Stephanie, die Portionen wären zu klein – sie schlagen nicht an.«
»Kann ich denn nichts für Sie tun?« rief sie bittend.
»Ich suchte schon selbst nach Medikamenten in der Küche, fand aber nichts.«
»In der Küche?«
»Wenn man fünfzig Stunden gehungert hat, ist ein Stück Brot das beste Medikament.«
»Gehungert? ach, mein Gott! Sie haben noch kein Abendbrot gegessen?«
»Auch kein Mittagbrot und das Frühstück hatte ich vergessen. Das hole ich alles morgen beim Frühstück nach. Gute Nacht.«
Allein die pflichteifrige Haustochter und künftige Hausfrau empfand über die jüngsten Entdeckungen ihres Gastes einen Schreck, welcher nicht viel geringer war, als der über seine erste Erscheinung. Kein Abendbrot, kein Mittagbrot und kein Frühstück zu sich genommen zu haben, – und es war schon Mitternacht vorüber! – das war in ihrer Wirtschaft, wo Tag für Tag, jahraus, jahrein alles auf den Stundenschlag geschah, noch nicht vorgekommen. Sie hatte bis dahin nichts anderes geglaubt, als man kann nicht leben, wenn man drei Mahlzeiten versäumt, und wiewohl Etienne ihr das Gegenteil beteuerte, war doch sein Einspruch nur schwach, als sie in die dicht an die Küche stoßende Speisekammer eilte und mit aller Behutsamkeit was von kalten Speisen zu finden war, herbeiholte. Er half ihr tragen.
»Erinnern Sie sich noch, lieber Cousin,« sagte Stephanie, als er ihr die große Bratenschüssel abnahm, »wie wir damals auch zuweilen in die Speisekammer schlüpften –«
»Und Ihre Mutter uns einmal von den eingemachten Pflaumen gab, weil wir so artig zusammen gelernt.«
»Ich werde das Konfitürenglas auch mitnehmen. Es ist noch dasselbe.«
»Ach, wie kommt das schöne Brautkleid, liebe Stephanie, in die Speisekammer!«
»Es soll nicht lange drin bleiben. Kommen Sie sacht wieder durch die Küche. Der Wein ist im Keller; er würde Ihnen auch nach der Erhitzung schädlich sein.«
»Hier stehen doch Flaschen.«
»Das ist Likör, für Krankheitsfälle. Den trinken Sie doch nicht, lieber Cousin?«
»Nein! – damals trank ich ihn freilich nicht; indessen doch für den Magen möchte er gesund sein, und wenn sie erlauben – man lernt etwas in zwanzig Jahren.«
Was nun geschah in dem stillen Zimmer des liebenswürdigen Mädchens, hätte sie zu jeder anderen Zeit für unmöglich gehalten. Es mochte geplündert, die Tapeten konnten zerrissen, die Möbel zerhackt zum Fenster hinausgeworfen werden; daran hatte die Familie gedacht, aber nicht, daß ein Husarenoffizier in der netten Stube, wo nie ein Stiefel den Teppich betreten, und kaum ein Speisegeruch durch die Küche gedrungen, einmal um Mitternacht die Reste von drei Mahlzeiten allein verzehren und die Tochter des Hauses ihn bedienen werde. Es war so wunderbar, daß Stephanie selbst, wenn sie auf dem Kanapee die Augen zuschlug, den Vorfall für eine Fabel, für den Traum einer erhitzten Phantasie hielt und sich dann noch Gewalt antun mußte, es zu glauben, wenn eine andere Macht sie zum Lachen zwang über den ungeheuren Appetit ihres Cousins, der für sie nicht minder ans Wunderbare grenzte. Und doch klopfte der Ernst bei ihr und bei ihm mächtig an. Die Unterhaltung stockte, keiner mochte sie auf Gegenstände leiten, welche trübe, schwere Erinnerungen, ernste Fragen, lange Erzählungen heraufbeschworen. Der Moment war so kurz, ihr Zusammentreffen so wunderbar, neben dem Schreckhaften so wehmütig lieblich, daß man es wie ein heiteres Spiel zu Ende bringen wollte. Und doch konnte Etienne sich nicht enthalten, als er aufgestanden und Abschied nahm, zu fragen: »Wird mein Vater, der Inspektor, unter den Gästen sein?«
Stephanie seufzte tief auf und schlug die Augen nieder. »Ach, Sie wissen wohl nicht, wie sich das alles geändert hat?«
»Seit dem Tode meiner Mutter?«
»Gewiß! Ach, die gute Frau hatte am meisten darunter gelitten!«
»Worunter?«
»An dem Unglück – Ihres Herrn Vaters.«
»Freilich, freilich!« warf er hin; er wußte selbst nicht, warum er sich den Schein gab, als wisse er darum. Der abgeschabte Rock des Vaters auf dem Kirchhof fiel ihm ein.
»Der böse Advokat Schlipalius, lieber Cousin, trägt von dem allen die Schuld.«
»Er wird seiner Strafe nicht entgehen.«
»Ach, er verdient sie gewiß um die Härte, mit der er gegen den Herrn Inspektor prozessierte. Er war's auch sicher, der die anderen Familienglieder nach dem Bankerott aufhetzte, so unerbittlich streng zu sein. Darum kam es nicht zum Vergleich.«
»Ja, er war ein unerbittlich strenger Mann,« sagte halb mit Hohn der junge Offizier.
»Ach, das waren böse Zeiten, lieber Cousin.«
»Wenn die andere Familie ihn im Stich ließ, den armen, rechtschaffenen Mann, dann bin ich gewiß, fand er in Ihrem Hause Liebe, Trost, Unterstützung.«
»Wir haben ihn hier sehr beklagt. Mutter und Vater haben oft etwas hingeschickt – aber wie die Sachen standen wegen der Familie, und seitdem Vater Geheimrat geworden, konnten wir den Inspektor doch nicht gut mehr im Hause sehen. Zudem hatte der Papa auch durch den Krieg verloren.«
»O, Sie taten gewiß zu viel für meine arme – meine Mutter, wollte ich sagen. Man hat ihr etwas zugeschickt, ins Haus geschickt! Mein Gott, wie gütig das war und daß ich nichts davon wußte! – Gute Nacht, Cousine. Morgen ist der feierlichste Tag Ihres jungen Lebens, voll Morgenrot und Maiengrün, voll Silber- und Goldglanz. Cousine Stephanie, kein besseres Hochzeitsgeschenk wünsch' ich Ihnen von Ihrer ganzen großen respektablen Familie, als daß Sie nie dahin kommen, daß man Ihnen etwas ins Haus schicken muß, wie meiner armen Mutter. Und wenn es so bei den Sternen beschlossen wäre, darben Sie lieber, dulden Sie lieber, Sie finden immer einen Quell in der Brust, aber lassen Sie sich nichts ins Haus schicken von der Mildtätigkeit Ihrer Familie.«
Und doch war ihm die Diele hart. Er hörte den Hahn krähen und schlief noch nicht. Er hatte jeden Tritt behorcht, so leise Stephanie auftrat, er hatte sie weinen gehört, und doch hatte sie gewiß das Tuch so vorgedrückt, daß jede schluchzende Bewegung unterdrückt wurde, und er hatte mitgeweint. Wie lange, wußte er nicht, als er erwachte; aber nebenan war es laut. Eine fremde ältliche Frauenstimme, die jedoch, je länger sie sprach, ihm nicht mehr fremd blieb, redete zu Stephanie. Das Gespräch wurde französisch geführt.
»Daß ich dich heute würde wecken müssen, wer hätte das gedacht, mein süßes Kind, die jederzeit die erste im Hause wach ist!«
»Ach, mein Gott, teure Mama.«
»Was ist dir, du fährst auf und erschrickst?«
»Daß ich so spät aufwache; gewiß sonst nichts.«
»Du hast böse Träume gehabt. – Du weinst. – Da ist die Myrte heruntergefallen und die Locke verschoben – ach was ist das für eine Unordnung, der Taft ist zerknickt. Du hast nicht still gesessen, wie ich dich gestern verließ. Laß das Weinen, es schadet dem Teint; ich wünsche doch, daß meine Stephanie so hübsch vor den Altar treten soll, wie damals bei der Verlobung. Alle sagten, sie hätten seit lange kein so schönes Brautpaar gesehen. Du warst so ruhig die Tage über. Hast du was auf dem Herzen? Sprich es aus.«
»Ach, liebe, teure Mama.«
»Du hast ja eine schwarze Nase –«
»Ich, nein, gewiß nicht –«
»Da bist du wieder in der Küche gewesen, hast mir nicht getraut, hast selbst deine Nase hineinstecken müssen, daß die Kohlen ausgebrannt sind. Das ist recht hübsch von meiner ordentlichen Tochter, aber vor einem solchen Tage war das nicht nötig. Ein Glück nur, daß es dem Kleide nichts geschadet hat. – Ach und die Fußtritte auf der Decke, Sand und Asche –«
»Ach, Mama, liebe Mama, wenn Sie mein Gefühl kennten –«
»Liebes Kind, das ist ein Gefühl, was wir alle haben, wenn wir an den Altar treten. Es denkt sich schwer, das elterliche Haus verlassen zu müssen. Aber dein Bräutigam ist dir nicht fremd, ihr seid ja wie Bruder und Schwester seit früh auf. Er ist gut, fromm und gehorsam, du liebst ihn, er ist ein geachteter Mann und kann es weit bringen. Überdies weißt du, welch einen Respekt er vor uns hat, und ich versichere dir, du sollst auch bei ihm noch sein, als wärst du im elterlichen Hause. Ich werde täglich bei euch mich sehen lassen. Hast du etwas zu klagen, so wende dich nur dreist und offen an mich, ich will die Mutter auch bei ihm nicht aufgeben. Allein August gehört nicht zu dem jungen wilden Geschlecht, das seinen eigenen Willen fordert. Er hat die Familienregards, und seine frommen Eltern haben ihn wohl gelehrt, was es heißt, wenn Familien, wie die unseren, zusammenhalten und keine Blöße nach außen geben.«
»Ach, wenn Sie wüßten, Mama –«
»Ich weiß alles –«
»Alles?«
»Ja, du hast wohl recht, erschrocken zu sein, aber jetzt, wenn er kommt, in dieser ernsten Stunde will ich ihm vors Gemüt halten, wie unschicklich, um nicht zu sagen unwürdig das gestern war. Zum Glück haben es aber doch nur wenige gesehen, es wird sich vertuschen lassen. Und sei versichert, liebe Stephanie, es soll, es wird nicht wieder passieren. Der Schreck allein wird ihn schon gewarnt haben, daß er in Zukunft weiß, was seines Amtes ist. Seine würdige Stellung, die gerade wird ihn und dich vor so manchen Gefahren schützen, die anderen Männern nur zu leicht begegnen. Ach, ich weiß nicht, wie dankbar und gerührten Herzens ich jetzt gegen den gütigen Himmel sein soll, daß dieser Neffe mein Schwiegersohn wird, während meine eitlen Wünsche dich sonst dem kleinen Etienne bestimmten. O, du brauchst nicht so feuerrot zu werden. Du warst ihm als Kind außerordentlich gut, und das dauerte noch lange nach, daß mir ordentlich um dich bange wurde. –«
»Liebste Mama, nicht so laut, nicht so laut.«
»Ei, wer hört uns denn? Du hast doch nicht deinen Bräutigam bei dir versteckt?«
»Ich bitte Sie, um Gottes willen.«
»Gerade im Augenblick, wo du deinem künftigen Gemahl ewige Treue gelobst, ist es deine Pflicht, recht offen gegen dich selbst zu sein. Und da gestehe dir nur, daß dein kleines Herz für den unartigen Cousin Etienne lauter geschlagen hat, als recht war. Ja, ja, du wußtest freilich nicht mehr viel von ihm selbst, da hattest du dich in den Gedanken von ihm verliebt. Wie ihr Mädchen seid, auch die gesittetsten unter euch, die Keckheit der jungen Männer blendet, besticht. Was wir Schlimmes von dem Eigensinn hörten, der, aller Bande los und ledig, gern die Ordnung über den Haufen geworfen hätte, das behagte meiner sittsamen Stephanie, da pochte ihr kleines Herz, wenn es hieß: der Cousin ist zur See gefahren, er ist unter die Husaren gegangen. Als gar die Nachricht kam: er ist übergegangen zu uns, was doch niemals recht war, da er einmal bei den Kaiserlichen sein Patent hatte, da wollte dasselbe kleine Herz springen. Nun, sei still, ich war auch einmal jung. Es hört's niemand, August soll es nicht erfahren und du schlägst dir den Gedanken aus dem Sinn, wie du längst getan hast. Bist ja eine glückliche Braut, und der tolle Etienne, wer weiß, ob der jemals nach Berlin kommt. – Ich war ihm auch gut, recht gut, er hatte sehr hübsche Aussichten, aber bei dem bizarren Charakter des Marquis war ja auf nichts mit Gewißheit zu rechnen, und nun ein Soldat! Ich stürbe, wenn ich dächte, daß jemals ein Militär in unsere stille, anständige Familie heiratete, aber gar erst meine liebe, engelgute Stephanie, wenn ich mir vorstellte, daß hier ein Husarenoffizier ihre Hand faßte, sie an den Mund drückte. – Gütiger Himmel, was ist dir? – Du zitterst ja wie im Fieber – sie fällt – eine Ohnmacht – Hilfe, Hilfe herbei!«
Stephanie fiel nicht in Ohnmacht, aber rückwärts übergelehnt, mit starren, weit offenen Augen sah sie den Vater, an der Hand den Bräutigam, eintreten. Das Riechfläschchen tat wieder seine Dienste.
»Es ist nur ein Schwindel,« sagte der Bräutigam. »Wie ist Ihnen, holde Cousine?«
Sie antwortete durch einen Seufzer, der aus der tiefsten Brust kam, und reichte ihm ihre kalte Hand.
»Anfechtungen, lieber Herr Schwiegersohn,« sagte der königliche Rat. »In ihrer Lage wohl erklärlich. Die Stunde kann nicht schnell genug den Mädchen herbeikommen, aber wenn sie da ist, wünscht man um etwas in der Welt, daß sie nicht da wäre.«
»Das bitte ich mir doch aus,« sagte die Rätin in etwas hartem Ton, »unsere Stephanie nicht unter die ›Mädchen‹ rechnen zu wollen, die solche Wünsche hegen oder gar aussprechen. Unsere Tochter ist das würdige Kind ihrer Familie, ganz in den sittsamen Grundsätzen auferzogen, die ihre Eltern und Großeltern zu bewahren sich zur Ehre anrechnen. Hätten wir die Hochzeit um ein Jahr, noch um zwei, um drei Jahr ausgesetzt, sie würde keinen Wunsch dagegen ausgesprochen haben; ja, hätten wir für gut befunden, daß die Verlobung auseinander ginge, auch dann würde unsere Tochter ohne Einrede sich in den Willen ihrer Eltern ergeben haben. Sie hat keinen Willen als die Sitte und die Ehre ihrer Familie. So, Herr Meran, übergeben wir sie Ihnen. Werden Sie das Kleinod zu würdigen, werden Sie das Teuerste, das Schönste, was ein Mutterherz Ihnen bieten kann, nach seinem vollen Werte zu schätzen wissen?«
Der junge Mann legte mit einem beteuernden Blick gegen oben die Hand der Geliebten an die Brust, aber er überließ dem Schwiegervater zu reden.
»Mein Kind, mich dünkt, wir kennten unseren werten Verwandten lange genug, um gewiß zu sein –«
»Daß es ihm nicht einmal einfällt,« fiel die Rätin ein, »mit seiner Frau auf eine Leiter zu steigen und zu sehen, wie's in der Hauptwache aussieht.«
Der Pfeil war abgedrückt. Einige Sekunden herrschte ein peinliches Schweigen. Der Geheimrat zog seine Uhr heraus, die Rätin fixierte die Decke; Stephanie aber, als sie die Röte auf dem schönen Gesicht des jungen Mannes mit krankhafter Schnelle aufsteigen sah, hing sich an seinen Hals:
»Werden Sie meine Unbesonnenheit mir vergeben können, teure Stephanie?« sagte der Bräutigam mit Würde und Fassung, zu dem geliebten Gegenstande gewandt. Das »Sie« war merklich betont.
»Ach, lieber August, Sie werden auch mir viel vergeben müssen.«
»Die Nachricht von Ihrer Unbesonnenheit, Neffe, hat meine Tochter in den Zustand versetzt, in dem Sie die Arme vorhin getroffen. Rührt Sie das nicht, rührt Sie das nicht, daß sie jetzt selbst eine Schuld sich fälschlich aufbürdet, nur um Ihre Verlegenheit zu mindern?«
»Nein – nein, um des Himmels willen, nein,« beteuerte die Braut.
»Mich rührt alles,« sprach der Bräutigam mit Würde, »was von den Lippen dieses engelreinen Geschöpfes kommt. Indem ich in den Spiegel dieser sanften Augen blicke, weiß ich, daß sie noch nie einen Mann mit Teilnahme ansahen; indem ich diese Hand an meine Lippen bringe, bin ich überzeugt, daß noch kein Mund eines Fremden einen Kuß darauf gedrückt, den nicht die Gegenwart der Mutter geheiligt hätte; ich weiß, daß in dieser zarten Brust in diesem Augenblick kein Gedanke atmet, der nicht außer den teuren Eltern mir allein angehörte, das rührt mich, das weiß ich zu würdigen, zu schätzen. Ich bekenne, daß ich unbesonnen war, allein ich halte mich darum nicht für unwürdig, an der Hand dieses reinen Wesens zum Altar zu schreiten. Der Allwissende sah gestern in mein Herz, und er kann mir bezeugen, daß nur eine verzeihliche Wißbegier –«
»Und die beiden Juden, Neveu, was werden die bezeugen?« unterbrach die Rätin.
»Daß ich ein Mensch war!«
»Lassen wir das gut sein, liebe Amelie,« beschwichtigte der Rat. »Ich höre schon die Wagen.«
Die Rätin änderte wirklich ihren Ton und sprach mütterlicher: »Neveu, daß Sie auf die Leiter stiegen, will ich Ihnen verzeihen, daß Sie aber nicht dabei dachten, daß Ihre ganze Familie mitstieg, ist unverzeihlich. Hätten Sie nur einen Überrock, einen Mantel angehabt, aber daß jedermann Sie, Ihren Stand erkennen mußte –«
»Ich bemerkte wirklich niemand.«
»Juden pflegen doch nicht unsichtbar zu sein. Konnten Sie nicht wenigstens sich schnell davonmachen, ehe der eine Sie anfaßte? Überkam Sie kein Schauer, daß ein Jude denselben Arm hielt, mit dem Sie Ihre Braut zum Altar führen wollten?«
»Verehrteste Tante, es waren die angesehensten Kaufleute der Stadt, die Herren Ephraim und Itzig, die sogenannten Judenfürsten von Berlin.«
»Ihr seliger Vater, Herr Neveu, hätte anders gedacht.«
»Die Zeit macht Fortschritte, die Aufklärung wird dergleichen Unterschiede mehr und mehr verwischen.«
»Das mag sein; indessen wird es keinen Einfluß haben auf Leute von Stande. Oder haben Sie vor, mit Ihrer jungen Frau Judengesellschaften zu besuchen?«
»Wer weiß, ob nicht schon unter der nächsten Generation unsere jungen Männer sich Jüdinnen zu Gattinnen wählen.«
»Sprechen Sie von den anderen Deutschen, von der Kolonie, darauf gebe ich Ihnen mein Wort, wird sich keiner so vergessen,« sagte die Tante rasch. »August, tun Sie das nie wieder. Hier übergebe ich Ihnen mein Kind. Nun ist es Ihre Sorge, sie vor jedem Makel, vor jeder Nachrede zu bewahren; an ihr, wie ich sie Ihnen übergebe, ist kein Schatten, kein Makel, kein Geheimnis, kein Fältchen in ihrem Herzen – sprich, meine Stephanie, ist dem nicht so?«
Stephanie rang nach einer Antwort. Die Lippen sprachen, der Ton versagte, die Knie zitterten, die Gestalt wankte.
»Brauche ich einen schöneren Beweis?« rief der glückliche Bräutigam und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.
Die Türen wurden aufgerissen, die Brautführer traten ein. »Der Prediger wartet schon unten!« – »Aufrecht! Standhaft!« rief die Mutter, »die Frisur kommt in Unordnung.« – »Meine Herren« – »Meine Damen« – mehr hörte Stephan nicht in seinem Verschlage. Einige scharrende Tritte, dann schlugen die Türen zu. Es war niemand im Zimmer nebenan zurückgeblieben und die Tapetentür zum Kleiderverschlag war verschlossen wie vorher.
Einspruch konnte er nun nicht mehr tun. »Die arme Stephanie!« murmelte er, den Kopf in die Hand stützend. Er verfolgte in Gedanken die Seelenqualen, welche sie während des Gesprächs erlitten, jedes Wort der Mutter, jede Rede des Bräutigams verschloß ihr den Mund, so bereit er war zum schweren Bekenntnis. Sie konnte nicht anders handeln, gab er ihr das Zeugnis, und doch mit welcher Schuldlast auf ihrem jungfräulichen Herzen mußte sie vor den Altar treten!
Da stürmte etwas die Treppe herauf, die Türen wurden aufgeschlossen, aufgestoßen, ein Männertritt drang ins Zimmer, ein Druck am leichten Schloß der Tapetentür und sie flog auf. Der Bräutigam, Herr Meran, mit erhitzter Stirn am Eingang, sah sich im Dunkel nach dem Gefangenen um: »Herr Cousin! Teurer Herr Cousin!« Er reichte dem Liegenden die Hand, riß ihn hervor und drückte ihn an die Brust.
»Tausendmal willkommen, o mein wertester Anverwandter! Stephanie hat mir beim Einsteigen im Wagen alles vertraut – mir allein. – Es hieß sie nicht so zur Kirche fahren. Vergeben Sie der jungfräulichen Befangenheit der eingeschüchterten Braut. Unter dem Vorwande, daß sie etwas vergessen, stahl ich mich herauf. Es weiß niemand, es soll auch niemand darum wissen. – Man kennt Sie hier nicht – heraus. – Retten Sie sich, wenn Sie fliehen müssen, kommen Sie wieder, wenn es Ihnen erlaubt ist – treue Freundesherzen schlagen hier für Sie – jetzt aber leben Sie wohl – jede Sekunde ist gestohlen – man darf keinen Verdacht geben – Sie kennen uns, Sie kennen die Familie.« –
»Edler, werter Vetter!« sprach Etienne. »Gott lohne es Ihnen, und er wird es Ihnen lohnen an der Hand einer solchen Gattin. Wir sehen uns wieder.«
»Gott schütze und schirme unseren erlauchten, großen König,« rief der Kandidat, »verleihe ihm wieder den Sieg und segne seine tapferen Streiter. Gott mit Ihnen, Cousin. Sie wissen, wo Sie Freunde finden.«
Als Etienne, behutsam dem Bräutigam folgend, welcher in der ausgestorbenen Wohnung die Türen verschlossen hatte und ihm voraus hinuntergestürzt war, jetzt an der Haustür anlangte, fuhr der Wagen schon um die Ecke. Noch erkannte er Stephanies lieblichblasses Gesicht, sie durfte ihm nicht zunicken, ihr heller Blick traf ihn noch, Herr Meran grüßte. Er sah Stephanie als Jungfrau nicht wieder, auch nicht als vermählte Gattin, erst als Mutter. Aber er empfand eine freudige Beruhigung in dem Augenblick, er wußte, sie würde glücklich werden. Der Anblick des glücklichen Bräutigams hatte ihm volles Vertrauen eingeflößt. Er war ihm in dem einen Augenblick innig gewogen worden. Der wohltönende Klang seiner Stimme drang zum Herzen und sein Auge sprach von Seele, von Würde – seltsam, auch von Mut!
»Mut!« sprach der Offizier für sich. »Er stolperte von der Leiter vor einem Kosakenbart!« Etienne hatte in dem Augenblick die innigste Verachtung gegen ihn empfunden, er hatte aus vollem Herzen mit gelacht; was hatte seine Gesinnung so schnell verwandelt, was ihm einen so anderen Begriff von dem jungen Manne beigebracht? »Was ist denn Mut?« fragte er sich. »Vor einem Kosaken stillzuhalten? Er wird ein Mann sein, wo sein Beruf es fordert: Als Gatte, als Vater gegen andrängende Not; als Geistlicher wird er die verpestende Luft des Krankenbettes, wenn er den Sterbenden trösten soll, nicht scheuen. Er wird von der Kanzel herab reden wie ein preußischer Untertan, die Drohung der fremden Gewalthaber nicht achten und für seinen König furchtlos beten. Als Bürger würde er vielleicht dem fremden Monarchen den Eid verweigert haben, zu dem man die Beamten in Preußen zwang. – Und doch, er hätte nicht sollen von der Leiter stolpern! – Was war denn der Grund seiner Furcht? Der Kosakenbart war ihm etwas Neues, Ungewohntes. Warum fürchte ich mich nicht? Weil ich schon hundert Kosakenbärte gesehen. Wäre nicht die Kanzel, sondern der Krieg sein Studium gewesen, er möchte noch dreister als ich dem Burschen ins häßliche Gesicht geschaut haben.« Er dachte weiter zu Gunsten seines neugewonnenen Freundes, er entsann sich, daß er ja selbst mit den Augen geblinzelt, als er zum erstenmal die feindlichen Bajonette aus dem Staube vorblitzen sah. Das war längst überwunden, längst weggewaschen, er brauchte nicht mehr zu erröten. Aber war das Mut, als er gestern von der Schwelle des elterlichen Hauses umkehrte? – Sein Cousin, der Kandidat, wäre nicht umgekehrt. – Er wurde rot, den Rückzug hatte er noch nicht verwunden, und er mußte die Scharte auswetzen.
Wir sahen uns schon einmal im Laufe dieser für Berlin verhängnisvollen Tage gedrungen, der Geschichte vorzugreifen, um die Aufmerksamkeit unserer Leser bei Begebenheiten zu erhalten, deren Erfolge über die Zeit, in der wir noch zu verweilen genötigt sind, hinausliegen. Zwar hoffen wir den jungen Kandidaten noch wiederzufinden, ehe die Helden unserer Geschichte von den Lesern Abschied nehmen; sollte indes deren Aufmerksamkeit alsdann von anderen Personen in Beschlag genommen sein, so fürchten wir, der Kandidat Meran, der nur ein Episodeninteresse in Anspruch nimmt, möchte ihnen so aus dem Gedächtnis entrückt sein, daß, was wir ihnen von dem Ausgang des Abenteuers zu melden haben, alsdann zu spät kommt. Wir machen deshalb noch einmal von der Freiheit des Vorauserzählens Gebrauch und sind so unbescheiden, über ein halbes Jahrhundert hinwegzuspringen.
Der unglückliche Vorfall an der Berliner Hauptwache blieb nicht so verborgen, als die Tante Rätin gehofft. König Friedrich erfuhr davon und schrieb aus seinem Hauptquartier einen eigenhändigen Brief an den ihm persönlich nicht unbekannten jungen Geistlichen folgenden Inhalts:
»Mein lieber Kandidat!
Da mir rapportiert worden, wie Er sich neulich distinguiert hat bei der Affäre an der Hauptwache, so ernenne ich Ihn hiermit von wegen seiner bewiesenen Bravour zu meinem Hauptmann bei der Infanterie. Fahr' Er so fort in der Courage und ich bleibe sein wohlaffektionierter König
Friedrich.«
Aus dem jungen Kandidaten war im Laufe der Zeit einer der würdigsten Geistlichen geworden, einer der ersten Kanzelredner, deren Berlin sich rühmen darf, als sechsundvierzig Jahre nach jenem Vorfall abermals ein feindliches Heer vor den Toren der preußischen Hauptstadt erschien. An der Spitze der deputierten Geistlichkeit trat dem Sieger Napoleon festen Fußes, unerschrockenen Blickes ihr Wortführer entgegen, und indem der ehrwürdige Greis den Arm des Kaisers kräftig faßte, sprach er die ewig denkwürdigen Worte: »Sire! Ich wäre ja nicht würdig des Kleides, das ich trage, des Wortes, das ich verkünde, des Königs, dem ich diene, wenn ich nicht im allertiefsten Schmerze Eure Majestät an dieser Stelle sähe.« So war der Sieger von Marengo noch von keinem Besiegten angeredet worden. Napoleon ehrte den Mut.
Und – seltsames Spiel, Rätselnatur des menschlichen Geistes! – derselbe kühne Geist, der in seinem Gottvertrauen, durchdrungen von patriotischem Zorn, den eisernen Arm ergriff und schüttelte, dessen Druck die Welt erbeben machte, derselbe Greis erinnerte sich beim Anmarsch der Franzosen, daß er in seinem Pult das Patent als Hauptmann bei der Infanterie liegen habe. Aus Furcht, es könne ihm Unannehmlichkeiten verursachen, wenn die Franzosen seine Eigenschaft als preußischer Offizier entdeckten, verbrannte er das kostbare Dokument einer königlichen Laune, Friedrich des Einzigen eigene Handschrift!