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In einem Nu war der Kandidat verschwunden, die beiden jüdischen Herren liefen ums Gießhaus, und die Wache stürzte ins Gewehr, noch schlaftaumelnd, indem sie sich ordnete, und schon schlugen die beiden Tambours um die Wette den Lärmtrommeln zu, welche von einem entfernten Teile der Stadt her den Generalmarsch wirbelten. Gesindel, Frauen, Bauern, Kinder, Soldaten, die zu den Versammlungsorten stürzten, füllten bald den Platz mit Geschrei und Staub. Einen Augenblick gab Etienne, der es nun auch ratsam hielt, sich unter das dichteste Gedränge zu mischen, dem täuschenden Wahne Raum, die Preußen wären im Anmarsch, Friedrich vor den Toren; nur zu bald gab sich indes der Auftritt für nicht mehr kund als er war, eine Plünderungsszene, welche Widerstand, Einsprüche, Alarmbefehle veranlaßt hatte. Die Österreicher hatten sich eigenmächtig, wie sie einige Tore schon besetzt, auch gegen die Kapitulation einquartiert. Man warf die Bürger zu den Türen hinaus, und was ihnen von der Familie und den Sachen nicht anstand, hinterher. Ihr Geschrei wurde für sträfliche Widersetzlichkeit erklärt, es kam zu Mißhandlungen, offener Plünderung, und während der Alarm sich über die weite Residenz verbreitete, wurde in einzelnen Teilen derselben wie in einer durch eine wilde Soldateska mit Sturm genommenen Stadt verfahren. Lang gehegte Wut und Gier gegen die Hauptstadt ihres Todfeindes ließ sie da eine Pflicht suchen, wo die russischen Generale nichts als Insubordination fanden.
Etienne drängte mit und wurde gedrängt aus einem Stadtviertel ins andere, er sah, wie sie die Warenvorräte des Kaufmanns aus den Fenstern warfen, fast nur, um die kostbaren Stoffe zu zerreißen und zu zertreten. – Wenige gewannen dabei, – er sah oder hörte vielmehr, denn der Anblick scheuchte ihn zurück, wie kannibalische Beulelust selbst die Särge einer Gruft erbrach in der geplünderten Jerusalemskirche. Mehr als einmal war er daran, sich zu verraten, das preußische Blut spornte ihn an – das Volk zum Widerstande aufzuhetzen, aber das Bürgerblut, wenngleich patriotisches, floß in gesetzmäßigem Laufe durch die brandenburgischen Adern. Die Massen, in die er in unbesonnener Aufwallung Feuer bringen wollte, retteten ihn jedesmal, indem sie ihn in ihrem trägen Strom verbargen. Jetzt sank er, abgespannt, hungrig, durstig, auf eine vor einem Branntweinladen hinausgeschobene Bank, gleichgültig, was der drinnen tobende Lärm bedeute. Sie drohten, lachten, schlugen, fluchten; Österreicher, Kosaken, Einwohner, Männer und Frauen durcheinander. Eine kreischende Stimme, die einem Wesen der letzten Gattung anzugehören schien, machte sich besonders vernehmbar, wie der Gesang, zu dem das andere nur der Chor war. Etienne wartete, bis sie ausgetobt hatten, um für Geld und gute Worte einige Erfrischungen zu erhalten. Er saß, die Stirn in der Hand, als unter noch gesteigertem Lärm der ganze Inhalt der Budike sich rückwärts auf die Straße ergoß. Ein kleiner Tambour fiel ihm vor Lachen fast auf den Leib, die Österreicher jodelten ein Wiener Spottlied, die Kosaken wieherten vor Lust, und die Straßenjugend jauchzte vor Jubel. Sie hatten ja nichts zu verlieren, jedes neue Schauspiel war ein Gewinn. Aus der Ladentür zerrte man am Schweif ein ausrangiertes Kosakenpferd, und darauf reitend, wie ein Mann, aber rückwärts, den Schweif statt Zaum und Zügel in der Hand, saß, halb angebunden, das Ziel der Ausgelassenheit, der Triumph der Lust, ein widerwärtig ausgeschmücktes, vor Zorn gelb und rotes altes Weib. Die Haube hatte man ihr verkehrt aufgesetzt, die grauen Haare flatterten zur Hälfte im Winde, ein zerfetzter Husarenpelz war ihr als Korsett über den Leib gezogen und ein großer Kurierstiefel über den einen Fuß gestülpt. Was sie indessen häßlicher als alle Attribute des grotesken Scherzes machte, war die innere Wut, die nicht Organ genug fand, sich auszusprechen. Das aufgeschwollene Gesicht bebte, die Augen rollten, die Lippen standen voll Schaum, alles vor Anstrengung, daß sie nicht Stimme genug fand, Kroaten, Panduren, Russen, Kosaken, Trompeten und Trommeln und die Berliner Straßenjungen zu überschreien.
»Mutter Kurzinne, Mutter Kurzinne
Ist eine häßliche alte Spinne!«
sangen springend und jubelnd die ausgelassenen Buben.
Waren denn zwanzig Jahre ein Traum gewesen, eine Spanne Zeit? War die bedrängte Frau, auf die sein Auge jetzt fiel, die gefoppte Reiterin, der Unhold, die Zielscheibe rohen Witzes, sie, die den Mund aufsperrte, als wollte sie sich mit der ganzen Soldateska beißen, die mit der Faust jetzt den Gassenbuben, jetzt Himmel und Erde drohte, nicht dieselbe Krämerfrau und Verwandte, welche ihn so oft an den Ohren gezaust, dieselbe, die mit zu seinem Entlaufen aus Berlin Veranlassung gewesen? Es mochten zehn Jahre her sein, daß er nicht an sie gedacht, und stand nicht jetzt wieder die Kinderzeit von damals ihm vor der Seele, fühlte er nicht die Angst in sich, als habe er etwas begangen, klapperten nicht die Murmeln ihm in der Tasche, konnte sie ihn nicht entdecken, auf ihn hinweisen, ihn angeben? Unwillkürlich fühlte er eine Röte im Gesicht, er mochte nicht ihrem häßlichen Blick begegnen, es war dieselbe Frau, Jahre konnten sie nicht häßlicher machen, ihren Höcker nicht ebnen, ihrer Stimme keinen Wohllaut leihen. Aber er war doch ein anderer.
»Was hat sie denn begangen?« fragte er vor sich hin, und ein paar Knaben, ungefähr wie er vor zwanzig Jahren, beeiferten sich, ihm zu antworten. Die Sache war für sie wichtiger als die Einnahme von Berlin, und daß ihrer Eltern Häuser die Plünderung drohte. Fast gerieten sie sich in die Haare, beide vor Eifer, ganz genau den nicht Unterrichteten von dem erstaunlichen Vorfall in Kenntnis zu setzen. Sie hatten vom Ladenfenster den Auftritt belauscht. Etienne erfuhr wenigstens das mit Gewißheit, die Straße von Berlin hatte seit zwanzig Jahren ihre Sitten nicht gewechselt.
»Sie hat nach ihrer Einquartierung geschlagen; nach zwei Kosaken, stellen Sie sich das vor.«
»Nein, die Kosaken haben ausgeschlagen, und dann hat sie nachgeschlagen.«
»Das lügst du," fiel der erste ein. » Sie hat zuerst geschlagen. Das war beim Schnaps, aber beim Sauerkohl schlug sie erst.«
»Hast du nicht gesehen, wie der Kosak mit der Hand in den Topf griff, weil's ihm nicht genug war?«
»Ja, aber weil er zu viel nahm, da nahm sie wieder, so viel sie mit ihren fünf Fingern greifen konnte, und tat es zurück.«
»Und er nahm noch mal.«
»Und sie griff's noch mal retour.«
»Und da kriegte sie einen Klaps.«
»Das war aber nicht ernst gemeint. Aber dann trank der Kosak aus der Schenkflasche, und sie wollte sie ihm fortreißen, und der Kosak wollte noch trinken, und wollte drum nicht hergeben, und da sprang sie nach ihm und riß ihm die Flasche vom Munde –«
»Nein,« rief der andere, »erst gab ihr der Kosak eins über die Backe und sagte, er hätte Durst.«
»Das war ja der Kosak mit dem roten Bart, und erst hatte sie ihm mit der Faust ins Gesicht eins versetzt.«
»Das weißt du wohl apart! Das geschah nachher, und drauf kriegte er sie bei beiden Beinen zu packen und setzte sie auf den Ladentisch.«
»Und da griff sie,« fiel der erste wieder ein, »nach der Karbatsche und prügelte auf sie beide los, wo's hintraf, und fragte, ob das anständig wäre, aus der Flasche zu trinken, und ob man trinken täte, ohne bezahlt zu haben, und was das für Gäste wären, die sich nicht den Mund abwischten, und wenn der König und alle Mannsbilder mit und ohne Schnurrbärte Hans Nachtmützen wären, so wollte sie ihnen zeigen, daß sie keine Nachtmütze wäre, sie fürchte sich nicht vor Laudon und Daun, und wenn der Gottseibeiuns in einer Kosakenhose stecke, so wolle sie ihn Mores und Manier lehren.«
Die Unholdin hatte wirklich, im Vertrauen auf ihre unverwüstliche Lunge und großen Hände, deren Eindruck die Zeit nur schärfer gemacht, selbst mit den Feinden ihres Königs angebunden; vor denen ein Korps von zwanzigtausend tapferen Preußen nach Spandau retirierte und der Magistrat kapitulierte, erschreckte ihre Streitlust nicht. Allein das Glück ist nicht immer gerecht, die Feinde hatten mehr Stärke deployiert als Frau Kurzinne, aber nicht denselben chevaleresken Sinn; denn die Widerbellerin war von dem Soldatengericht empörenderweise verdammt worden, da man kein Laken fand zum Prellen, im schon beschriebenen Triumphzuge durch die Stadt zu reiten, und, was sich beiläufig verstand, freundliche Zurechtweisungen in dem Maße gelegentlich zu erhalten, als sie selbst damit ihre Einquartierung bedacht hatte. Etienne überließ es jenen, vollständig zu erörtern, ob der Kosak sie auf den Tisch gesetzt oder die Frau hinaufgesprungen sei, indem er schon um mehrere Schritt, ohne zu wissen, wie er dazu kam, mit dem Strome fortgetrieben war.
Die Herzensergießungen der Krämerin verminderten sich keineswegs mit der anwachsenden Menschenmenge. Ihr alter Körper, der an Rührigkeit und zäher Muskelkraft mit den Jahren gewonnen zu haben schien, bäumte sich bei jedem Schritt gegen die widerfahrene Mißhandlung. Die Hände geballt gegen die Wolken, halb wie im Steigbügel sich erhebend, strömten aus dem großen, weit aufgerissenen Munde ihre Schmähungen aus: ein dunkler, mächtiger, unaufhaltsamer Strom, und Etienne konnte lernen, wie die Berliner Sprache an kühnen Ausdrücken, an überraschenden Wendungen, an treffenden Bildern in zwanzig Jahren reicher geworden. Nur daß Kosak und Kroat sie gar nicht, der Österreicher nur halb verstand, schien immer etwas ihre Wut irrezumachen; aber liefen nicht Gassenjungen mit, sahen nicht Bürgersleute aus dem Fenster und sahen ruhig zu oder lächelten gar! Sie ließ mit treuem Gedächtnis alles dessen, was seit vierzig Jahren zwischen ihr und ihrer Nachbarswelt sich ereignet, überall einen Denkzettel daran zurück, wie der Maurer, der mit seinem Sprenkelpinsel über die Wand fährt. Kein Fleck bleibt rein; hier wird stärker getüpft, dort schwächer, aber das Ganze hat doch einen gleichmäßigen Anstrich. Allein jetzt gewahrte sie in der Menge einen Gegenstand, der besonders wert schien, daß sie den letzten Vorrat Ingrimm aus ihrer kochenden Brust auf ihn entlade.
Gebückt schlich inmitten einiger österreichischen Militärs eine abgelebte Gestalt an der Mauer fort. Das hagere Olivengesicht, kaum mehr noch als Knochen und Haut, doch mit einem Paar Augen, dem Neid und der Mißgunst abgestohlen, blickte aus einem abgeschabten braunen Rocke vor, der doppelt den Leib bedecken konnte, um den er schlotterte. Der Mann wankte an einem Stocke und schien halb Gefangener, halb Führer seiner militärischen Begleitung. Als er, um den Strom vorüberzulassen, sich an die Mauer stellte und nach den Teilnehmern am Zuge schielte, begegneten sich die Blicke der Frau und des Mannes, und die der ersteren fingen neuen Feuerstoff, während der letztere, von der apathischen Gleichgültigkeit des Alters gedrückt, dazu nicht mehr fähig sein mochte.
»Wohin denn an der Mauer lang, Herr Advokate?« hub das Weib an, und die Wut schien wirklich in eine Art Freude überzugehen. »Warum denn den Kopf zur Erde, da wir ein reicher Mann sind? – Wollen wir einen Schluck Goldwasser bei mir trinken? Da ist nichts mehr zu schlucken, andere haben geschluckt. Bedauere, Herr Advokat, hätten früher kommen müssen. Es ist reiner Tisch gemacht. Wo steckte denn der Ehemann, als sie die Frau malträtierten?«
Als der Advokat, das Beste, was er tun konnte, gleichgültig blieb, denn für die Menge zählte er nur zu den vielen, die schon an Fenstern und in den Türen, jeder das seinige vom Ingrimm der Furie erhalten hatten, erhob diese ihre Stimme:
»Taub will er sein und mich nicht verstehen. Ich will ihm aber ins Ohr schreien, bis dem alten tauben Schuft das Zwerchfell platzt. – Wer das ist, wollt ihr wissen? – Ein Rabulist, ein Winkelschreiber, ein Geizhals, ein Betrüger, ein Gauner, hat Vormundschaftsakten gestohlen, eine rechtschaffene Frau geheiratet, um sie um ihr alles zu bringen, konfisziert ist er, kondemniert, in Spandau gesessen, ja unterm Galgen war sein Sitz, wenn Gerechtigkeit wäre. Schlipalius heißt er und mein Mann ist er.«
Als dies bei der Menge nur eine halbe, bei dem Manne aber gar keine Wirkung hervorbrachte, fuhr sie noch kreischender fort und wäre, wenn sie nicht angebunden gewesen, vom Klepper heruntergesprungen:
»Wenn er nicht verstehen will, ich weiß ein Mittel. Schreit ihm ins Ohr hinein, wo er seine Geldsäcke vergraben hat, das versteht er gleich. Da um die Ecke ist sein Haus, der Hof hat einen Verschlag und die Keller sind rechts und links. Vorm Tor ist sein Garten. O, wenn ich die Gerichte gewesen wäre, als er Paupertät schwur, ich hätte ihm die Paupertät gleich siedend heiß in seine durstige Kehle gegossen. Was ist Paupertät? Ich will schwören, daß ich eine reiche Frau bin, ich will schwören, daß ich der König von Preußen bin. O, schwören kann man alles, was man muß. Die Pappstoffel hier! Lassen sich schwören von ihm Paupertät. Soll mich wundern, ob die kaiserlichen Generale auch so lange Eselsohren haben, als unser Magistrat und die hohe Obrigkeit, Gott steh' mir bei! – Der Filz ist ein reicher Mann, ein sehr reicher Mann, so wahr ich hier auf'm Pferde sitze, ein steinreicher Kerl, aber Sie haben sich ein X für ein U machen lassen, einen Zopf, eine Nase bis nach Köpenick drehen, die Langohren! Er kann noch Blut lassen, wenn man ihn recht zapft, so blaß er aussieht. Faßt ihn nur ordentlich an, er verträgt schon was, er fährt nicht gleich aus der Haut, der Witwendieb, der Waisenschinder. Reißt ihm nur die Weste auf, den Rock auf, da sitzt es, Banknoten und Verschreibungen. Seine Seele ist längst verschrieben. Trennt ihm die Hosennaht auf, schneidet ihm die Sohle ab, er geht auf doppelten Friedrichsdors, seine Knöpfe sind übersponnene Dukaten, Gott strafe mich, so wahr ich ein ehrliches Weib bin, alles ist pures Gold an dem Schuft.«
Entweder hörte der Advokat nicht, was man aber, nach seinen gespitzten Ohren zu schließen, nicht annehmen darf, oder es waren Verleumdungen, oder er hatte zuvor gesorgt, daß sie es wenigstens für den Augenblick waren. Denn er blieb gelassen und ruhig, während die gierigen Blicke aller derjenigen, welche das Weib verstanden hatten, seine Mienen und seinen ärmlichen Aufzug musterten. Er schüttelte sich und es klimperte nichts von Gold, der österreichische Korporal kommandierte: »Marsch! Wir haben nach anderen Dingen zu suchen.«
»Nach anderen Dingen,« schrie die Reiterin, »nach was für anderen Dingen, wenn ihr Esel sein wollt und dem gelben Duckmäuser sein schweres Geld lassen, das er alle Nacht einbuddelt? Will er angeben? – Sein Geld? Wo das liegt, wird er euch nicht auf die Nase binden. Seiner Nachbarn ihres? – Die haben keines mehr. Er hat's ihnen ausprozessiert. Seines Königs Geld? Ach, du Halunke, du Karaibe! Hört ihr's, Leute, Frau Stadtwachtmeistern, Herr Klempnermeister, Jungens, seht, so sieht ein räudiger Hund aus, dem die Gelbsucht in die Glieder gefahren, ein Spitzbub' an Gott und seinem König, ein Malefikant an der hohen Obrigkeit. Der da, der da will den Feinden angeben, wo treue Diener ihres Königs Gut versteckt. O, so müßten ja die Balken über ihn brechen, der Keller einfallen. Er bricht ja in die Knie vors böse Gewissen, kitzelt ihn doch mits Bajonett, und dann gießt dem Judas sein Angebeteil geschmolzen in die Gurgel. Merkt ihn euch, Jungens, so hustet er, so blinzelt er mit den Wimpern, so zwickt er mit den Fingern, merkt ihn euch, den Schleicher, und wenn der König retour kommt, peitscht ihn nackendig durch die Gassen, den Judas, den Witwenschinder, den Abimelech, den gelben Advokatenschlund, den grünen Aktendieb, das durstige Triefauge, den Papierfraß, Schlipalius heißt er, und mein Mann ist er.«
Die letzten Worte erreichten nicht mehr ihre Adresse. Die österreichische Wache hatte ihren Schützling fortgerissen und die russische trieb ihre Schützlingin weiter, vielleicht besorgt, daß ihre Lunge nicht ausreichen möchte, wenn sie schon auf den ersten Schritten so übermäßige Ausgaben mache. Etienne, dem es für einen Augenblick in den Sinn gekommen, zu Gunsten seiner ehemaligen Verwandtin den Ritter zu spielen, freilich aber nicht viel ernster als es ihn vorhin im alten Geist seines Kindermutwillens der Gefoppten nachzulaufen trieb, war schnell durch die letzten Reden auf andere Gedanken gebracht. Der Advokat Schlipalius wollte Kassengut angeben. War es der alte Knabeningrimm, war es Patriotismus, oder was, das ihn dem verhaßten Menschen nachtrieb, daß er, durch das Gewühl sich drängend, hier eine Frau mit dem Kinde stieß, dort mit einem Soldaten anband, daß er, fast erschöpft zum Umfallen, jetzt atemlos der Wache, die einen bedeutenden Vorsprung gewonnen, nachstürzte?
Man weiß nicht bestimmt, welche Nachweisungen die Österreicher sich von dem abgesetzten Advokaten versprachen, aber ihre Erwartungen mußten nicht ganz gering sein, denn ein paar Kriegskommissarien hatten sich auf der Wache eingefunden, wo man den alten Mann sich von dem Gange, der seine Kräfte erschöpft, erholen, und vor dem neu bevorstehenden einige Erfrischungen einnehmen ließ. In dem Ofenwinkel saß er auf einer Bank und tauchte eben das Stückchen Semmel in das Likörglas, als er zu seinem Schrecken bemerkte, daß er hier nicht allein war. Denn dicht neben ihm auf der Bank saß ein junger Mann mit einem Schnurrbart und einer entschlossenen Miene. So dicht hatte er sich an den zitternden, schmutzigen Greis genestelt, daß er ihm ins Ohr flüstern und doch dabei schreien konnte: »Schurke, rühr' dich nicht, oder du bist verloren.«
Dabei blitzte ihm die Öffnung eines Terzerols entgegen, klein zwar, aber groß genug, ihm auf einen Druck den Rest seines elenden Lebens zu rauben.
»Was haben Sie, mein Herr?« näselte der Advokat, und der Bissen Semmel war in das Glas gefallen.
»Schuft, was du vor hast? Das ist die Frage.«
»Nichts –«
»Verraten deinen König!«
»Barmherzigkeit, nein – ich bin ein heruntergekommener, armer, verredeter Anwalt –«
»Ich kenne dich, still! – Führst du die Kommissare dahin, wo sie nur einen preußischen Kassenbeutel mit des Königs Siegel, nur einen Taler mit des Königs Bild, nur einen Pfennig mit des Königs Namenszug finden, so rechne darauf, ich verfolge dich wie dein böser Geist, bis nach Sibirien, bis an den Rand des Grabes, bis an den Fuß des Galgens, wo du hängen sollst, verräterischer Gauner, so wahr ich dich kenne und du mich auch einmal gekannt hast. Sieh mich an.«
»Wer – wer sind Sie?« fragte stammelnd das hohläugige Gespenst; seine Knochenhände sanken kraftlos in den Schoß zurück, das spitze Kinn war nach dem Fremden aufgerichtet, der Blick suchte nach einer Erinnerung.
»Der Sohn des Inspektors Bohm, den du verleumdet hast,« schrie ihm stärker, als er selbst wollte, Etienne ins Ohr und sprang von der Bank auf. »Nun tu' was du willst, ich finde dich wieder, und wenn du dich in ein Mäuseloch verkriechst.«
Er würde vielleicht nicht so eingeschritten sein, wenn er diese Folgen geahnt hätte. Das durfte er aber nicht erwarten. Mit einem Schrei: »Allbarmherziger Gott!« sank, die Hände, noch einmal zusammenschlagend, das Gespenst in die Knie. Es war seine letzte Anstrengung, seine letzte Handlung. Die Laute »Allba–« auf den Lippen, stürzte er zusammen und auf den Boden nieder, wie ein umgestoßenes Gerippe, das nur die Hand des Sammlers noch einmal aufgestellt hat. Etiennes Name hatte ihn getötet. Seine Stirn fiel auf Etiennes Fußspitze.
»Was ist das?« schrie dieser, entsetzt zurückfahrend. »Was ist das?« wiederholten zehn Stimmen. »Tot!« – »Der alte Mann.« »Er hat ihn erwürgt.« – »Wer ist der Kerl?« – »Ein Spion.« – »Nieder mit ihm.« – »Greift ihn.«
Etienne hatte vorsichtig ein Fenster in der Nähe des Ofens aufgedrückt, ehe er sich an den Advokaten machte. Jetzt war es zu spät, die Bestürzung ließ ihn nicht, so lange es noch Zeit war, von dem einzigen Wege zu seiner Rettung Gebrauch machen. Eben wollte man ihn greifen und binden, jeder Widerstand wäre töricht gewesen, als draußen eine österreichische Zunge rief: »Zu den Waffen! Zu den Waffen! Die Russen!« – »Raus!« scholl aus mächtiger Bierkehle der Ruf der Schildwache vor dem Gewehrposten. Eine Kleingewehrsalve platzte um die Ecke her. »Ins Gewehr!« kommandierte der Korporal, und noch einmal sah sich Etienne frei, wenigstens innerhalb der vier Wände seines Gefängnisses. Das Fenster war noch offen, es ging nach der Seite hinaus. Der Leichnam lag davor. Er schob ihn weg, aber, einen Fuß schon auf dem Fensterbrett, fiel es ihm noch ein, daß er etwas Hartes auf der Brust des Toten gefühlt. Es war eine Brieftasche, vielleicht enthielt sie auf den Verrat bezügliche Papiere. Er riß sie heraus, ein zweiter Ansatz, und er war im Freien.
Es trommelte, Bewaffnete stürmten von zwei Seiten herauf, drüben am Platz gab es ein Handgemenge. Österreicher und Russen gegeneinander. Endlich hatte Tottleben, als alle Vorstellungen gegen das kapitulationswidrige Benehmen der Österreicher fruchtlos blieben, auf die Plünderer Feuer geben lassen. Die Kameradschaften traten zusammen, die Generale hatten für den Augenblick keine Stimmen, keine Autorität, es schien zu einem heftigen Gefecht zwischen den beiden alliierten Nationen innerhalb der Straßen Berlins kommen zu sollen. Links stand die Wache im Gewehr, rechts marschierten die Russen die Straße herauf. Stephan flog nach rechts, aber die Russen machten kehrt, nach einer anderen Seite kommandiert. Die Trommel der Wache wirbelte hinter ihm; er flog an der Häuserreihe hin, alle verschlossen. Wäre er langsam gegangen, wäre er vielleicht ruhig entkommen! Jetzt fiel der Flüchtling auf. Schwerbenagelte Schuhsohlen der Kroaten klappten hinter ihm her. Er bog um mehrere Ecken, die Verfolger verloren ihn nicht. Ein Offizier zeigte aus seinem Fenster: »Dort läuft er.« Das Nachsetzen wurde um so eifriger, als man nicht wußte, weshalb er verfolgt wurde? Jetzt lag eine lange Straße ohne Quergassen vor ihm. Er hatte sie noch nicht zur Hälfte erreicht, als russische Offiziere von der anderen Seite ihm entgegen sprengten. Er erkannte Tottleben an ihrer Spitze.
»Wohin?« donnerte des Generals Stimme, doch nicht ihn, sondern die Österreicher hinter ihm an, denen sein Pferd den Weg verrannte. »Es wird nicht geplündert. Zu euren Regimentern! Auf die Sammelplätze!«
Die Antwort war: »Einem Ausreißer nach. Auf Kommando.«
»Wer ist der Ausreißer? Was tat er?«
»Er schlug einen Führer auf der Wache tot.«
»Das ist etwas anderes,« rief Tottleben, davonsprengend. »Tut eure Schuldigkeit.« Nun aber war dies, wenigstens für den Augenblick, zu spät. Der Flüchtling hatte die Ecke gewonnen, jetzt nahmen ihn andere Haufen flüchtiger unglücklicher Einwohner auf; er konnte wenigstens in ihrer Mitte Atem schöpfen. Da sprengte sie eine Schwadron Husaren auseinander. Er sah die Kroaten, – waren es die nach ihm ausgeschickten oder nicht, – zehn Schritt vor sich; er war abermals ganz allein ihren Blicken ausgesetzt, er wurde vielleicht wieder vor Tottleben gebracht, angeschuldigt, erkannt. Da öffnete sich leise eine Haustür, er riß sie auf, stürzte, er sah nicht wen, um, und flog die Treppe hinauf. Erst als er den Boden erreicht, hörte er Lärm hinter sich. Hier war nicht weiter zu fliehen. Aber das Dach war nicht steil, das vom Seitenhause stieß daran. Auch eine geringere Gefahr hätte das Wagestück gerechtfertigt. Er gelangte auf diesem Wege unbemerkt und glücklich auf den Boden noch eines dritten Hauses. Hier verließ ihn seine Kraft. Er war für den Augenblick gerettet, kein lebendes Wesen ließ sich erblicken, seine Anwesenheit scheuchte nur einige Fledermäuse und den Hauskater fort. Auf der Gasse trommelte man noch, aus der Ferne kamen einige Schüsse. Er suchte kein bequemeres Lager, als der Futtersack ihm bot, auf dem er den müden Kopf ruhen ließ und bald über alle Sorge und Erinnerung wegschlummerte.