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Wer nie in Alt-Dresden war, weiß auch nicht, daß daselbst nicht über der ersten, sondern erst über der zweiten Treppe die Bel-Etage anfängt. Die Statistiker sind uneinig über den Grund dieser Abnormität; die Einwohner behaupten, Feuchtigkeit und Kälte der Erdgeschoßgewölbe, meist zu Kaufmannsniederlagen eingeräumt, treibe die vornehme Welt in die Etage, welche im übrigen Europa die zweite heißt. Es ist zweifelhaft, ob diese uralte Annahme in der sächsischen Hauptstadt auch den mächtigen Erschütterungen der neuesten Zeit widerstehen wird; zu der des siebenjährigen Krieges bestand sie aber noch in voller Kraft und auch die Familie des Grafen Meroni hatte ihre Wohnung in der zweiten Etage ihres Hotels in der Moritzgasse aufgeschlagen. Noch sah es indessen wüst und unordentlich in den geräumigen Vorderzimmern aus; denn während des drohenden Bombardements waren die besten Effekten in die festen Gewölbe zu flacher Erde gerettet worden und erst heute fing man an, sie wieder heraufzuholen und in die alte Ordnung zu bringen. Der Graf ging schweigend den Dienern zur Hand, die Gräfin, welche in eifrigem Gespräch mit einem ernsten Manne am Fenster stand, ermahnte sie dann und wann durch Wort und Wink, mit mehr Stille zu Werke zu gehen. Der Mann, mit dem sie sprach, gehörte, nach seiner Physiognomie zu schließen und dem sicheren Wesen, mit dem er dastand, zu den im Hause Bevorrechteten. Seine Blicke suchten nicht die der anderen, sondern die der anderen ihn. Er hatte nicht die Miene eines vornehmen Mannes, auch keines Verwandten, noch weniger die eines reichen Gläubigers; zum beliebten Hausfreunde fehlte ihm die Leichtigkeit, denn er lehnte sich, wie die Bequemlichkeit ihm eingab, an den Pfeiler, drückte den Bernsteinknopf seines langen Stockes an die Nase und hörte und hörte nicht, was man ihm erzählte, indem seine Augen die Dielenritzen zählten. Er sah nicht einmal den unbeschreiblichen Ausdruck von Angst, Seligkeit und Zweifel auf dem Gesicht der Komtesse: er sah nicht, wie ihre schönen glanzerfüllten Augen auf die Bewegung seiner Oberlippe, auf das Nicken seines Kopfes lauschten, wie ihre Hände ihm entgegenkamen, um irgend einen Druck der Versicherung zu erhalten. Es war auch kein Geliebter gewöhnlicher Art, denn die junge Dame ließ sich weder durch die Gegenwart der vorübergehenden Hausgenossen noch durch die Blicke, welche aus den gegenüberliegenden Fenstern sie treffen konnten, irre machen, – auch zählte er über fünfzig Winter hinaus – kurz es war und konnte nur sein – der Hausarzt.
»Wir dürfen also ganz auf Sie rechnen,« sagte die Gräfin.
»Ohne Sorge, Komtesse,« erwiderte er lächelnd, den Stock niederlassend.
»Aber,« fuhr sie mit verlegener Miene fort, »Geschäftsmänner sind zuweilen zerstreut. Eine Äußerung, ein Wort –«
» Silentium heißt das Kommandowort, meine Gnädigste, bei den Priestern des Merkur und Äskulap. Überdies fanden wir heute morgen auf unserem Pult ein so starkes Siegel mit den Bildnissen unseres allergnädigsten Landesherrn auf unsere ärztliche Verschwiegenheit gedrückt, daß die Zerstreutheit ein doppeltes crimen laesae beginge, dagegen zu rebellieren.«
»Die Rezepte werden Sie selbst besorgen?«
»Und selbst die Tinktur bringen, aber die Hauptarzenei ist und bleibt Ruhe – Ruhe – nichts als Ruhe – sorgen Sie dafür, daß kein Bombardement kommt, kein Einbruch von Phantasien und sonstigem Gesindel – wie dazumal. Ich bin noch immer nicht im klaren über die eigentliche Ursache des Rückfalls.«
Die Gräfin hatte ihn währenddessen hinausbegleitet. Auf den ersten Stufen der steinernen Treppe hielt er in Gedanken verloren noch einmal inne und wendete sich zur jungen Dame um.
»Ich sage Ihnen, es ist in der Natur etwas Antinormales – ein fatales brennendes Blut, was nicht in den ober- und nicht in den niedersächsischen Kreis gehört. Am Vesuv oder im Mohrenlande, da hätte er geboren werden sollen. Was waren das damals für Grillen, sich nicht peitschen lassen zu wollen auf den abgestorbenen Arm! Wenn ein Arzt peitscht, geht die Ehre nicht verloren, so wenig wie ein Kavalier ein hübsches Mädchen fordern muß, das ihm einen Nasenstüber gibt. Possen! Aber dahinter steckt mehr Verkehrtheit, Anomalien im Blut und Gehirn –«
»Sollten wir zu dem Gespräche keinen günstigeren Platz wählen,« sagte leise die Gräfin.
»Sehr richtig, mein Fräulein,« entgegnete der Arzt und legte, fester Posto fassend, den Arm über das eiserne Treppengeländer. »Sehr richtig gesprochen. Punktiliöses Ehrgefühl, Kränkungen, hochfliegende Hoffnungen und Täuschungen darauf, bekämpfte Leidenschaften, das hat sich eingefressen, ein konträres Blut produziert. Der Mensch war schon damals gewissermaßen doppelt in einem Leibe, ein gesunder und ein kranker, einer, der seinem Kommando, und einer, der seiner Ambition parierte. Ich habe mit einem preußischen Medikus, der ihn einst beobachtet, darüber disputiert und merkwürdige Dinge vernommen –«
»Wollten Sie nicht wieder in die Zimmer treten?«
»Gewiß, meine Gnädigste, um von Ihnen zu lernen. Sie sind ein Doktor, denn Sie haben ihn gerettet. Ohne Scherz. Hätte er auf einem Leiterwagen nur sechs Meilen fahren müssen, wäre der alte Teufel los gewesen.«
»Man könnte uns hören.«
»Da ist gar kein Geheimnis bei, meine Gnädigste, daß Natur und Zufall oft besser kurieren als Hippokrates selbst. Ich sage Ihnen, wie ich seine Konstitution kenne, der Mensch wäre ohne dieses Blutlassen untergegangen, rein in sich, in seinem dicken Blute ersoffen oder erstickt. Alle Elixiere, Bäder und Brunnen der Welt hätten keine solche Wirkung produziert, als der gewaltsame Aderlaß. Durch den Ritt im Fieber, durch die Anstrengung, die in der Mondsucht mitgemachte Bataille, hatte sich das alte Blut gelöst, gerade zu rechter Zeit gelöst, um auszufließen. Es ist nicht mehr zurückgeblieben als genug, damit das Herz darin schwimmen konnte, und nun war es die Sorge der Wissenschaft, frisches zu produzieren und aus dem alten Menschen einen neuen zu machen; da, mein Fräulein, haben Sie mir redlich mitgeholfen, und deshalb nenne ich Sie meine Kollegin. Nur vorm Schreiben warne ich, er darf gar nicht schreiben. Apfelsinen essen, Limonade trinken, Bukolische Gedichte lesen, Gellerts Poemata, aber nicht schreiben. Dafür mache ich Sie verantwortlich.«
Als sie antworten wollte, war der Arzt jetzt wirklich gegangen.
Sie fand, in das große Zimmer zurückkehrend, den Vater, wie von der Unruhe des Tages erschlafft auf dem Kanapee. Sein Gesicht war teilnahmlos nach der hinteren zum Alkoven führenden Tür gerichtet.
»Ich begreife dich doch nicht, Eugenie,« sagte er nach einer Pause. »Wo ist dein Stolz geblieben, der dich ehemals hinderte, auch nur das Geringste zu tun, was nur scheinen konnte, als geschehe es nicht freiwillig. Nun ist es ein Jahr her, daß du aus einer übermütig kecken Amazone eine unterwürfige Helotin geworden bist.«
»Sie wollen schon wieder dies Gespräch anfangen?«
»Es ist nur eine bescheidene Betrachtung, die ich mir erlaube: ich kann meine Tochter von sonst in der Tochter von heute nicht wiederfinden. Bist du nicht eine Sklavin geworden von jeder Miene des Doktors, von deiner Cousine; ja selbst unsere Dienstboten, die nun in das Vertrauen gezogen worden, haben jetzt ein Recht erhalten. Du mußt sie schonen; es kommt mir sogar zuweilen vor, als hätte die alte Marianne Lust dir zu befehlen. Ich sage gar nichts davon, wie du zu ihm stehst. Wenn er nur den Kopf aufhebt, so springst du auf, um, ehe er die Lippen öffnet, zu erraten was er will. Du baust ihm Kartenhäuser, damit er sie umstoßen kann; wenn er pustet, untersuchst du, ob das Feuer im Ofen nicht zu stark ist, und wenn er sich einen Zoll tief unter die Decke schiebt, ob im dritten Zimmer davon kein Zimmer offen ist.«
»Sie wissen doch, daß auf mich Spott so wenig als Ernst wirkt, wo ich einmal glaube, daß etwas meine Pflicht ist.«
»O gewiß! Meine Eugenie hat mir einen Unterricht erteilt, daß ich jetzt nichts mehr von ihr lernen kann. In der ersten Zeit wäre es mir auch nicht aufgefallen, wenn du noch mehr für ihn getan, wenn du ihn, in Ermangelung eines Fuhrwerks, allenfalls selbst auf die Schultern geladen und nach Dresden getragen hättest. Du hast mir manche Lektion über den Heroismus der Liebe gegeben. Aber daß dieser Heroismus so geduldig ist, so lange ausdauert, das erlaubst du mir doch zu bewundern. Wenn ich dich oft nächtelang sitzen sah an seinem Bette, hinter dem Schirm verborgen, wahrhaftig, du dauertest mich, wie du den Atem anhieltest, daß er es nicht erführe. Ich dachte nicht an die Gräfin, meine Tochter, welche ihres Vaters schönste Wünsche vereitelt hat, ich dachte an dich selbst, an das Ideal deiner kühnen Phantasien, an das freie, stolze Mädchen.«
»Ich habe mich, dünkt mich, in meinen Gesinnungen nicht geändert.«
»Aber wie mich dünkt, liebes Kind, gefangen. Ist er dir denn noch derselbe, der er dir in der Nacht von Hochkirch war? Ein so langes Beisammensein hat dich so manche Unart kennen gelehrt; hast du dich nicht selbst oft über seine Empfindlichkeit, über seinen Stolz beklagt? Wenn er eigensinnig deinen eigensinnigen Anordnungen nicht pünktlich Folge leisten wollte, war dir das recht? Wenn er, nun auch verwöhnt, das einmal forderte, was ihm freiwillig bis dahin geleistet worden, ließest du ihn das nicht merken?«
»Wenn ich das tat, so ist es an mir, dem armen Kranken das wieder gutzumachen. Er soll nicht durch meine Schuld gelitten haben.«
»Wie lange aber soll das dauern?«
»Sie vergaßen doch nicht unseren Vertrag von vorgestern.«
»Gewiß nicht. Ich willigte darein, ihn im Hause zu behalten, ihn zu verstecken, weil du der Meinung warst, er müsse umkommen, wenn ihn die Preußen in seinem kranken Zustande mitnähmen, und du versprachst mir dagegen –«
»Ihm zu entsagen,« fiel die Tochter mit heller Stimme ein.
»Das versprachst du mir,« fuhr der Graf fort, befriedigt durch Eugenies Ton, »das versprachst du mir, in Erwägung der großen Gefahr, welcher sich dein Vater durch diese Nachgiebigkeit aussetzte. Du bedachtest, daß ich mein Gewissen, mein Ansehen, meine Güter, vielleicht meine persönliche Sicherheit gefährdete, wenn es herauskäme, daß ich in meinem Hause einen Preußen, einen österreichischen Deserteur verberge. Darum entschiedest du dich so entschieden als klug –«
»Ich wollte ihn retten, das bedachte ich, und weil es nicht anders ging, darum, – nur darum entsagte ich dem schönsten – Doch genug.«
»Und du wirst stets eingedenk sein, was du versprochen.«
»Ich habe noch nie etwas zweimal versprochen.«
»Wenn du die Hoffnung völlig aufgegeben, so ändert sich doch deine Verpflichtung zu ihm. Ich will nicht, daß du ihn den Feinden verrätst, oder aufhörst ihn zu pflegen, aber es gibt einen Unterschied –«
»Richtig, mein Vater! Nun ist meine Neigung zu ihm geläutert und rein. Ich sorge nicht für mich, indem ich ihn pflege; nur und allein für ihn. Er ist mir jetzt heilig, wie er mir bis dahin teuer war. Habe ich ihm schon viel geopfert, so soll er von nun an alles besitzen was mein ist, so weit mein Ihnen gegebenes Wort nicht dadurch verletzt wird. Jetzt kann ich es Ihnen, ihm, aller Welt sagen, daß ich ihn über alles liebte, jetzt wollte ich den Ruf, den ich nicht achte, und das Leben, das mir wertlos ist, für ihn einsetzen, und ich habe es mir gelobt, ich will es tun, wenn ihm das Opfer von Nutzen sein kann.«
»Daß du dich jetzt so ereiferst, wird ihm nichts nützen,« sagte der Graf. »Du kannst ihn aus seinem wohltätigen Schlaf aufwecken und, was schlimmer ist, dich und uns verraten.«
»Ich habe etwas durch unseren Vertrag gewonnen, lieber Vater, was Sie mir noch nicht in Rechnung gestellt, ich habe Sie nun auf meiner Seite. Auch Sie müssen nun für meinen Schützling besorgt, Sie müssen für seine Sicherheit mittätig sein; um Ihres eigenen Selbst willen, müssen Sie alles dafür tun, das Geheimnis zu bewahren.«
»Und das freut dich, Eugenie,« sagte der Vater aufstehend und faßte ihre Hände. »Der Angstschweiß deines Vaters ist dir gleichgültig, sein Todesschreck, wenn es nachts an die Haustür klopft, seine Besorgnis, wenn er eine Patrouille um die Ecke kommen sieht; du könntest dich freuen, wenn eine Haussuchung angeordnet würde, wenn der Offizier die Tür aufstieße –«
Eine Bewegung Eugenies mit der Hand schien dem Vater anzudeuten, daß es ihr nicht gleichgültig war, oder daß sie ihn aufzuhören bitte, er aber fuhr fort:
»Und um einer verzehrenden, aussichtslosen Leidenschaft dich ganz und rücksichtslos hinzugeben, kümmert dich nicht des Vaters Angst, du siehst nicht auf seine grauen Haare, nicht auf ein Haupt, das –«
Sie drückte heftig seine Hand. – »Ich fühle es und ich habe es gefühlt, als wir gestern den Vertrag schlossen. Wenn Sie nicht so sehr viel in die Wage gelegt, wie hätte ich dagegen – alles hineintun können.«
Aus der Glastür zum Alkoven trat jetzt das Gesellschaftsfräulein, einige Gerätschaften im Arm. Leise lehnte sie die Tür wieder an. Weder ihre Blicke noch ihr Ton waren freundlich, als sie an den Sprechenden vorübergehend ihnen zuflüsterte:
»Wenn Sie nicht vergessen haben, daß hier ein Kranker ist, würde leiser sprechen nicht übel tun.«
»Befiehlt er, daß meine Tochter zu ihm kommt?« sagte der Graf, zu seinem gewohnten ruhigen Tone zurückgekehrt, als Amalie im Ab- und Zugehen wieder eingetreten war.
»Er schläft.«
»Was kann man auch besseres tun?« sagte der Graf und streichelte die Hand der Gesellschafterin, indem er ihr etwas Schmeichelhaftes sagte über die Sorgfalt, mit welcher sie sich der Wirtschaft annehme. Es fehlte den holden Worten nicht an einem verborgenen Stachel, daß es freilich natürlich sei, wenn man über die Sorge für höhere Gegenstände die trivialen der nächsten Gegenwart vergesse.
»Sie, meine Liebe,« sprach er, ihre Hand zwischen seinen beiden klopfend, »sind doch nie aus Ihrem Charakter gefallen. Sie sind heiter im Glück und Unglück; selbst Not und Gefahr haben Sie nicht sentimental gemacht und aus Ihrer Sphäre herausgeworfen. So liebe ich es. Sie haben nie den Mut verloren und nie etwas aufgegeben. Ich wollte wetten, wenn unsere Amelie ein preußischer Husar wäre, Sie könnten nicht so lange krank liegen, selbst wenn Sie es wären.«
Das Fräulein sah ihn fragend an. »Meinen Sie, daß er nicht krank ist!«
»Ich zweifle nicht daran. Aber ich meine, hätte er einen so mutigen Geist wie unsere Freundin, er fragte nicht viel nach dem kranken Körper. Gesetzt, Sie wären so patriotisch gesinnt für den preußischen König, wie wir es alle Tage von unserem Kranken hören müssen, Sie hätten ihn nicht ein Jahr lang im Stich lassen können. Es ist zwar recht brav, sich ganz kurieren lassen, um einen völlig gesunden Leib seinem Monarchen wieder zu bringen, aber wenn unterdes derselbe Monarch drauf und dran ist, mit Mann und Maus verloren zu gehen, so kommt der gesunde Mann etwas zu spät. Ich meine, ein echter Mann – wie ich mir unsere Amelie vorstelle, hätte die Natur sie in einer Kaserne geboren werden lassen – ein echt männlicher Mann hätte, auf die Nottrompete seines Königs, die Bettstelle ebenfalls auf den Rücken genommen, den Säbel umgeschnallt, die Ärzte die Treppe hinuntergeworfen, und wäre auf und davon gestürmt.«
»Er wollte es ja –« rief Eugenie, welche der Vater in seinem vertrauten Gespräch nicht zu beachten schien.
»Nicht wahr, liebe Amelie, wenn man einmal eine Phantasie hat, muß man sie auch durchsetzen –« fuhr er fort. »Da muß und darf nichts zwischen kommen. So bin ich auch gewiß, wenn Sie es wären. Sie würden sich nicht durch die Liebe in Ihrem Patriotismus stören lassen, ja Sie würden sich nie verlieben –«
»Aber doch lieben, Graf. Mich selbst zum Exempel.«
»Aber Sie könnten nicht tändeln, nicht schmachten. Sie würden nicht seufzen, nicht in Ketten liegen, oder wenn das Unglück Ihnen passierte, Sie würden sie zerbrechen. Sie wären viel zu ungeduldig Tag für Tag anzuhören, wie man es Ihnen mit Blick und Wort und Seufzer sagt: ich liebe dich. Sie profitieren nicht von der Leidenschaft Ihrer Schönen, wie ein geschickter Kaufmann, und ließen sich nicht hätscheln und pflegen wie ein zärtlicher Schäfer oder ein Sultan, der jahraus jahrein auf seinem Polster sich von seinen Schönheiten die Fliegen abwedeln läßt. Sie würden keiner Liebes krankheit nachgeben, sondern würden Ihre Liebes kraft zeigen. Kurz, Sie wären der Herr Ihrer Geliebten und nicht ihre Spielpuppe – nämlich wenn Sie ein Mann wären, wie ich mir einen Mann denke, einer, in den es sich für eine schöne Dame lohnt und schickt mit Herz und Seele verliebt zu sein.«
Das Fräulein hatte den Kopf geschüttelt. »Ach, Graf, solche Männer sind äußerst selten, und bis einmal ein Zauberer eine von unserem Geschlecht in einen Mann verwandelt, bloß des Exempels halber für Ihres, müssen wir schon mit ihnen vorlieb nehmen, so roh und schwach und ungeschickt, als sie aus der Natur kommen. Da sie alle unvollkommen sind, und man nur die Wahl hat nach den mindesten Mängeln, so sind mir immer die noch am liebsten, welche sich uns gefällig zur Spielpuppe überlassen, weit lieber als die deutschen Degenknöpfe oder die Feinen und Klugen, die da vermeinen, weil sie auf der Schule in schweinsledernen Büchern lesen mußten, etwas länger gelebt als wir und mehr Schlechtigkeit kennen gelernt, uns am Gängelbande führen zu können. Solche Superfeine, Herr Graf, meine ich, die ihr ganzes Leben durch Spinneweben machen und nichts fangen als ihre eigene Klugheit: denn da man sie kennt, geht man ihnen aus dem Wege. Wenn aber doch einmal so ein armes Eintagsleben sich in ihre Gespinste verirrte und hängen blieb, glauben Sie, daß ich darum die geringste Achtung für die Voraussicht der Spinne hege? – Weit gefehlt. Ich beklage die arme Motte, wie sie mit den Flügeln zappelt, zuweilen erbarme ich mich auch und nehme sie raus, manchmal lasse ich sie aber auch drin, aus purem Ärger, daß ein Insekt, das Flügel hatte, doch nicht mehr Vernunft hatte und sich überrumpeln ließ von solcher häßlichen, alten, giftigen Kreuzspinne.«
Der Graf wurde, wenn er sonst dazu Neigung gefühlt, am Antworten durch den Jäger verhindert, welcher ihm ein Paket Briefe einhändigte. Adresse und Wappen des obenaufliegenden fesselten sogleich dergestalt seine Aufmerksamkeit, daß er den Wortwechsel mit dem Fräulein, welchen er nie anders als im Notfall und wohl vorbereitet, suchte, im Augenblicke vergaß und mit dem Ausruf »Endlich!« das Siegel erbrach. Der Blick auf Eugenien, mit welchem Amelie das Zimmer verließ, konnte auch als ein Siegel unter einer bündigen Urkunde gelten, darüber ausgestellt, daß sie mit ihrer Freundin höchst unzufrieden war. Der Graf hatte gelesen und die Falten seiner Stirn legten sich allmählich um; etwas von Freude machte sich auf seinem Auge, das sonst jeden bestimmten Ausdruck vermied, bemerklich: er las und überlas den Brief, legte ihn zusammen und sein inneres Wohlgefallen machte sich nun auch in der halblauten Äußerung Luft: »Er kommt.«
»Wer?« fragte Eugenie, die eben so wenig an dem Ausruf teilnehmen mochte, als er die Bestimmung hatte, von ihr gehört zu werden. Beide waren vollkommen mit sich beschäftigt.
»Wer, mein Kind! Doch wir sind ja in Sicherheit – hier ist sein Name nicht gefährlich – ein alter Freund, den ich fast aufgegeben, weil er so lange geschwiegen. Er kommt nach Dresden.«
Eugenie fragte nicht, wer der Freund sei. Die einmal angeregte Teilnahme hatte aber des Vaters Mitteilungslust geweckt. Es stieg und wuchs schnell in der Seele des Staatsmannes ein neues Traumgebäude von Entwürfen auf, und er war so sehr Diplomat, um auch eine Hoffnung, und noch dazu eine junge Hoffnung, so in sich verschließen zu können.
»Du frägst mich nicht, wer dieser Freund ist?«
»Ich kenne nicht Ihre Freunde.«
»Diesen solltest du doch kennen. Der Marquis kommt.«
»Der Preußenfeind!«
Zu lange hatte der Graf unter seinen neuen Verbindungen gelebt, um nicht zu erschrecken, als die Tochter das sehr undiplomatische Wort mit entschiedener Kürze und ohne Rücksicht aussprach. Er blickte sich unwillkürlich um, ob niemand außer ihm es gehört.
»Vorsichtig, Eugenie!«
»Sie werden sich doch vor dem Kranken nicht fürchten.«
»Fürchten! Wir haben uns überhaupt nicht zu fürchten, vor niemand zu fürchten. Die Dinge haben einen so ganz verschiedenen Gang genommen, daß die Kombinationen wieder in ihre natürlichen Verhältnisse zurücktreten.«
»Sachsen wird nicht preußisch!«
»Wer redet davon, mein Kind, seit dem Überfall von Hochkirch, – wer wagt nur daran zu denken, seit Dresden gestern wieder seinem rechtmäßigen Herrn zufiel. Friedrich liegt schwer an der Gicht danieder, schreibt mir der Marquis.«
»So fängt das alte Ränkespiel von neuem an?«
»Erinnere dich, Eugenie, der freundschaftlichen Verbindung zwischen mir und dem Marquis, wenn er kommt. Ich durfte, und du nicht minder, ihn einen wahren Freund nennen, trotz aller Grillen des wunderlichen Mannes. Du weißt, daß unsere Familien, als wir noch in der Lombardei ansässig, verwandt waren.«
»Sie beabsichtigen doch keine neue Verbindung.«
»Als Kind warst du dem Marquis sehr gewogen. Du ließest dich von niemand lieber auf den Knien schaukeln.«
»Soll ich ihn denn heiraten! – Sie hatten mich ja für den Baron Izwitz bestimmt.«
»Wie man in solchen Augenblicken noch scherzen kann! Der junge Mann, dessen Neigung zu dir ich damals aus Rücksichten der Gastfreundschaft und Politik nicht offen entgegen sein durfte, haut sich jetzt, wenn er noch lebt, mit den Kosaken in Pommern herum, und der König, sein Gönner, liegt an der Gicht in Glogau schwer danieder. Ich habe mich nie meines Vaterrechts über meine Tochter bedient, ich habe dich nie zu einer Verbindung zwingen wollen. Dies Zeugnis kannst du mir nicht versagen, und ich werde und will nicht von diesem Grundsatz abweichen.«
»So wollen wir, lieber Vater, Österreicher und Preußen vergessen und unsere Sorge auf das beschränken, was uns das Nächste ist.«
»Ich habe diese Preußen kennen gelernt,« fuhr er fort, es war aber zweifelhaft, ob alles Folgende für die Tochter bestimmt war, oder ob er es zur eigenen Überredung bedurfte. »Ich habe sie kennen gelernt, und gestehe, daß ihre Begeisterung, die Ausdauer, die Taten ihres Königs etwas Blendendes haben. Wurde ich selbst davon für den Augenblick bestochen, so war dies die Macht des Unerwarteten, ich hatte sie mir schlimmer gedacht. Im näheren Umgang lernt man Vorzüge kennen, welche das Gerücht abspricht, allein auf der anderen Seite findet man auch da Mängel, wo in der Ferne lauter Glanz und Strahl war. Sie sind tapfer, gewiß – halten Manneszucht – mit Ausnahmen – brüskes militärisches Wesen läßt sich bei Siegern verzeihen. – Aber war dies zu billigen, nur zu entschuldigen, daß Friedrich unsere braven Landeskinder bei Pirna in die preußische Montur knöpfte und sie zwang, gegen die Verbündeten ihres Kurfürsten, ja gegen ihre eigenen Landsleute, gegen Brüder, Väter, Söhne zu fechten.«
»Das war ja damals schon eine alte Sache.«
»Ein Unrecht verjährt nie. Die Behandlung der Mecklenburger, die Brandschatzungen in ihrem Ländchen, im Reich, in Franken sind eben so viel Verletzungen gegen das Völkerrecht. Ist denn der König von Preußen gerecht? Gegen wen ist er es? Nicht einmal gegen seine eigenen treuesten Diener. Ein beständiger Argwohn umdüstert wie ein Nebelschleier den Glanz seines Ruhmes. Er ist undankbar, weil er sich fürchtet, durch Dank von seiner Höhe zu denen unter ihm hinabzusteigen. Er hat keine Vertrauten, weil er sich nur allein vertraut, Bewunderer aber keine Freunde. Frage einen unter seinen Generalen; ihr Leben wollen Tausende für ihn einsetzen, aber nicht einer möchte mit seiner traurigen, isolierten Größe tauschen. Mit vollen Backen haben seine Publizisten geschrien von der ihm widerfahrenen Ungerechtigkeit, von den Ränken, die gegen ihn gesponnen werden, als ob seine nicht viel gefährlicher werden! Er lebt, er agiert, ist vertreten in den Kabinetten von Petersburg bis Neapel. Den russischen Kanzler, ja den russischen Thronfolger hat er für sich gewonnen, der Hof von Versailles wimmelt von seinen Anhängern, selbst mit Maria Theresias Gatten schließt er heimliche Lieferungs-Verträge, den Tatarchan reizt er gegen Rußland, die Pforte gegen Österreich auf. Sein Geld miniert gegen uns wie sein erfindungsreicher Geist, und es ist geraten, es ist Pflicht, es ist unerläßliche Pflicht, ihm mit denselben Waffen zu begegnen.«
Eugenie hatte, mit anderen Gedanken beschäftigt, wenig auf das Räsonnement gehört. Es mochte daher keine spöttische Entgegnung, sondern der Schluß ihrer eigenen Gedankenkette sein, als sie ausrief: »Ja, er ist im Unglück!«
»Aber er hat Geld,« sagte der Graf, »wer Geld hat, ist gefährlich. Der ungarische Offizier gestern antwortete uns sehr naiv: Qui pecuniam habet, habet omnia. Den Frieden zu suchen ist die Pflicht jedes Patrioten, der sein Vaterland bluten sieht. Ich bekenne dir, ich hoffte eine Zeitlang, Friedrich sei der Geist, der Sachsens Wunden heilen, ihm den Frieden schenken, seinen alten Ruhm, seine alte Blüte wiedergeben könnte. Friedrich hat unsere Hoffnung getäuscht, und wir dürfen über die Mittel den Zweck nicht aus dem Auge lassen. Er kann uns den Frieden nicht verschaffen, sein Starrsinn droht den unglückseligen Kriegszustand ins Unendliche zu verlängern, also ist es Pflicht der Patrioten, ihre Hoffnung, die einen kurzen Augenblick auf seinem Triumph ruhte, jetzt auf seinen Untergang zu richten. Je eher, um desto besser. Die Mine, die er uns gräbt, untergraben. Eine einzige Explosion, und wir alle wären gerettet.«
»Und was würde dann aus uns Großes?«
»Ist auch dein Patriotismus krank geworden? Dann möchte ich freilich glauben, daß dir der Leutnant einen Trank eingab.«
»Lassen Sie uns davon abbrechen. Sie erwarten den Marquis bald?«
»Nein, mein Kind, du bist mir mehr wert als der Marquis. Liebst du nicht mehr dein Vaterland, glühst du nicht mehr für seine Freiheit und Blüte? Ist es dir gleichgültig, ob man uns ehrt oder verspottet, ob Sachsen selbständig bleibt, ob es zerstückelt dem und jenem zugeworfen wird? Empört sich nicht mehr dein reiner Sinn, wenn er himmelschreiendes Unrecht hört, dünkt es dir lächerlich, wenn ein Mann für sein Vaterland sterben will, dann, liebe Eugenie, möchte ich dir je eher je lieber dein Wort zurückgeben und dich mit dem kranken Menschen noch in seinem Bette kopulieren lassen. Dann zieht miteinander in irgend einen Winkel der Welt, wo ihr nichts von Krieg und Frieden hört. Mir vergib, daß ich mich zu lange hartnäckig deinen Wünschen widersetzte, weil sie mir töricht, deiner unwürdig schienen, denn ich dachte mir immer meine Eugenie, wie deine sterbende Mutter sie mir übergab. ›Pflege und ehre sie, denn es ist ein außerordentliches Kind‹, sprach sie, und so habe ich dich gepflegt und geehrt, so deinem kühnen, oft kecken Geiste keine engen Zügel der Erziehung angelegt, habe darum manche Zurechtweisung, manchen Spott ertragen. Ich verschmerzte den Kummer, als du mir meine liebsten Pläne eigensinnig verdarbst, denn ich hatte die hohe Genugtuung, daß du ein Wesen wurdest, über dein Geschlecht hinaus, daß du nicht für Putz, Tanz und Vergnügen lebtest, sondern für große männliche Ideen. O, es war ein stolzes Gefühl, als die Liebe für ihr Vaterland wie ein leuchtender Morgenstern aus den Augen meiner Eugenie strahlte, als ihre Begeisterung uns Männer, unsere Besonnenheit, unsere ernsten Erwägungen beschämte. Da gelobte ich mir, dir ganz freien Willen zu lassen, da war ich überzeugt, daß dein hoher Sinn dich immer zum Rechten führen würde, da wußte ich und war stolz darauf, daß du nur würdig wählen könntest, und meine zu kühne Phantasie sah dich schon als die strahlende Gattin eines fürstlichen Helden, der sein Vaterland gerächt hätte. Vergib mir –«
Er hielt inne, wie von Rührung übermannt. Es dünkte auch Eugenie, als stände eine Träne in seinem Auge, als er, einen Kuß auf ihre Stirn drückend, schnell das Zimmer verließ. Sie wollte ihn zurückrufen – sie fühlte ein Bedürfnis, das sie nie gekannt. Sie wollte sich vor dem Vater rechtfertigen. Aber er war schon aus dem Vorzimmer fort. Ebenso schnell als diese Regung gekommen, färbte ein entgegengesetztes Gefühl ihr Gesicht purpurrot. Sie wollte ihm nicht nachgehen und drückte die Tür wieder zu, aber nicht mit der Sorgfältigkeit, welche sie vorhin den Dienern anempfahl.
Der Ton hallte noch nach, als Eugenie, in tausend Gedanken versunken, wieder mitten in der einsamen Stube allein dastand. Ja mehrere Minuten mußten für sie wie eine Sekunde verstrichen sein; denn plötzlich, als klinge ihr jetzt erst das Zuschlagen der Flügeltür beleidigend ins Ohr, ging sie noch einmal zurück und öffnete sie, um sie leiser, wie sie gewohnt war, zuzudrücken. Selbst das Komische in dieser Handlung mußte sich ihrem schnell fassenden Geiste nicht aufdrängen, denn kein Lächeln schwebte auf ihren Lippen, als sie zurücktrat und schon drei Schritt davon blieb sie so gedankenvoll stehen, als hätte sie vergessen, wo sie hingehen wollte. Keine Pläne in die Zukunft standen über ihren schönen Augenbrauen, die Wimpern waren halb niedergelassen und der gesenkte Blick sagte, daß diesmal ihre Gedanken in die weite Vergangenheit zurückschweiften.
Plötzlich stand sie am Eingange des Alkovens und öffnete die Glastür. Der Kranke lag mit dem Gesicht dem Lichte zugekehrt, gerade in der Stellung, wie sie ihn vorhin verlassen. Er schlief, wie er vorhin geschlafen. Flaschen, Tassen, Bandagen standen und lagen umher; kein freundlich reinliches Bild, da man noch nicht Zeit gehabt, die vorige Ordnung wieder einzuführen. »Wie man so lange ruhig liegen kann!« murmelte sie vor sich hin. »Er fühlte sich doch schon gestern viel stärker!« Die Abendsonne, hell durch die großen Fenster scheinend, drang jetzt bis in das tiefe Kabinett. Ihr rotes Licht überstrahlte das Gesicht des Schlummernden und lieh ihm den Anschein strotzender Gesundheit. Auch sein Atem war regelmäßig. Die Finger der auf dem Bette liegenden Hand bewegten sich wie in einer Art regelmäßigem Spiele. »Wachen Sie, Etienne?« flüsterte die Gräfin. Keine Antwort. Eine große Fliege kroch auf seine Stirn. Augenscheinlich war es für den Schlummernden ein lästiger Besuch. Der Körper schüttelte, der Mund verzog sich, die Fliege wollte aber nicht fort. Jetzt hob er den Arm und schlug in ungewissen Bewegungen nach dem Insekt, aber die Hand traf es nicht, und die verscheuchte Fliege kam immer wieder. Endlich, wie vor Unwillen und Schmerz aus der innersten Brust aufseufzend und die Lippen zusammenziehend, fuhr er mit dem Kopf unter das Deckbett.
Eugenie verließ ihren Lauscherposten. »Und das ist der starke Mensch!« rief sie, in einem Sofa übergelehnt und drückte ihre Stirn an ein Kissen, um etwas, das ihr ins Auge trat, vor allen und sich auch, zu verbergen. In dem Augenblick ging die Seitentür auf und Amelie fragte hastig hinein:
»Eugenie, was gibt es hier?«
Ihr erster Blick fiel auf die offene Glastür. »Unselige!« rief sie, flog durch das Zimmer und drückte die Alkoventür ungestüm zu.
»Was hast du vor?« wollte die Aufspringende fragen, als auch schon der Graf Amelie folgte.
»Unbesonnene!«
»Es ist alles verloren, wenn die Sippschaft bei der Klinkauf ist,« sagte das Fräulein, sich die Stirn reibend.
»Er muß fort, augenblicklich fort,« sprach der Graf; »das ist nun zu spät,« die Gesellschafterin.
Entdeckt! sagte Eugenies ängstlicher Blick. Amelie zog statt der Antwort die Gräfin hinter die Fenstergardine und zeigte mit dem Finger nach dem gegenüberstehenden Hause. Aus einem Fenster der dritten Etage, welche aber nur um etwas höher als die zweite im gräflichen Hotel war, steckte die Spitze eines Fernrohrs, dessen schwebende Bewegung doch immer nach dem Zimmer, in welchem sich die Familie befand, gerichtet blieb. Man konnte nicht sehen, wer der Beobachter war, denn das Glas blitzte aus der in der Mitte zugesteckten Gardine hervor, aber die Bewegungen hinter derselben und die Köpfe, die zuweilen zum Vorschein kamen, verrieten genugsam, daß die Bewohnerin des Quartiers nicht allein war.
»Eugenie, wie konntest du das tun!« rief der Graf, der sich in einen Armsessel geworfen, und suchte in einem müßigen Spiel der Finger den Trost, der ihn so plötzlich verlassen.
»Keine Explikationen!« sagte Amelie, den Blick unverwandt nach drüben gerichtet. – »Das war die Steuerrätin – sie lachte –«
»So haben sie ihn erkannt!« stöhnte der Graf.
»Es muß etwas geschehen, ehe eine von ihnen aus dem Hause geht,« sprach rasch das Fräulein.
Der Graf sprang auf: »Ich eile auf die Kommandantur. Ehe uns jemand zuvorkommt, berichte ich selbst dem österreichischen General. In gewissen Fällen ist eine edle Offenheit immer das sicherste.«
»Nicht von der Stelle!« rief Eugenie, die bis dahin geschwiegen, und trat dem Vater, seinen Arm fassend, entgegen. Sie dünkte ihm größer, ihre Augen strahlender, als er sie je gesehen.
»Mutig, Komtesse!« rief ihr Amelie zu, welche sich zum Fortgehen anschickte. »Ich stehe Ihnen bei.«
»Man wird doch nicht in meinem eigenen Hause –« fragte der Graf mit aller Energie der Stimme, deren er bei seiner ganz unenergischen Stimmung Herr werden konnte, und seine Blicke suchten zornig Amelie, die, gar nicht um ihn bekümmert, ihre Toilettenstücke zusammensuchte. »Man wird doch nicht in meinem eigenen Hause –«
»Sie einschließen,« entgegnete sie. »Und ich nehme den Schlüssel mit, wenn Sie nicht versprechen, ruhig zu bleiben.«
»Keine Unbesonnenheiten, Fräulein! – Ich befehle – ich bitte Sie dringend. Was wollen Sie tun?«
»Hinübergehen zur Klinkauf.«
»Wozu das?«
»Zum Horchen. Und Ihnen Zeit zu gewinnen. Nutzen Sie sie gut.«
»Glauben Sie die ganze Gesellschaft zum Schweigen zu bringen?«
»Das ist unmöglich. Kompromittieren Sie nicht mein Haus. Über welche Mittel kommandieren Sie? Was nehmen Sie mit?«
»Gift für ihre Kaffeetassen. Sie sollen alle sterben, ehe sie plaudern.«
Das Fräulein war in die Saloppe gefahren und zur Tür hinaus ohne Abschied. Der Graf wollte ihr nach, aber als er die Flurtür erreichte, hörte er schon die Hackenabsätze ihrer Schuhe auf den untersten Stufen der Treppe. Vom Kabinettfenster sah er sie über die Straße eilen und in der Haustür drüben verschwinden.
Im Zimmer trat ihm Eugenie entgegen und reichte ihm mit feierlicher Ruhe die Hand. Ihr Gesichtsausdruck und der Ton ihrer Stimme war milder geworden.
»Mein Vater!« sagte sie, »ich vergaß mich vorhin. Vergeben Sie mir. Jetzt gebe ich Ihnen dafür aus reiner Brust das Versprechen und fordere nichts wieder: Sie sollen nicht mehr Ihr Haupt mit Sorgen niederlegen und mit Kummer erwachen, denn Ihre Tochter hat dem heißesten Wunsche ihres Herzens auf immer entsagt. Ich habe mich von jenem Manne getrennt, jetzt freiwillig getrennt. Sie haben nicht zu besorgen, daß die unterdrückte Neigung wiederkommt. Nur seine vollständige Genesung lassen Sie uns abwarten, dann scheiden wir, freundlich hoffe ich, und auf immer. Mir überlassen Sie es, ihm zu beweisen, daß uns das Schicksal nicht füreinander bestimmte.«
»Das sind Nebensachen jetzt,« sagte der Vater mit unruhigem Blick am Fenster.
»Ihre Sorgen sind schon verschwunden.«
»Weil andere uns an Hemd und Kragen gehen. Wenn er tot ist und wir – Gott weiß, was uns – bevorsteht.«
»Sie wissen – Sie meinen, man würde ihn als Deserteur –«
»Ich will nichts wissen, ich wünschte, ich hätte nie etwas gewußt. Deine Unbesonnenheit, dein Eigensinn reißt uns ins Unglück. – Freilich betrachtet man ihn als Deserteur. Ist er es etwa nicht? –«
»Es wäre entsetzlich!«
»Warum kommst du erst jetzt zur Besinnung – ich habe es doch an Warnungen nicht fehlen lassen! Es ist ein elender Mensch, der es ruhig ansehen kann, daß eine edle Familie sich für ihn aufopfert. An der Stirn, dünkt mich, steht es ihm klar geschrieben, und du bist doch sonst so klug. Hast du es denn nicht gleich gefühlt, welch ein Unglück er uns ins Haus bringen mußte. Du hast ihn nicht geliebt, nie geliebt; um einer Einbildung halber –«
»Und hätte ich ihn auch nie geliebt, doch ich will ihn retten, und wenn es mein Leben kostete, desto besser.«
»Still!«
Ein Postzug von sechsen und die blasenden Postillone hielten vor dem gräflichen Hotel. Das Wappen des Reisewagens war von Regen und Staub bedeckt, aber die Livree der abspringenden Diener und das Gesicht des kleinen ältlichen Mannes, den sie herausheben wollten, der aber über die Schultern wegsprang, heraufnickend, bestärkte die Vermutung des Grafen zur Gewißheit.
»Er ist es!« rief er.
»Wer?«
»Der Marquis.«
»Ein Plan, mein Vater –«
»Mir gehen sie aus –«
»Er ist Ihr Freund, – von Ansehen bei den Österreichern, – ihm vertrauen wir uns an. – Es wird dunkel – in seinem großen Reisewagen schaffen wir den Kranken noch diese Nacht aus der Stadt.«
»Törin! Du weißt, daß ihm der Name Preuße schon zuwider ist. Wir sind verloren, wenn er nur ahnt, wen wir verbergen. Mit seinem Scharfblick bei seiner Quecksilbernatur kommt er allen Verhältnissen auf die Spur. Er darf nicht im Hause bleiben. Schnell ihm entgegen, ehe er uns hier findet.«
Aber sie kamen zu spät; denn eben hatte der Jäger die Flügeltüren aufgerissen und ein kleiner Mann in einem weiten Reisemantel, der seiner untersetzten Gestalt eine unförmige Ausdehnung gab, hüpfte über die Schwelle und auf den Grafen los.
»Sie erhielten doch meinen Brief?« fragte eine feine, aber gellend scharfe Stimme.
»Eben jetzt, teuerster Marquis. Sie überraschen mich.«
»Ist das Ihr Kind?« fragte er, auf Eugenie zuschreitend, indem er kaum den Grafen ausreden ließ.
»Meine Tochter Eugenie. Die Kinderschuhe sind nun wohl ausgetreten.«
»Es ist wahr, Komtesse, das werden zehn Jahre her sein, daß ich Sie nicht gesehen, es war in Maria-Schein bei Teplitz, Sie reisten nach Karlsbad.«
Bis hier, obgleich schon in der Mitte des Zimmers, war der kleine Mann in seinem staubigen Mantel geblieben. Nachdem er einige Sekunden wohlgefällig die Gräfin betrachtet, warf er ihn ab und stand in einem reich mit Gold bordierten, wiewohl schon etwas aus der Mode gekommenen Scharlachüberrock graziös vor der Dame. Er neigte sich nach alter Hofsitte, ergriff ihre Hand und drückte sie mit einem galanten Gemeinplatz an die Lippen. Dann, als entsinne er sich jetzt erst, daß auch der Vater der so begrüßten Dame im Zimmer war, fuhr er auf ihn los und schloß ihn mit minder graziöser Heftigkeit in die Arme.
»Wir haben uns lange nicht gesehen, schade, schade! Es ist viel seitdem vorgefallen. – Eine böse Zeit, tumultuös, äußerst tumultuös. Apropros, wie alt ist die Komtesse?«
Eugenie, leicht errötend, wollte statt des etwas durch die Frage betroffenen Vaters antworten. Der Marquis war aber längst in seinem Gedankenschluß über die Frage hinaus und, dem Grafen die Hand drückend, sagte er mit einer Bewegung, die unter anderen Umständen und von jedem anderen beleidigt hätte: »Was meinen Sie, Komte, zu dem Paar, mein Sohn und die Komtesse?« Dabei nickte er mit dem Kopfe vertraulich Eugenie zu.
»Sie lassen Ihren Herrn Sohn im Auslande erziehen, wie Sie einst erwähnten,« entgegnete der Graf, den Blick zu Boden, als wolle auch er von dieser Frage nichts gehört haben.
»Erziehung macht den Menschen! Unerbittliche Strenge, keine Vorurteile, Selbsterziehung, völlige Freiheit, das sind meine Prinzipien, das ist die klassische Bildung zum Manne. Des Kaisers Sohn sollte vom Bauer pflügen lernen, der künftige Priester beim Soldaten in die Lehre gehen, des Helden Sohn seine ersten Studien wie Achilles in der Nähschule machen; Kontraste bilden, die Natur arbeitet sich durch.«
»Sie werden müde sein, teuerster Freund. Eine so weite Reise in Ihrem Alter greift an.«
»Nicht mein Alter, aber Ihre Steindämme. War das eine Fahrstraße oder das Bette eines Winterstroms von Chemnitz her, ein Weg von Baumeistern oder vom Kriege gemacht!« Er vertiefte sich in eine heftige Erörterung über die Schlechtigkeit der Wege in Sachsen, ganz Deutschland, Frankreich, und ging in ein Lob der alten Römerstraße über, ehe er den Platz im Lehnstuhl eingenommen, auf den ihn der Wirt drängte.
»Es ist ein erfreulicher Anblick, einen Mann in Ihren Jahren noch so munter und rüstig zu sehen,« sagte der Graf.
»Ein Feigling, wer sich von den Jahren übermannen läßt!« rief der Marquis wieder aufspringend und nahm, um seine Kraft zu beweisen, halb eine Fechter-, halb eine Tänzerpositur ein. Dann zog er die Perücke ab und zauste sich an den paar ihm gebliebenen grauen Haaren. »Ist das Schwäche, mein Freund? – Ist das Mut, frage ich, sich dahin zu stellen, wo uns eine Kanonenkugel treffen kann? Das kann auch ein Weib, ein Milchbart und ein Pestkranker. – Ist das Mut, einem anderen den Degen in den Leib zu rennen? Mit nichten. Wer, wenn der Donner ihn niederwirft, wieder aufsteht. Wer, dreimal zur Tür hinausgeworfen, zum viertenmal wieder eintritt, es mit den Größten aufnimmt, mit Kaisern und Königen, mit Vorurteilen und – mit den Jahren.«
Er ging mit Schritten im Zimmer umher, welche an den Triumphschritt eines Siegers erinnern konnten oder sollten. Plötzlich hielt er inne:
»Liegt ein Kranker im Alkoven?« Seinen scharfen Augen waren Eugenies Befangenheit und die ängstlichen Blicke, zwischen dem Vater und der Glastür gewechselt, nicht entgangen.
»Ein – sehr weitläufiger Verwandter des Hauses. Die Sache hat keine Bedeutung, lieber Marquis, aber treten wir lieber, um ganz ungestört zu sein, in ein anderes Zimmer.
»Er ist verwundet.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Am Ofen ist ein Verband liegen geblieben.«
»Vom Aderlaß vorgestern –« rief Eugenie dazwischen.
»Das ist keine Aderlaßbinde. Das paßt auf eine Hiebwunde. Lassen Sie mich ihn sehen, ich lernte die Wundarzenei.«
»Um des Himmels willen!« brach es aus Eugenies Mund, und der Vater sprang der Tochter bei, mit höflicher Gewalt, wenn es sein mußte, den Marquis zurückzuhalten. Aber während sie ihm die Arme vorhielten, war er schon untergeduckt und ihnen voran an der Tür. Die Gräfin schien auf einen äußersten Entschluß gefaßt, der Graf aber flüsterte ihr zu: »Er kennt ihn ja nicht.«
»Kann er noch gerettet werden, bin ich der Mann,« sagte der Marquis, indem er das Schloß aufdrückte. Ehe wir mit ihm und der besorgten Familie in den Alkoven treten, müssen wir jedoch dem Fräulein in die Wohnung der wißbegierigen Nachbarin folgen.