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Sechstes Kapitel.
Der Kirchhof

Ein Kastellan oder Verwalter des Schlosses trat am Morgen zu dem Gefangenen ins Zimmer und richtete an ihn die ihm seltsam dünkende Frage: was denn aus ihm werden sollte?

»Ich bin ein Gefangener,« entgegnete Stephan.

»Ja, von wem denn?«

»Der Russen.«

»Die sind abgezogen. Ihretwegen kann der Herr frei passieren, wohin es ihm beliebt, und mir hat man keine Verhaltungsbefehle gelassen, wie denn überhaupt da nicht mehr viel zu befehlen ist, wo nichts geblieben ist.«

»Abgezogen!« rief Stephan auffahrend. »So ist Berlin gerettet!«

Der Verwalter zuckte die Achseln.

»Gestürmt! Sag Er?«

Mit derselben Bewegung und kleinlautem Ton sagte der Verwalter: »Es kam nicht dazu, was für die Stadt eine Wohltat ist.«

»Haben Hülsen, der Württemberger kapituliert?«

»Nein, wie ich vernehmen konnte aus der buntscheckigen Konversation, und was sonst von denen aus Stralow und Treptow zu uns herüberkam, so haben sie sich in den Schanzen verteufelt geschlagen. Aber dieweil ihrer doch zu wenig waren, um eine offene Schlacht zu riskieren, und man die schöne Residenz keinem Bombardement oder gar einem Sturm aussetzen wollte, so haben sie sich mit Kanonen und Bagage nach Spandau salviert, und die Stadt hat dann kapituliert.«

Stephan schlug mit geballter Faust gegen die Stirn.

»Ja, das hat sich wohl, lieber Herr. Wenn die Generale drinnen nur ein bißchen Wind gehabt, daß Seine Majestät, unser allergnädigster König im Anzuge sind, so wär's auch anders gekommen. Und ich müßte mich sehr irren, wenn der Fritz nicht schon im Sattel sitzt, denn was ich so abkriegte von den Redensarten der fremden Herrschaften, da munkelte es stark von.«

Der Kastellan wußte nicht, was es zu bedeuten, als Stephan in stummem Schmerze sich auf die Matratze niederwarf, den Kopf im Kissen verbergend. Doch hielt er sich für befugt, ihn beim Abschied zu warnen, daß er den Weg nach Berlin vermiede, denn wenn er sich nicht sehr irre, sagte er kopfschüttelnd, blühe jemandem, wie ihm, dort kein Weizen. »Wenigstens,« flüsterte er noch am Tore ihm ins Ohr, »schneiden Sie den Bart besser ab, und setzen eine Perücke auf, denn der Preuße läßt sich nicht so leicht verstecken. Gott erhalte den König!«

Stephan mochte ihn auch nicht verstecken. Gewissermaßen stolz auf diesen gefährlichen Gruß, schlug er die Berliner Straße ein. Der Gedanke, ein Märtyrer zu werden, war ihm nicht peinlich; führte es ihn ins Verderben, so dünkte es ihn, er könne damit seine Schuld büßen. Die Straße war geräuschvoll, mehr von Landleuten, die nach einer lange gesperrten Zufuhr zu Markt und zur Lieferung fuhren, als von Soldaten. Doch wurde sie hie und da von nachziehenden Kanonen und Bagagewagen gestopft, und Nachzügler von Russen und Kroaten drängten sich mit allem Übermut des Siegers durch die Landleute. Wo ihr erschreckender Anblick und die Pferde, die sie mit Lust in das dickste Gewühl trieben, nicht sogleich Platz machten, knallten ihre Peitschen. Wer es wagte, sich zu beklagen, hatte wohl noch schlimmere Behandlung zu dulden, und bei den rohen Gemütern sprach sich jauchzend die Lust aus, in der Stadt noch ganz anders an den Besiegten ihr Mütchen zu kühlen. Die Hast nach Beute, guten Quartieren und den Lüsten der Hauptstadt trieb die Marodeure zur Eile an, welche ein Schutz für so manche auf dem Wege dahin wurde, deren Person und Gut bei einer geringeren Aussicht als die Genüsse einer Residenz, der Habgier und dem Ungestüm lockend genug erschienen wären.

Auch Familien vom Lande, welche in einer eroberten Stadt wenigstens Sicherheit vor ordnungsloser Willkür suchten, zogen in ihren schwerfälligen Kaleschen des Weges. Hier ritt ein Geistlicher, mit Gepäck behangen, und nicht verschont vom Spott der österreichischen Soldaten; dort ein Beamter, immer in Angst, daß man ihm ansehen werde, was er nur diesmal nicht scheinen wollte. Die Flüchtlinge, die zur Lieferung kommandierten und die freiwilligen Marktleute hatten sich Unglück über Unglück, Greuel über Greuel mitzuteilen, und die Nachrichten, welche dann und wann durch einen aus der Stadt rückkehrenden Bauer von daher kamen, gaben Stoff genug zu gemeinsamer Unterhaltung der Unglücksgefährten, und nährten wenig die Lust, schnell in Berlin anzukommen. So zögerte es hin, indem die Menge bei jedem Schritte durch physische und moralische Hindernisse aufgehalten wurde. Das Unglück hatte den Patriotismus nicht ganz erstickt. Die Hoffnungen von wenigen flogen freilich so kühn: ihren König mit dem Rächerschwerte herbeizurufen; allein bei den Einzeltaten der tapferen Verteidiger Berlins verweilte man gern.

Es fehlte nicht an Augenzeugen, welche von den Anstrengungen der Bürgerschaft, der Bravour der Garnison erzählten. Stephans Augen blitzten, als er von dem verwundeten Helden Seydlitz, von dem achtzigjährigen Feldmarschall Lehwald hörte, wie sie, um den Mut der Garnison anzufeuern, sie, berühmte Feldherren, das Kommando in kleinen Schanzen übernommen hatten. Die Zünfte hatten sich erboten, wie zu Haddicks Zeiten, mit Wehr und Waffen vor die Tore zu ziehen, um an der Seite der braven Linientruppen mitzustreiten für Weib und Kind, für den vaterländischen Herd, für den großen König. Einige Bürgersöhne hatten wirklich mitgefochten, doch lehnte man die allgemeine Bewaffnung ab, als zu gefährlich der schönen, reichen Stadt für den Fall, wenn das Feld doch nicht behauptet werden konnte. Aber nichts war dem Eifer der Bürger gleichgekommen, mit dem sie die Soldaten unterstützten. Als Hülsens Korps in forcierten Märschen aus Sachsen herangeflogen kam – man hatte durch den märkischen Sand neun Meilen in einem Tage gemacht! – und die Soldaten erschöpft, in Staub gebadet, wund, auf dem Straßenpflaster niedersanken, öffneten sich die Keller, die Speicher, die Vorratskammern, das beste, lang Gehegte, hundertjähriger Wein, Leckerbissen, das Scherflein der Dürftigen, alles wurde auf die Straßen geschafft. Man zündete Feuer an, kochte, briet, schlug die Fässer auf, streute Heu, Stroh, Matratzen, man wusch mit Branntwein die wunden Füße, die erlahmten Glieder, tröpfelte Stärkung in die Lippen dem Verschmachtenden, und die maroden Krieger erholten sich in den Armen der Bürger.

Dieselben Augenzeugen wiesen die Stellen, wo Prinz Eugens Leute bei seinem glücklichen Ausfalle mit Tottlebens Russen handgemein geworden waren. – Hie und da ein frisch aufgeworfener Sandfleck, wo ein einzelner gefallen und begraben lag; wo die Waldung sich lichtete, längere, schlecht bedeckte Gruben. Die Verfolgten hatten hier standgehalten, und noch sprach davon das geronnene Blut auf dem Rasen, die zersplitterten Äste, die abgehauenen Zweige, der zerstampfte Boden. Dort blickte etwas Dunkles aus den dünnen, aber dicht aneinander gereihten Kiefernstämmen – drei noch nicht verscharrte Pferde. Mit Lust erzählte der Bauer aus Treptow, wie Bellings Husaren hier die Kosaken abgeschnitten und ins Dickicht gejagt. »Und da konnten sie nicht weiter und nicht zurück, die Pferde waren wie im Notstall eingeklemmt und die Husaren langten sich die Kerle einzeln mit den Karabinern heraus.«

Ungefähr in der Mitte des Weges nach Berlin durchschneidet ein langer Sumpf den Wald und die Straße. Auf der Brücke, welche die damals durchbrochene Straße verband, war eine große Anzahl Menschen zusammen, auch einige Wagen hielten, und die Blicke folgten dem Zeigefinger eines Mannes, der von den Heldentaten einiger preußischen Infanteristen an dieser Stelle Auskunft gab.

»An der Fichte da, sehen Sie, wurden sie eingeholt von den Kosaken. Nun gilt's retirieren auf die Brücke: sie hätten aber besser getan, alle gleich ins Schilf zu springen. Dort an dem Stein stürzte der erste von ihnen, die Picke fuhr ihm gerade in den Nacken. – Nun waren's noch drei auf der Brücke. Einmal schossen sie ihre Musketen ab und zwei Kosaken stürzten Als die anderen aber einen Anlauf nahmen, war's zu spät zum Laden. Nun schlugen sie mit den Kolben drein, kreuz und quer –«

»Warum zogen sie sich nicht in die Heide – dort herum – die Kavalleristen hätten ihnen nicht nachgekonnt?«

»Schon richtig, aber wo fanden sie um den Sumpf den Weg nach der Stadt? In Treptow waren schon Russen.«

»Wo kamen sie her?«

»Von Köpenick.«

»Hatten sie sich beim Ausfall verspätet?«

»Nicht doch. Der Vorfall war lange nachher. Sie waren auf Kundschaft über Nacht hin. Also über die Brücke mußten sie, und wären sie nur fünf Minuten früher dagewesen, hätten sie ein paar Knüppel abwerfen können, daß die Biester von Kosakenpferden sich die Beine geklemmt. – Da sank hier der zweite in die Knie, bald darauf der dritte, der klammerte sich noch ans Geländer, aber ein Säbelhieb über die Hände, und er plumpste rücklingsüber ins Wasser. Nun blieb nur noch der vierte, ein baumstarker Riese, er und sein Hund. Als er seinen Kolben zerschlagen und ein paar Kosakenpicken mit, riß er die Birkenstange vom Geländer und schlug so um sich, daß ihm niemand ankommen mochte. Drei Baschkirengesichter lagen schon auf der Brücke und die letzten beiden nahmen vor dem Kerl und seinem Hunde Reißaus, als Sukkurs kam. Da pfiff er seinem Tiere und sprang Ihnen hier hinunter, gerade ins helle Wasser. Er war ein einzelner Grenadier, aber noch drei solche, und eine ganze Schwadron hätte die Brücke nicht genommen.«

»Ist er ertrunken?«

»Da noch nicht. Er fuhr ins Schilf. Aber nun schossen sie hinein und stocherten mit den Picken. Er arbeitete sich, bis an den Leib im Wasser, immer weiter, und mit der Stange ging's. Zwei Kosaken ihm nach ins Wasser, aber der eine mußte umkehren, der andere blieb dort stehen und schoß beide Pistolen ab. Die Kugeln pfiffen durchs Rohr, aber mein Grenadier duckte sich und war schon da, wo die vielen Mummeln blühen. Hurra! und wie das auf Kosakisch heißt, schrien nun die anderen dem einen zu, daß er drauf sollte. Der war auch so dumm und ließ sein Pferd schwimmen; aber dort, sehen Sie, als das Pferd wieder Grund fassen will, fährt der Hund ihm in die Mähne, und eh' der Kosak sich's versieht, dreht sich der Preuße um und gibt ihm einen Schlag, daß er einmal noch mit dem Kopfe übernickt und dann umfällt. Nun hätten Sie die Wut von dem russischen Volke sehen sollen. Das riß die Karabiner von den Schultern und von den Pferden herab und übers Geländer feuert das auf den einen los, als wie von einer Schanze auf ein ganzes Bataillon, das stürmen will.«

»Und der Preuße fiel?«

»Man weiß es nicht genau. Drüben, dort, wo das hohe Rohr steht, guckte er zum letztenmal raus, dann kam eine scharfe Salve und wir sahen ihn nicht mehr. Aber der Hund heulte jämmerlich, woraus wir schlossen, daß sein Herr wohl getroffen oder ertrunken war. Nun trieben sie uns weiterzufahren, und es lag auf dem Wege noch mancher tote Preuße, daß man den einen bald vergessen konnte, aber es sind in der Armee nicht viel solcher zu finden.«

Der Andrang von hinten trieb die Zuschauer von der Brücke weiter. Sie kamen über die ausgebreiteten Wiesen, welche rechts nach Treptow und der Spree, links nach dem böhmischen Dorfe Rixdorf sich hinziehen. Doch versperrte sich am Schlesischen Tore dergestalt der schmale Weg, daß ihnen schon viele entgegenkamen, welche, dem Getümmel zu entgehen, den Umweg längs der Mauer nach dem Halleschen Tore vorzogen. Doch auch hier kündigte sich ihnen ein Hindernis an, und zwar ein sehr unerwartetes. Die wirbelnden Trommeln, die donnernden Kommandoflüche, Bajonettgeklirr, wilder Hurraruf, in die sich einzelne Schüsse mischten, weckten in dem träumerisch mit der Menge ziehenden Etienne die täuschende Hoffnung: Berlin sei doch noch nicht verloren, man leiste noch Widerstand. Er wollte durch den Haufen dringen, mächtig schlug das Herz, bei den Seinigen zu bleiben, als ein beleibter Bürger mit Mund und Armen die Andrängenden zurückhielt:

»Zurück, zurück, meine Landsleute, ich danke meinem Gott, daß ich durch bin. Sie schlagen sich, als ob's gottsmörderliche Feinde wären –«

»Wer denn?« rief es.

»Österreicher. Der grausame Lascy ist wie toll, daß die Russischen ihm zuvorgekommen sind. Er will absolut die Wache haben am Halleschen Tore. Sie sind schon mit den Bajonetten aneinander, und die Kroaten schlagen die Russen alle tot; so grimmig sind sie, wenn die nicht beizeiten Platz machen. Für uns ist nichts dabei zu holen, liebe Freunde, als Malheur. Sie schlagen sich nur darum, wer uns das Fell abziehen soll.«

Der Rat war einleuchtend. Der Augenschein bestätigte die Nachricht. Der Staub wirbelte dicht auf, man trug Verwundete beiseite. Doch verriet sich bei den Bürgern, wenn hier von Parteinehmen die Rede sein konnte, mehr Teilnahme für die Russen. Sie waren nur Hilfstruppen für die erbittertsten Feinde des preußischen Namens: man lobte die Klugheit der Stadt- und Militärbehörden, sich auf die Kapitulation den Russen ergeben zu haben, ehe die Österreicher ankamen. Die Bedingungen, die man sich mitteilte, waren für die Umstände gelind. »Wenn sie nur gehalten werden,« sagte der eine zum anderen mit bedenklichem Blicke.

Wie ganz anders sollte sein Eintritt in die Vaterstadt sein, als Etienne ihn sich vorgestellt. Immer schwebte ihm vor Augen ein stiller, feierlicher Sonntagnachmittag, die Straßen waren rein gefegt, von den Kirchtürmen läutete es, die geputzten Kirchengänger kamen, die silberbeschlagenen Gesangbücher in der Hand, langsam dahergezogen. Andächtige Blicke, ehrsame Tritte; nur hie und da schlug man verstohlen ein Auge auf nach dem gebräunten Fremdling, auf dessen Antlitz es ja geschrieben stehen mußte, daß er aus Berlin fortgelaufen war. Der Zufall hatte ihn wieder nach dem Tore geführt, aus dem er einst davongegangen, und durch das er immer gedacht wieder einzukehren, aber wo war Sonntag, wo der Friede, wo die Stille? Die Glocken von den Kirchen schlugen, aber der Klang verhallte unter dem tobenden Geräusch. Er hatte nur ängstliche Gesichter gesehen aus den verschlossenen Laden vorblicken, übermütige Soldaten auf den Straßen, betrunkene Weiber, Karren, Kanonen, zusammengestellte Gewehre und Wachtfeuer.

Er lenkte seine Schritte um. Bei dem bewaldeten Höhenzuge, der den Templower Berg mit der Hasenheide verbindet, ein Platz, der so oft die Arena für die Kinderspiele seiner Jugendgenossen gewesen, wollte er die Entscheidung des Kampfes am Tor und den Abend abwarten. Er wollte, wie man nicht gern aus dem Gewühl des Marktes in die stille Kirche tritt, nicht ohne eine Stunde mit sich selbst allein der Erinnerung gelebt zu haben, die Stätte derselben betreten. Aber ein anderer, geeigneterer Platz zum stillen Nachdenken winkte ihm ganz in der Nähe. Es war der Kirchhof am Halleschen Tore. Die Pforte stand offen. Die Akazien und Platanen schüttelten ihr welkes Haupt auf die noch grünen Rasenhügel, auf die schwarzen Kreuze, auf die Marmorsteine mit der goldenen Schrift, den langen Versen und den eingemeißelten Todesengeln mit der umgekehrten Fackel. Es war still und leer auf dem weiten Gottesacker. Nur einen alten Mann sah er im fernen Winkel auf einem breiten Marmorsteine sitzen. Er stand jetzt auf und ging gebückten Hauptes nach dem Ausgang. Sein Gang war unsicher, und doch trat er fest auf, die Gestalt zusammengefallen, und doch verrieten die starken Glieder einen einst festen Riesenbau, der schwarze Rock war abgetragen, und doch schien durch die Dürftigkeit eine gewisse Würde, die er festzuhalten wußte. Der Eintretende und der Fortgehende mußten sich begegnen. Der Ort, welcher Könige und Bettler gleich macht, bringt auch Fremde, die sich nie sahen, einander näher. Der Jüngere grüßte den Alten, Stephan zog die Pelzmütze, und der Mann lüftete den kleinen dreieckigen Hut. Er sprach kein Wort, sein Blick fiel nicht auf Stephan, und wenn es geschah, so kehrte das Auge gleichgültig zurück, wie es gleichgültig hinaufgeschaut hatte. Er ging weiter.

Stephan ging nicht weiter. Er lehnte sich an eine Ulme, er preßte den Arm um den Stamm, und sein starrer Blick folgte dem Alten, bis er durch die Pforte verschwunden war. – Der alte Mann war sein Vater.

Sollte er ihm nacheilen, seinen Namen rufen, ihm zu Füßen stürzen, ihn an seine Brust drücken? – Nein, das paßte alles nicht. – Es mahnte ihn keine Stimme, dem alten Manne nachzugehen, ihm den Arm zu bieten, ihn nach Hause zu geleiten durch den Tumult. Warum drängte ihn nichts dazu? – Ihn überlief ein eiskalter Schauer. – Dem alten Manne, antwortete er sich, wäre alles gleichgültig geworden, die Überraschung könne ihn töten. – Indem er es dachte, schämte er sich über die Lüge. Dem alten Manne war nicht alles gleichgültig. Der Schmerz lagerte unter dem Auge, in den eingefallenen Wangen, in dem zitternden Knie, der Schmerz hatte ihn hierher geführt. – Wen beweinte der arme, alte Mann?

Auch Stephans Knie zitterten, auch seine Beine wurden schwer, seine Schritte, sein Atem kurz, als er auf den fernen Winkel zuging, und der neue, weiße, breite Marmorstein ihm entgegenblitzte, auf dem der alte Mann, der sein Vater war, so lange gesessen. Die Platanen rauschten um ihn, und schüttelten so viel welke Blätter auf den Stein, daß er die Schrift nicht lesen konnte, oder waren es die Tränen, die in seinem Auge standen, und die Nebelbilder, die davor auftauchten und verschwanden? Als er die Blätter mit dem Ärmel fortwischte, stand auf dem gesprenkelten Marmor, eine kostbare Platte mit Buchstaben, deren Gold noch kein Regen verbleicht und die Witterung noch nicht matt gebeizt, eingegraben:

 

»Hier ruhet in Gott, ihre bessere Urständ erwartend, Anna Sophie Stephanie ... geboren am 3ten Mai 1712, gestorben am 1sten Mai 1760, zuletzt verehelicht gewesene Bohm. Ihr einziges Kind mit dem Inspektor Bohm, Carl Julius, ging ihr am 1sten Januar 1745 in die Ewigkeit voran, allwo die fromme Dulderin, eine rechtschaffene Ehegattin und treue Mutter, aus der Hand ihres Herrn und Heilandes Jesu Christi den Trost und Lorbeerkranz erwartet für die namenlosen Leiden, welche sie bis an ihr seliges Ende mit Standhaftigkeit und musterhafter Treue als gläubige Christin ertragen hat. Sanft ruhe ihre Asche. Ihr hinterbliebener Ehegatte Carl Gottlieb Christian Bohm

 

Stephan weinte nicht, sein Auge war trocken, es brannte ihn. Er las immer wieder und wieder, bis die Zeilen ineinanderflossen, und alle Buchstaben sich ähnlich sahen. Der Marmorstein unter ihm senkte sich und hob sich, der Kirchhof drehte sich im Kreis, die Luft war schwül, er meinte, es müßte ein Gewitter kommen. Aber es kam kein Donner, keine Blitze zuckten durch den grau belegten Horizont, wohl aber brach es endlich sanft lindernd aus seinen Augen. Er weinte still und lange, und die Akazien und Platanen weinten mit ihm, er sah nach Trost umher; aber der Jüngling mit der umgekehrten Fackel, die Minerva über des Schulmanns, der Äskulap über des Arztes Haupt, ach, alle Parzen und Griechengötter über den Gräbern, ihm gewährten sie keinen Trost. Sie waren ja nur gebrannter Ton, behauener Sandstein und Marmor, alle tot, kalt, ohne Augen! Die Spieluhr von der Parochialkirche erinnerte ihn, daß Berlin vor ihm lag. Was war ihm Berlin jetzt – alles war ein Traum, Täuschung, auch seine Jugend, sein Leben hatte keinen Anfangspunkt, er wünschte sich auf sein Roß und mitten in das Getümmel einer Vernichtungsschlacht. Die Vernichtung hier war schrecklicher.


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