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Es war abermals ein tatenreiches Jahr ohne Entscheidung vergangen. Die Flammen, welche beim Abschiede vom Schlosse unserem Freunde leuchteten, leuchteten ihm nicht auf dem Wege nach Berlin, wie er vermutet und gehofft. Noch einmal hatte sich die Gefahr, welche Friedrichs reicher Hauptstadt gedroht, davon abgelenkt. Die dahin beorderten Korps fanden vollauf an allen Punkten des ausgebreiteten Kriegstheaters zu tun, bis der Winter 1759, der strengste in diesem Kriege, als neuer Feind gegen den noch unerschütterten Helden auftrat. Sein Heer trotzte dem fürchterlichen Winterlager in Sachsen, Friedrich zeigte, daß er auch mit den Elementen zu ringen wußte. Stark und frisch trat er im neuen Jahre auf, aber der Frühling trieb seine Blüten und Knospen nicht zum Kranz für die Stirne des alternden Königs. Fouqué, sein Liebling, hatte sich bei Landshut ergeben müssen, ein Verlust, der Friedrichs Herz traf – er hat ihn nie verwunden, – Glatz wurde erobert. Verfolgt von Daun, und Lascy verfolgend, führte der große Feldherr inmitten beider Heere jenen wunderbaren Zug von Sachsen nach Schlesien, von Schlesien nach Sachsen. Man wagte nicht den Löwen anzurühren, man wagte nicht, ihn in die Enge zu treiben, man zitterte vor der Kühnheit des Gedankens, einen Friedrich zu verfolgen; der in die Enge getriebene konnte kehrt machen und die Mähne schütteln. Sein Heer verschmachtete in der Julihitze, seine Preußen dürsteten nach einer Schlacht; da setzte der Löwe im Angesicht seines doppelt starken Feindes über die Elbe, statt sich zu verteidigen, griff er an, er belagerte Dresden. Die preußischen Bomben äscherten die reiche Königsstadt ein, Friedrich selbst schwebte in Gefahr, den Belagerten in die Hände zu fallen. Unüberwunden nach Schlesien ziehend, ging er einer größeren entgegen. Sein kleines Heer war bei Liegnitz umzingelt, eiserne Arme hielten ihn umklammert und die letzte Stunde des Großen schien in der hellen Sternennacht zu schlagen. Da erwachte, hell wie jemals, Friedrichs Genius, am Abend gab man ihn verloren, ehe die Morgensonne alle Schläfer in Dauns Lager erweckt, hatte er Laudon geschlagen, geworfen und stand, im Siegermarsch auf das errettete Breslau, groß wie je in der alten Glorie. Es war nicht die größte Schlacht des Krieges, aber nie bis da war Friedrich aus einer so dringenden Gefahr so plötzlich, schnell, so durch Entschlossenheit, Kraft und Vertrauen in sich gerettet.
Ihn selbst, den im Zauber seines Namens gerüsteten, zu überwinden, gaben die Feinde auf. Die Hand zitterte, die sich gegen ihn erhob, der wohlberechnete Schlag wurde unsicher, wenn er seinem Blicke begegnete; auch der Schlafende kann aufspringen und das Entsetzen entwaffnet die Mörder. Man wollte ihn besiegen, indem man seine Mittel vernichtete, man gab den Ruhm auf um des Vorteils willen. Berlin war Friedrichs Waffenschmiede, der Mittelpunkt einer blühenden Industrie, schon glänzend durch ihre Bildung, reich durch Gewerbe und Handel. Hier sammelten sich die Lebenssäfte im Winter, daß der preußische Baum seine Laubkrone wieder den Stürmen des Sommers entgegenbreiten konnte, von hier wuchs sein Heer, von hier füllten sich seine Kassen, seine Magazine, seine Rüstkammern. Hier dürfte ihm eine Wunde beigebracht werden, die nicht mehr zu heilen ging. Aber dieselbe Macht, welche um seine königliche Stirn schwebte, hatte auch den Gewitterschlag von seiner Königsstadt abgewandt. Kein Feldherr hatte es gewagt, mit ganzer Kraft drauf zu marschieren und den entscheidenden Schlag zu tun. War auch sein Degen an der fernen Neiße, oder tief in Böhmen, sein Geist war doch in Berlin, Friedrichs Name, eine magische Scheu, schwebte über den Türmen des neuen Palmyra. Nur einmal zu Anfang des Krieges hatte der kühne Parteigänger Haddik gezeigt, daß auch Berlin zugänglich war. Doch mußte er sich mit dem Ruhm begnügen; und das Dutzend Berliner Handschuhe, welche er seiner Kaiserin mitgebracht, waren von mehr Wert als die Tausende von einer Kontribution, die nur zur Hälfte durch Drohung erpreßt wurde. Jetzt richteten sich aufs neue die politischen Blicke seiner Gegner auf die preußische Hauptstadt. Österreicher und Russen waren einig. Das Geheimnis, gepflogen zwischen neidischen Feldherren, besprochen zwischen Hofräten, Kabinettsräten, Kriegsräten, beraten von Feldherren, Diplomaten und Frauen, welche nicht dasselbe wollten, nicht dasselbe dachten, blieb doch Geheimnis und die drohenden Gewitterwolken wälzten sich gegen die preußische Hauptstadt, ehe Friedrich, anderen Plänen nachsinnend und begegnend, davon erfuhr.
Was in der Not zu tun, darüber hat Friedrich nie gezaudert. Zwei Husarenoffiziere flogen aus seinem Hauptquartier mit Depeschen nach Berlin. Sie trugen auf ihrer Brust einen Blitzstrahl, der zündet, wo er trifft und die Nacht zum Tage macht. In dem Schreiben stand: »Friedrich kommt!« Das Wort war viel, es war mehr als ein Heer. Es kam alles darauf an, zeitig den Generalen in Berlin die Nachricht zu bringen, daß Friedrich von dem Angriff wußte, daß er aus Schlesien eile, seine Hauptstadt zu retten; aber der Auftrag war schwierig, gefahrvoll. Die märkischen Kreise wimmelten von österreichischen Parteigängern, Kosaken streiften schon diesseits der Spree. Nur durch die dichtesten Kiefernheiden, durch Sandwüsten, die keine Plünderer locken, durften die Offiziere hoffen, die bedrohte Residenz zu erreichen. Sie waren schon durch geplünderte Dörfer gekommen, wo kaum die Feinde abgezogen, und nur ihre Ortskenntnis und die Schnelligkeit ihrer ausgesuchten Pferde hatte sie vor der Gefangennahme gerettet. Doch auch Friedrich selbst, vor dem das Unmögliche so oft das Knie beugte, hätte ihnen nicht Flügel gegeben, und den Körpern ihrer Tiere unermüdliche Kraft. Es gab hier nicht mehr Postverbindungen, Etappen; Stellvertretern durften die Ermüdeten ihr wichtiges Geschäft nicht anvertrauen und ihr Auftrag selbst machte es ihnen zur Pflicht, dazu ihr Vermögen zu berechnen und zu sparen.
Als sie ihr spärliches Abendbrot zu sich genommen, die Pferde draußen schwelgten noch bei einer reichlichen Mahlzeit, notierten die späten Gäste in den Brieftaschen. Es war ebensowenig etwas von den Leuten im Kruge zu besorgen, als man von ihrem Stumpfsinn Erkundigungen einziehen konnte. Freund und Feind war den Verlassenen hier an der Grenze ein gleiches Schreckenswort. Daß Polacken mit langen Bärten und Spießen da gewesen, aber wieder abgezogen, war die einzige Auskunft, welche darauf deutete, daß schon Kosaken in der Gegend streiften. »Lieber denen in die Hände gefallen, als den Österreichern,« sagte der Kamerad, versiegelte Briefe aus seinem Portefeuille nehmend.
»Worin besteht der Vorzug?« fragte Stephan.
»Sie verstehen unsere Skripturen nicht.«
»Das nicht; es könnte aber doch sein, und ein guter Militär muß auf jede Wendung gefaßt bleiben. Steck drum diese zu dir.«
»Warum das?«
»Wenn wir uns trennen müßten, wenn mir was begegnete, so überbringst du sie an den Kommandanten, auch den an Seydlitz und Lehwald.«
»Kann ich nicht später ankommen als du, oder gar nicht?«
Der Kamerad schwieg und wiegte nachdenklich das Portefeuille in der Hand. Er murmelte einen französischen Chanson zwischen den Zähnen, öffnete und schloß die Brieftasche und drückte plötzlich dem Freunde die Briefe in die Hand: »Nimm doch, es ist immer besser.«
»Wenn wir nach der Vernunft schließen, kommst du, im Fall der Trennung, eher nach Berlin, du kennst die Wege.«
»Pah! Was soll die Vernunft hier! Im Kriege herrscht das Glück.«
»Hast du Ahnungen?«
»Weg damit! Ich kann dir keinen Grund angeben warum, aber es ist mir beruhigender, wenn du die Papiere auf der Brust trägst. Gesetzt eine Kugel trifft dich und sie wird daran matt, umgekehrt ginge sie dir durch die Brust, müßte ich mir dann nicht ein Gewissen daraus machen, daß ich nicht inständiger in dich drang? Aber auch wenn wir die pure, nackte Vernunft hören, ist es so besser. Du hast überall Glück, außer etwa im Rencontre mit dem Könige, ist es nun nicht wahrscheinlicher, daß du eher als ich die Berliner Ringmauern erreichst? – Doch kein Wort mehr davon.«
Der Auftrag war beiden Offizieren zusammen erteilt, es war nur ein Privatabkommen, nach welchem der Freund die Briefschaften bei sich trug; nötigenfalls konnte jeder von ihnen den Hauptauftrag ohne alle schriftliche Begleitung überliefern. Auch hatte man im Hauptquartier es als eine Gunst für ihn angesehen, daß Stephan dazu erwählt worden; Friedrich, der nie gern alte Schulden anerkannte, hatte eine durch eine neue Verpflichtung vielleicht halb abtragen wollen. So mochte sich Stephan gegen etwas nicht sträuben, was an sich unbedeutend war, und schloß die Schreiben in seine Brieftasche.
In der Stube war die vorige Stille und Hausordnung eingetreten. Die geschäftige Mutter hatte zwar die jammernden Kleinen ins Bett zurückgelassen, ihren alten faulen Hans dagegen gezwungen, auf der Ofenbank sein Lager aufzuschlagen. Ehe sie sich mütterlich bei den Kindern einschichtete, hatte sie den Gästen auf die Schultern geklopft und ihnen den freundlichen Rat erteilt, bald einzusteigen, das Bett sei noch warm und die Nacht kalt. Stephans Kamerad beleuchtete jetzt das große Himmel- und Ehebett, wo es weder den beiden Freunden, noch, wenn sie Lust verspürt, ihren Burschen aufzunehmen, ihnen dreien an Raum gebrochen hätte; die Visitation mußte aber sonst nicht befriedigend ausfallen, denn der Offizier sagte: »Kannst dich überquer hineinlegen, wenn du Lust hast, Bruno soll mir Stroh schütten.«
Stephan verspürte, dem Anschein nach, noch weniger Lust, doch rügte er, daß sein Freund die Vertreibung des rechtmäßigen Betteigentümers zugelassen.
»Soll der Bauer weicher schlafen als wir!«
»Es ist ja sein.«
»Nichts ist sein, es ist Krieg. Es wäre mein, wenn ich wollte. Nun will ich aber zufällig nicht. Soll der Faulenzer davon profitieren? Man muß sie nicht verwöhnen, sich für gleiche Wesen mit uns zu halten.«
»Wir sind Preußen.«
»In einem echten Kriege, Liebster, das heißt, wo die ganze Welt auf den Kriegsfuß versetzt ist; wo es nicht mehr Kampagnen gibt, sondern einen dauernden Kriegszustand, wie im dreißigjährigen, da gibt es nur zwei Gattungen von Menschen: Soldaten und Nichtsoldaten, solche die schlagen und die geschlagen werden, die nehmen und die geben müssen, handelnde und leidende. Wir gehören zu den ersteren und dürfen das aus falscher Humanität nie aus dem Auge lassen, zumal als es den Anschein gewinnt, daß unser schlesischer ein dreißigjähriger Krieg wird. Bist du verdrießlich über die Moral?«
Bruno, der, die Mütze umdrehend, schon lange gewartet, ersparte unserem Freunde die Antwort, indem er seinen Herrn ersuchte, sich lieber das Lager in der Scheune aufschlagen zu lassen. Stephan griff den Vorschlag auf: »Die Luft ist rein und unser Ohr trifft nicht das anmutige Schnarchen der Bevölkerung hier.«
»Das ist doch nicht dein Grund, Kerl?« fragte der Offizier scharf. Der Bursche drehte noch verlegener die Mütze. »Heraus mit der Sprache!«
Es bedurfte noch einiger Disziplinarworte, ehe sein Herr auf einen Grund kam, nach dem zu suchen unserem Helden sehr überflüssig dünkte. Doch war der Chevalier ein strenger Offizier, der der Disziplin zu vergeben fürchtete, wenn er der Phantasie nachgab. Es kam so viel heraus, daß Bruno schon in früher Jugend gehört, wie es hier nicht geheuer sei, und daß ihm selbst, da er als Wanderbursch in dieser nämlichen Stube einmal übernachtet, etwas Unheimliches begegnet war, was doch füglich nichts mehr war als ein Alpdrücken. Er war schon mit Angst vor dem ominösen toten Mann über die Schwelle getreten, hatte, da er sehr hungrig, auch sehr viel zu Abend gegessen, der Heidewirt hatte ihm ein bös Gesicht gemacht und er war mit der Vorstellung, er könnte totgeschlagen werden, eingeschlafen. In der Nacht war der Wirt aus dem Bette gesprungen, hatte die Axt ergriffen und ihm den Kopf gespalten, und beim ersten Morgengruß war der mutige Wanderbursche durchs Fenster gekrochen, zwar mit heiler Haut und ganzem Kopf, aber ohne seinen Zehrpfennig zu entrichten. So viel kam bei einer scharfen Inquisition heraus, die der ältere Offizier nicht ohne demütigenden Hohn führte.
»Sie mögen schon recht haben, mein Herr Leutnant,« entgegnete der Bursch, »ich bin's aber doch nicht allein, der hier nicht gern an die Tür klopft.«
»Weil du damals nicht bezahlt hast, Schlingel.«
Aber dem Burschen schien jetzt erst recht die Zunge gelöst und er brachte alle mögliche Spukgeschichten vor, die sich in der Heide oder auf der Schwelle des Kruges ereignet haben sollten. Da hatte es einen Wanderburschen, der um den heißen Mittag vorbeiging, laut und schallend angelacht, ob er doch kein lebend Wesen im ganzen Hause hätte entdecken können. Ein Frachtfuhrmann, der hier die Pferde abends tränkte, hatte seinen hohen Wagen in hellen Flammen brennen sehen, und als er zueilte, rauchten noch Pferde und Leinwand, es war aber keine Spur von Brand zu finden. Sein eigenes Haar loderte dagegen, ob er es schon selbst nicht fühlte. Der Wirt wäre ein Wetterprophet und Vieharzt besonderer Art, der einem gesunden Menschen den Tod ansehe, weshalb auch keine Seele mit ihm Freundschaft halte.
Der Offizier unterbrach mit einer ihm nicht eigentümlichen Heftigkeit den Menschen, den nur die Furcht zum Schwätzer gemacht, und befahl ihm, auf der Diele gerade neben der Bank, wo derselbe gefährliche Krugwirt schnarchte, sein Lager zu streuen.
Stephan redete französisch mit ihm; er suchte ihn zu beschwichtigen. Der Chevalier fuhr dazwischen: er soll aber nicht abergläubisch sein! Sind wir Friedrichs Soldaten, leben wir in seinem Jahrhundert? Weil dem Menschen Albernheiten an der Wiege vorgeplappert wurden, weil er sich den Magen vollgeschlagen, mit erhitztem Blute niedergelegt und nun schwer geträumt hat, soll ich fürchten, wovor er sich fürchtet!«
»Wem predigst du? Ich glaube ja nicht dran.«
»Du willst in der Scheune schlafen?«
»Weil mich der Geruch vertreibt, nicht die Gespenster.«
»Wahrhaftig, Stephan, ich täte es auch, wenn mich des Kerls Geplapper nicht zwänge, nun hier zu bleiben.« Er ging in einer Aufregung den kleinen Raum auf und ab, welche nicht zu der leichten Art paßte, mit welcher der Chevalier die Eindrücke auffing und ihnen begegnete.
»Bist du nicht ein Tor, Lieber? Aus Furcht, furchtsam zu scheinen, bist du es. Ist das kein Aberglaube, sich vor einem Etwas zu fürchten, über das wir Herr sind? Das Kind, das sich vor der finsteren Stube scheut, weiß noch nicht, daß nichts Schreckhaftes darin ist; so eigentlich jedes abergläubische Gemüt. Wir wissen's ja alle noch nicht, ob etwas zwischen Luft und Erde ist, was uns ergreifen und wir nicht greifen können. Beweise mir einer, daß es nicht ist! Aber was du hier besorgst, das begreifst du vollkommen. Du fürchtest, daß dein Bursch dich für einen Poltron hält, und fühlst nicht so viel Stärke, dich darüber wegzusetzen.«
»Gib mir die Macht,« sagte der andere, »der pommerschen Seele Vernunft einzublasen. Es liegt hier nicht am Subjekt, nur am Objekt. Heu weiß er vom Stroh zu unterscheiden, aber Philosophie – Possen! – Laß uns von anderem reden.«
»Du bist zu aufgeregt, um zu schlafen.«
Sie setzten sich wieder an den Tisch, wo die Blechlampe ihre dürftigen Strahlen auf die noch nicht weggeräumten Schüsseln und Teller warf. Ein unbehaglicher Anblick, alles unfreundlich, wüst, drückend, bis auf das Stroh, das Bruno auseinanderschüttete. Der Bursch war gegangen und der Offizier bemühte sich, ein Gespräch fortzuführen, an dem er selbst den wenigsten Teil nehmen mochte. Fragen und Antworten zeugten von seiner Zerstreuung.
»Und hältst du dies Vieh von Bauern, das hier kaum lebt, für fähig, noch in einer anderen Welt zu leben? Was berechtigt ihn zu einer Fortdauer der Seele, da es zweifelhaft ist, ob er hier eine hat! Welche Vorstellungen soll er in das dunkle Jenseits hinübernehmen? Er weiß nichts von seinem Großvater, zählt nicht über drei und hat kaum für anderes Empfindung als für Schläge.«
»Laß die Religion aus dem Spiel. Es ist wider unseren Pakt.«
»Ich gebe es zu,« fuhr der Chevalier fort, »daß der Philosoph, der Dichter, der Künstler, der hier nicht zustande kommt mit seiner schönen Ideenwelt, eine Fortsetzung haben muß – die Brücke baut sich von selbst – aber schon ein großer Eroberer muß diesseits bleiben; seine Brücke trägt nicht die Kanonen, ohne die er hinwiederum nichts ist. Was soll aber der Mensch drüben? Nutzt es ihm was oder anderen?«
»Mußt du denn heut durchaus nur und nur an den Tod denken?«
»Und ich bitte dich, ein solcher Halbmensch soll anderen Menschen ansehen können, wann sie sterben müssen? Wo ist da Vernunft? – Was der Schurke von dem brennenden Frachtwagen sprach, erklärt sich ebenso natürlich: es ist das St. Elmsfeuer.«
»Ich gab mir kaum die Mühe, darüber nachzudenken.«
»Betrachte ihn doch nur, Stephan, wie er tierisch schnarcht! Ein Schwein streckt sich nicht anders, als er die ungeschickten Gliedmaßen auf der Bank. Wie er sich wälzt, in dem Kopf kraut! Wo, ich bitte dich, wo steckt das Besondere an ihm? Im Fuß, im Kopf, im Bauch.«
Stephan sah ihn verwundert an: »Glaubst du's denn?«
»Nichts glaube ich. Allein man will doch wissen, daß Leute, die ohne alle geistige Beschäftigung, wie die Tiere leben, auch von ihrem Instinkt abbekommen. Ihre Naturkräfte, hier gespart, wachsen dort an, sie riechen schärfer, sehen, was ein anderer nicht sieht. Solches Menschen Sinne, der in der Einsamkeit aufwuchs, haben etwas Apartes. Es ist im Grunde nur was Einseitiges, Unvollkommenes, aber es blendet uns. Er wittert, wo wir noch klaren Himmel sehen, den Sturm; am Fluge der wilden Gänse weiß er den strengen Winter voraus, ihm schwant Kriegsnot und Gefahr. Alles das will ich noch glauben, aber meinst du, daß der Blödsinn einem klugen Menschen ansieht, was er selbst nicht weiß?«
»Ei, einem Philosophen kann im Januar die Nase erfrieren, und ein Eckensteher, der keinen Buchstaben kennt, muß ihn darauf aufmerksam machen.«
»Allein er kann ihm doch den Tod nicht ansehen?«
»Steht der uns nicht allen auf der Stirn geschrieben? Laß uns morgen, wenn es hell ist, das Gespräch fortsetzen, und du selbst lachst hoffentlich am lautesten über deine Frage.«
»Ich wünschte, es wäre schon Morgen. Ihre Schnarchmusik dreht mir den Kopf um.«
Stephan fühlte jetzt so wenig als sein Freund von Müdigkeit, obschon sie von früh auf geritten waren. Der Chevalier gab sich Mühe, eine heitere Unterhaltung in Gang zu bringen, seine Heiterkeit paßte aber nicht zu dem, was sie umgab. Ja, sie stach so schneidend gegen die Einsamkeit, gegen ihre Lage, gegen das Gefühl in ihm ab, daß das Gespräch bald stockte. Das Bedürfnis nach verwandter Bildung hatte zwei Kameraden zusammengeführt, deren Gesinnung sich nicht so nahe stand. Stephan verlangte nach einem Freunde, er fand brave Seelen, tüchtige Köpfe, treue Kameraden, aber kein Herz, das mit ihm fühlte, er glaubte es gefunden zu haben, als er einen traf, der mit ihm dachte, der Besseres kannte, als die meisten ahnten, der mit ihm spottete, stritt und ein Resultat fand, wo er noch keines suchte. Er gehörte Abkunft, Sinn und Erziehung nach zu den französischen Glücksrittern, die wie flimmernde Irrlichter um Friedrichs Sonne schwebten, wo sie strahlte, völlig vor ihr verbleichend, aber wo sie nicht schien, knisternd das empfangene Licht von sich gebend. Charaktere der Art beleidigen den eingebildeten wie den echten Wert. Auch Friedrichs Gunst, wo sie bestimmter sich aussprach, konnte nicht kameradschaftliche Neigung erwecken. Der Chevalier war nicht geliebt, wenn auch seines Mutes wegen geachtet und seines Spottes wegen gefürchtet. In einem bewegten Gusse dunklen Metalls finden sich die edleren Adern von selbst zusammen; die rohe Menge stößt die Gebildeteren unwillkürlich aus und führt sie aneinander. Zusammen überstandene Gefahr verbündet auch Gemüter, welche sich fremder stehen, und ein Freundschaftsbund war geschlossen, inniger als der eine sich dazu fähig glaubte und der andere es wünschte. Stephan hatte, im Bedürfnis der Mitteilung, dem Chevalier viel vertraut, mehr, als er zu anderer Zeit bei sich gerechtfertigt hätte und wohl flüchtige Teilnahme gewonnen, aber nicht dadurch an Liebe bei seinen anderen Kameraden. Ihre Anfeindung brachte die Angefeindeten enger aneinander als sie wollten.
Der Chevalier schwieg, das Gesicht im Arm gestützt. Die Lampe brannte düster, ihr Rauch wirbelte um die niedrigen Balken. Eine Unzahl matter Fliegen kroch auf der unsauberen Tischplatte und lagerte um die Reste der Speisen. In der Neige Bier war es schwarz vom Gewimmel der mit dem Tode ringenden Insekten. Ihr Flügelschlag, ihr Gesumme, das Schnarchen der heimischen Schläfer und das Ticken der Wanduhr war das einzige die dumpfe Nachtstille des Waldhauses unterbrechende Geräusch. Wie viel Schläge hatte diese alte Wanduhr getan, seit er das Vaterhaus verlassen, wie viel lagen noch dazwischen, bis er es wiedersah! Und doch wünschte er sie nicht zu beeilen. Er las wieder in der Brieftasche, als der Chevalier die Augen auf ihn richtete:
»Wie oft willst du ihn noch lesen? Du mußt den Brief auswendig kennen.«
»Kann man sich etwas Angenehmes zu oft vorführen?«
»Die Phantasie liest etwas hinein, was nicht darin ist.«
»Was wahr ist, bleibt indes doch wahr. Sie ist ihm behilflich gewesen zur Flucht, er ist dem Tode, der Schmach entgangen, und, was besser, sie hat Regungen in dem verwilderten Sinn entdeckt, die noch hoffen lassen.« –
»Und das glaubst du?«
»Sie kann mich nicht täuschen wollen.«
»Dich nicht, aber sich selbst. Sie ist ein Weib. Die lesen in jedes Buch hinein, was sie drin finden wollen, Schlimmes und Gutes, wie die Wetterfahne ihrer Laune steht.«
»Das ist am Ende ein allgemeiner Grundfehler.«
»Der Mensch ist ihr interessant vorgekommen, Gott weiß warum, weil er unglücklich geliebt hat, oder ganz simpel, weil er ein Verbrecher ist – anrüchige Charaktere haben auf das Gemüt der Frauen von je eine anziehende Kraft, weil jede vermeint berufen zu sein ihn zu bessern. Nun hat sich die Gräfin ein absonderliches Phantasiebild von ihm gemacht, und das muß wahr sein, mag die Natur biegen oder brechen. Bei so vorgefaßter Meinung von seiner ursprünglich edlen Natur muß alles an ihm edel sein. Überdies ist's ein entschlossener Charakter, der den Weibern unter allen Zonen imponiert.«
Stephan schien empfindlich. Der Chevalier reichte ihm die Hand. »Sei nicht böse. Ich sprach von den Frauen im allgemeinen; deine Dame macht ja eine Ausnahme, wie du mir hundertmal erzählt hast.«
Stephan verbiß die Lippen und steckte den Brief ein.
»Ich lese in deinen Gedanken,« fuhr der andere fort, »du machst dir Vorwürfe, mich zu deinem Vertrauten erwählt zu haben, und möchtest gern zurücknehmen Mitteilungen, die freilich besser für arkadische Schäfer als für preußische Husaren mit den Totenköpfen passen. Indes, was Geheimes hast du mir denn vertraut! Du wirst dich bald genug an den Gedanken gewöhnen, daß auch deine Schöne ein Weib ist wie die anderen, deine Liebesgeschichte nichts voraus hat vor den hunderttausenden seit Adam und Eva. Brot wird gebacken aus denselben Stoffen seit die Welt steht, nur die Form ist ein bißchen anders. Mit der Liebe ist's nun wie mit dem Brote. Nichts ist daran neu; nur die Sprache ändert sich. Das interessanteste Ding, so lange man hofft und fürchtet, wenn man gewiß ist, bald das allerlangweiligste. Eine reine Kriegsgeschichte ist schon eine sehr trockene Lektüre; aber es sollte mal einer eine Geschichte der Liebe schreiben, das würde die allertrostloseste Variation des Einerlei. Und wie kläglich kommt sich der Mensch dabei vor, wie unwürdig, wenn er überschlägt, wie gescheite Leute und Helden gequint, gerast, verzweifelt, taub, toll und blind gewesen, um was – um einen Schatten! Ich sage dir, nicht Pest und Krieg, sondern die Liebe ist der Menschheit Erbsünde, es ist ihr arger Fluch: beständig, mit Aufwand der besten Jugendkraft, nach etwas jagen zu müssen, das, wenn man es hat, ein Nichts ist. Und das hört niemals auf. Es wird keiner um ein Haarbreit klüger durch die Erfahrung seiner Väter und Großväter, nicht einmal durch seine eigene. Die ganze Geschichte ist umsonst und jeder muß wieder von vorne anfangen. Tröste dich darum, du hast mir nichts verraten, was ich nicht schon wissen mußte.«
»Dann tut es mir leid, daß ich dich damit gelangweilt habe.«
»Es hat jeder seine Portion Langeweile in der Welt zu tragen, und es ist die erste Freundespflicht, dem Freunde etwas davon tragen helfen.«
»Um alles, was ich habe, verkaufe ich doch nicht die Erinnerung.«
»Wer gesteht gern ein, daß er ein Tor war. Du hast auch recht, man muß geliebt haben, um darüber wegzukommen. Besser früh, als daß es spät nachkommt. Und es war doch ein Vergnügen dabei, wenn auch nur wie beim Rausch.«
»Nur daß ich nach einem Rausch mich ärgere.«
»So war's ein Schein.«
»Warum freut's mich in der Seele, wenn die Sonne scheint, und ich ärgere mich nachher doch nicht darüber, wenn's wieder grau ist; das angenehme Bild bleibt vor der Seele!«
»Ich will vom Rosenrot der Liebe nichts Schlimmeres sagen, als von allem, was uns bewegt, begeistert, tägliches Futter für den Geist, daß er nicht untergeht, wie Essen und Trinken für den Leib. Man fristet seine Existenz und damit holla. Überall viel Streben, viel Arbeit, viel Geschrei, und der Grund ist – ein Nichts ...«
Stephan schwieg. Es mahnte ihn an Kämpfe, die er selbst durchfochten, und er fragte sich nach dem, was er gewonnen? Der Wind rauschte wieder in den Kiefern draußen –
»Das Vaterland ist doch etwas!«
Der Chevalier lächelte wehmütig: »Wieder das! Ich wurde auf einem Schiff geboren, mein Vater war ein Franzose, ein jüngster Sohn, der kaum sein Geburtsland gesehen, meine Mutter eine Amerikanerin. Mein Vater starb auf dem Wege nach Petersburg, um ein Russe zu werden, meine Mutter folgte ihm, nämlich in das Vaterland jenseits. Mich warf das launenhafte Glück nach Potsdam. Aus dem Waisenhause kam ich in das Kadettenhaus. Ein englischer Onkel von Mutterseite, der sich aus britischem Spleen gegen seine Deszendenten meiner erinnerte, ließ mich in Genf erziehen, und als ich erzogen war, ich weiß nicht ob als Franzose, Amerikaner, Russe, Engländer, Brandenburger oder als Schweizer, trat ich ins preußische Militär. Was bin ich nun, sage mir, was ist mein Vaterland?«
»Friedrich!«
»Und was ist Friedrich selbst?« – »Ein großer Mann.«
»Aber eine unbekannte Größe, aus der man auch nicht die Wurzel gezogen hat.«
»Stand je ein Stern so klar am Horizont?«
»Und wie wird er untergehen? Was ist denn Gewisses in ihm? O ja, ich stürme mit, wenn er ›Vorwärts!‹ ruft, ich trinke mit auf seine Gesundheit, ich jubiliere mit den Jubelnden, und es ist doch auch nur ein Rausch, nur ein Sonnenschein. Ist er glücklich? Nach den Sonnentagen von Mollwitz und Hohenfriedberg war er's vielleicht, wo die Welt zu des jungen Gottes Füßen lag, sein Degen der Schlüssel war zu Ruhm und Macht. Kennst du in dem verdrießlichen Mann, dem nichts mehr Vergnügen macht, den siegestrunkenen Jüngling wieder; wo sind die Phantasieträume, die Wolken von Morgenrot, auf denen er sich schaukelte? Was hat er gewonnen? Schlesien, und dafür Haß und Neid der halben Welt. Frieden? Mit niemand, als die von ihm noch was erwarten. Vertrauen? Hm, hm! Bewunderung? Nun ja, ich bewundere ihn. Ich werde nicht von ihm lassen, weil ich eben, weil wir alle nichts sind ohne ihn. Ja, ich bewundere ihn, die Bewunderung wird auch zuweilen warm, aber davon esse ich nicht, trinke ich nicht, atme ich nicht. Was ist der Nahr- und Lebensstoff darin? Und wenn man mir sechs Bretter zusammenschlägt und eine Grube gräbt, was nehm' ich von Friedrich mit?«
»Undankbarer! hast du nicht von ihm so lange gezehrt? Wird der Bauer im Tode auf die Ernten schmähen, die ihm sein Brot lieferten, weil er nichts davon mit hinübernimmt? Wir leben, mein' ich, von unseren Stimmungen. Sie sind wandelbar, vergänglich, aber unser ist die Schuld, wenn wir sie nicht genossen. Wir haben geschwärmt, geglüht, unser Geist erhob sich in die Wolken, wir waren selig. Ist das nichts? Zähle die begeisterten Momente, die seligen Augenblicke zusammen; gibt es keine Summa von schönen Gefühlen, von großen Gesinnungen, von berauschenden Gedanken, würdig gelebt zu haben!«
»Es liegt nur alles hinter uns.«
»Nun aber das im Rücken, und man kann, mein' ich, mit etwas Sicherheit vorausgehen. Unser Erbfehler ist schlechte Wirtschaft, wir zehren zu früh auf, was den Geist befriedigen konnte, wir nippen den Champagnerschaum und erklären das andere für schal!«
»Dafür sind wir Soldaten. Wir sollen nicht sparen, wo wir nicht wissen, ob wir morgen noch genießen können. Wer addiert auf dem Totenbette? War das ganze Leben, Glück und Unglück, nur aus Stimmungen zusammengesetzt, so ist die eine Stimmung, in der wir abfahren, doch ein ganzes Leben wert. Wer präpariert sich die? Wer bürgt mir dafür? Doch laß die Faxen sein. Grüß deinen Bruder, wenn du ihn siehst.«
»Wunderlicher Mensch. Was soll Gottlieb gerade zu deinen trüben Gedanken?«
»Der arme Schelm hat auch ein Leben geführt, das sich der Mühe, geboren zu werden, nicht lohnte. Stand es in den Sternen geschrieben, hat's eine Zigeunerin ihm vorausgesagt? Bewahre, er ist nicht schlimmer, nicht besser daran, als wir alle. Völlig gleich, wie man lebt, man lebt immer gut genug für diese beste Welt. Man füllt seinen Platz, spielt mit, tritt oder wird getreten und wird zum selben Moder, ob man den Tag vertrunken hat, oder im Plato spekuliert, in der Spinnstube Wolle gezupft oder auf dem Throne Welteroberungspläne geschmiedet, ob man rückwärts gegangen oder vorwärts, und endlich gestorben wie ein Heiliger am Marterpfahl oder auf dem Rabensteine. Kot, der unter deiner Fußsohle klebt, Staub, den der Wind verweht. Gute Nacht, Stephan.«
Stephan sah ihm die Überwindung an, mit welcher er sich auf das Strohlager warf, den Kopf abgewendet von dem Schläfer neben ihm auf der Ofenbank. Er strengte seine Überredungskraft vergebens an. Er wollte ihn nicht begleiten, er wollte hier in diesem Winkel, an dieser Bank, unter diesem Balken schlafen.
»Gestehe es, dich schauderte, wie dich der Mensch ansah. Du hast eine böse Vorstellung dabei.«
»Und wenn ich's dir gestände, glaubst du, ich fürchte, er wird über Nacht sich von der Bank herunterwälzen und mich erwürgen?«
»Er nicht, aber deine Träume!«
»Die sind noch nichtiger als die Wahrheit. Was ist der Schatten von einem Nichts?«
»Ich will mich neben dich legen.«
»Ich bin mir noch selbst genug vor Gespenstern.«
»Siehst du nicht, daß ich sie mit beiden Händen fasse. Absolut nicht. Puste die Lampe aus und geh.«
Stephan reichte ihm die Hand: »Auf Wiedersehen morgen!« Die Hand war heiß, der Puls ging heftig, es dünkte ihm wie im Fieber. Aber ungeduldig, wie mit letzter Anstrengung, wies der Chevalier den zaudernden Kameraden fort. Er löschte das Licht aus und ging.
Die Sterne flimmerten blendend am ganz reinen Oktoberhimmel. Es war kalt. Brunos Schnarchen leitete ihn in die Scheune, wo sein Lager bereitet war. Aber er erwehrte sich auch in dem doppelt umwickelten Mantel nicht der Kälte, welche mit der Zugluft durch die schlecht verwahrten Wände drang. Seine Gedanken erhielten ihn zwischen Schlaf und Wachen, um doppelt den Frost zu empfinden. Endlich sprang er auf; er suchte nach einem geschützten Ort und sah die Leiter am Heuboden angelehnt. Mit wenigen Tritten war er oben, er mußte aber halb im Schlafe gestiegen sein, denn als er sich hineinschwang, stieß er die Leiter um, und hätte sich den Rückweg abgeschnitten, wenn er hier nicht gefunden, was er erwartet. Allein der Boden lag voll frisch duftendem Heu, und während er sich in der dichtesten Masse begrub, kümmerte er sich nicht um den Sprung, der ihm schlimmstenfalls am Morgen bevorstand.
Die Natur forderte ihr lang bestrittenes Recht. Sein letzter Gedanke war ein Vorwurf. Eugenie stand mit aufgehobenem Finger vor ihm, drohend, daß er einem Unwürdigen ihre zartesten Geheimnisse mitgeteilt. Er entgegnete, der Chevalier habe auch vor ihm keine Geheimnisse gehabt. Die Gräfin sah ihn nur ernster an. Er beteuerte, Jacques werde verschwiegen sein, sie schüttelte den Kopf. Der Angstschweiß stand auf seiner Stirn, seine Wange färbte glühende Schamröte, eine Träne stahl sich aus seinen festzugedrückten Augen, er preßte die Hand und zeigte auf den Säbel an seiner Seite: er werde ihn schweigen machen. Da entschwand die Erscheinung; nur noch einmal drehte sich der Kopf um, er wußte nicht, ob der düstere Ernst in ihrem schwarzen Auge Mißbilligung oder Zustimmung war. Er erwachte von der Anstrengung und fand sich tief unter dem Heu wie ein von Lawinen Begrabener versunken. Doch fühlte er sich so matt vom ängstlichen Traum oder der Tagesarbeit, daß er keine Kraft verspürt hätte zum Herausarbeiten, wäre ihm auch nicht die warme gesicherte Lage so behaglich gewesen. Noch traten ihm undeutliche Traumbilder vor die Sinne, Trompeten schmetterten und riefen, Schwadronenhufschlag und Schlachtgeschrei, alles kraus und bunt, doch vermochte ihn nichts aus seinem tiefen Schlafe zu wecken.
Es mochte schon spät sein, als er die Augen aufschlug und die Besinnung zurückrief, wo er sei. Geweckt hatte ihn niemand, auch war es ringsum still, die Sonne schien durch die enge Dachluke. Er arbeitete sich aus dem Heuhaufen auf, weniger frisch als er gehofft. Erst die umgestürzte Leiter brachte ihm, was vorgefallen, in Erinnerung. Er rief nach Bruno, keine Antwort kam. Es sah unordentlich, zerstört auf dem Hofe aus. Ihn überraschte unangenehm der Gedanke, daß sie ohne ihn fortgeritten wären. Als auf sein wiederholtes Rufen niemand erschien, schickte er sich zum Sprunge an, der, nachdem eine Portion Heu vorausgeworfen, ohne Fährlichkeit abging.
Auch jetzt zeigte sich auf dem Hofe kein lebendes Wesen. Er trat in die Scheune, Bruno war fort. Er wollte die Stalltür aufreißen, sie war offen und die Pferde verschwunden. Es zuckte eine Angst heiß ihm durchs Gehirn, wir zaudern gern auf dem Wege, der uns zu einer entsetzlichen Gewißheit führt. Er stand still in dem Torwege des öden Gehöfts und ließ, die Hand am Säbelgriff, das Auge hinausschweifen. Es begegnete nichts als der monotonen Kieferneinsamkeit, die kein Kriegsruf, kein Sturmwind aufstört. Die Sonne stäubte in schrägen Strahlen durch die Nadelkronen und glänzte auf dem hellen Sande. Verspätete Zugvögel zwitscherten auf den Ästen.
Er wandte sich um, die Fenster der Hütte waren eingeschlagen, die Tür, erbrochen, lag auf der Schwelle. Den Säbel ziehend, trat er an das Fenster und übersah das Bild der Zerstörung, soweit die im Zugwind umherfliegenden Federn aus den aufgeschlitzten Betten es vergönnten. Die Kacheln des Ofens waren eingeschlagen, der Tisch umgestürzt, die Gerätschaften lagen in Scherben umher, alles Spuren übermütiger Zerstörungslust. Nichts Lebendes im Zimmer als der alte Kater, dessen Feueraugen vom Gesims herabglühten. Sie waren auf etwas Totes gerichtet, ein blutender Leichnam, halb seiner Kleider beraubt, lag über der umgestürzten Bank. Ein klaffender Hieb über der Stirn war das Siegel, das keine sterbliche Hand wieder löst, das Siegel des Todes.
Warum steigen wir teilnahmlos über Hunderte von Leichen nach einer Schlacht, und warum durchbebt uns der blutende Anblick des einen, der getroffen daliegt von demselben Eisen wie die Ähren des Schlachtfeldes gemäht? Er hat das Leben so lieb gehabt wie die tausend Brüder, die Wunde hat ihn ebenso geschmerzt; er hat ebenso gedürstet. Eine stolze Wehmut hebt dort die Brust, hier durchschüttert uns Grauen und Entsetzen! Was stand unser Held, der nie gezittert, wenn er über Leichenberge stürmte, zitternd da und verbarg das Gesicht in seinen Händen? Es war sein Freund. Hätte eine Kugel ihn an seiner Seite niedergerissen, er würde ihm die Hand gedrückt haben, eine Träne hätte sich vielleicht durch die Wimpern gedrückt, aber der Ehrentod hätte alles anders gemacht, als es war. Aber der Chevalier war nicht im Schlaf ehrlos erwürgt worden; wie er dalag, zeigte, daß er sich verzweiflungsvoll verteidigt, ein bärtiger Sarmate, dessen Leiche er jetzt im Winkel entdeckte, sprach für seinen letzten Todesmut, die Kinder, die später aus ihrem Versteck zum Vorschein kamen, bestätigten es. Er war mit ihm unzufrieden gewesen, er gestand sich einen Augenblick – es war nicht ganz Schlaf – seinen Tod gewünscht zu haben! Und wie konnte er ihn doch jetzt so fürchterlich ergreifen, daß die Brust bebte, der Kopf zersprang, die Augen dunkel wurden, der Boden unter ihm wankte.
Einige Minuten saß er, vom Gefühl übermannt, auf der Bank. Es war etwas in der Zerstörung nicht zerstört – die hölzerne Wanduhr. Sie tickte wie am Abend vorher, wie vorm Kriege, wie vor fünfzig Jahren. Sie war ebenso ruhig gegangen, als sie sich hier mordeten, wie jetzt, wo der Einsame vor seinem eigenen Atemzuge erschrak. Der Tote konnte ja wieder aufleben. Die Zeit ist ein gefühlloser Zuschauer. Der Tote wurde nicht wieder lebendig, aber die aufsteigende Sonne drang tiefer in das Zimmer, eine Hirtenpfeife aus weiter Ferne weckte ihn. Da lag die Patrontasche des Kameraden, wohl das einzige, was die plündernden Kosaken zurückgelassen, und der Namenszug Fridericus Rex darauf glänzte ihm im Sonnenstrahl entgegen. Er sprang auf, er schüttelte die Träume, das gräßliche Bild ab, drückte dem Toten die Hand: »Vergib mir, der König ruft!« Mit zwei Knaben war auch die arme gute Frau herbeigekommen. Sie rang nicht die Hände und wünschte sich nicht verzweiflungsvoll den Tod, die Durchzüge hatten sie an derartige Auftritte gewöhnt. Ihr Mann war nicht getötet, nur von den Plünderern als Führer mitgeschleppt. Den Burschen hatten sie als Gefangenen, die Pferde als Beute mitgenommen. »Aber der Herr Offizier hatte zu grausam um sich geschlagen.«
Auskunft über den Richtweg nach Buchholz war das einzige, was Stephan von der Frau verlangte, er drückte ihr ein paar Goldstücke in die Hand, daß sie für den Toten sorge, und eilte in der bezeichneten Richtung fort.