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Die Tür, an die zu klopfen er gestern keinen Mut hatte, lag hinter ihm, auch der dunkle Flur; er war die Treppe hinaufgestiegen, er war durch die weißen Flügeltüren mit Goldleisten in das Putzzimmer getreten, einst so hoch und so geräumig, daß selbst die tätige Knabenphantasie Mühe hatte es zu bevölkern und auszuschmücken. Jetzt wartete er einsam in dem düsteren, altfränkischen, unwohnlichen Gemach auf die Ankunft des Herrn Inspektors. Der Dienstbote, der ihn gemeldet, war ihm fremd. Es war alles fremd und kalt. Die Scheiben blind, mit Spinnweben bezogen, schillerten in allen Regenbogenfarben, der Kalk bröckelte von den Wänden, die Posaunenengel am Plafond waren verstümmelt, angeschwärzt, und wo war das Auge der tätigen Hausfrau auf den Möbeln, den Dielen? Man hätte es nicht gemerkt, wenn der arme Gottlieb mit Schneefüßen aufgetreten wäre.
Warum lehnte er sich an den Kamin? Brauchte er der Unterstützung? Hatte er keinen Mut, dem Manne entgegenzublicken, der ja nicht mehr sein Vater war? Er hatte ihn sich vorgestellt wie damals, eine kräftige, starre Gestalt, einen Haustyrannen, vor dessen Blicken jung und alt ehrfurchtsscheu zusammenfuhr. Dem hätte er als preußischer Offizier ins Auge geblickt, er hätte sich gefreut, dem Trotze Trotz zu bieten; er hätte Lust empfunden, Rechenschaft zu fordern. Ach, nun war es ein schwacher, gebeugter Greis, verarmt, verlassen, und er hatte durch einen kostbaren Leichenstein das Andenken seiner Mutter geehrt, er hatte auf dem Leichenstein gesessen und geweint! Gegen den konnte er nicht als Mann auftreten; er wußte nicht, wie er ihn anreden sollte. Und war das nicht dasselbe Zimmer, wo die vornehmen Tanten und Cousinen und Onkel und Cousins, deutscher und französischer Zunge, auf Kanapees und Polsterstühlen gesessen, wo der Bruder Gottlieb vorgeführt, wo er gezüchtigt worden, am Geiste härter als am Leibe, und die vornehmen und die reichen Verwandten hatten keine Miene verzogen! Da stand er, da rückte er mit dem Ellbogen und die Montur saß ihm auf dem Leibe; den Fensterflügel sah er zum letztenmal an, als er kehrt machte, um nicht wieder über die Schwelle des elterlichen Hauses zu treten. Stand nicht dort noch das verblichene Kanapee, wo seine Mutter geweint und er und sein kleiner Bruder, das Gesicht auf ihrem Schoße, als es hieß, Gottlieb müsse ins Feld ziehen!
Die Tür ging auf, und der alte Mann, den er auf dem Kirchhof gesehen, trat ein. Er hustete und schielte gleichgültig zu dem Fremden auf, den er nicht erkannte. In dem Ton der Stimme lag noch etwas von dem deutschen Manne, der jedermann ohne Furcht ins Gesicht blickte und ohne Umschweife sagte, was er dachte,
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
Und wo blieb Etiennes Mut, warum konnte er nicht antworten, geradeaus, wie er gewollt, warum durchlief es ihn kalt und heiß, ehe er sprach. »Ich war sonst in diesem Hause nicht fremd. Sollten Sie mich nicht wiedererkennen?«
»Nein,« antwortete der Gefragte.
»Sollten meine Züge so ganz verlöscht sein?«
»Ich habe nicht Zeit, mein Herr, mich viel an alte Bekannte zu erinnern. Sie erinnern sich meiner auch nicht.«
»Doch, doch, ich war in diesem Hause als Kind – ich war –«
Etiennes stockende Sprache machte den Alten denn doch aufmerksam. Er sah ihn forschend an.
»Mein Taufname ist Etienne –«.
Wie hatte der Name auf den alten Advokaten gewirkt, wie auf die zarte Stephanie, wie lebte er noch bei der Tante Rätin; hatte er hier alle seine Wirkung verloren? – Nein, das konnte nicht sein Vater sein, der ihm einige Momente ins Gesicht blickte, und dann so tonlos wie vorhin sagte: »Sie verzeihen, mit den Jahren wird das Gesicht schwach – wie lange ist das nun auch schon her –«.
»Etienne heiß' ich,« fuhr der junge Mann auf, »ich war der Sohn hier vom Hause, hier lebte meine Mutter.« –
Der Alte winkte mit dem Kopfe und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Marquis, es sieht hier jetzt schlecht aus.« –
Vaterliebe hatte er nicht erwartet, Zorn vielleicht, Entrüstung, Überraschung, aber nicht diese Gleichgültigkeit. Wie eiskalt war der Boden unter seinen Füßen, der Frost drang erstarrend durch die Adern! So ganz verloren, so weggewischt, so weggeschwemmt hatte er nicht die Heimat gewähnt. Er hatte doch geglaubt, Hand in Hand mit dem Manne, der sein Vater gewesen, eine Träne um die Mutter weinen zu können. Was war der Krieg, der verwüstende, menschenmordende, mit seinen Brandfackeln und Mörderkeulen gegen den am Geist nagenden Wurmfraß der Jahre?
»Setzen Sie sich, Herr Marquis,« wiederholte der Inspektor und rückte einen Stuhl heran. – Sie saßen sich gegenüber.
»Es ist eine schlimme Zeit heuer, Teuerung und Not – das sieht hier anders aus als sonst. Ich danke Ihnen, daß Sie die Gefälligkeit gehabt haben, mich zu besuchen! – Es kommt sonst niemand mehr zu mir.«
»Niemand! – Wo sind die Verwandten?«
Der Inspektor zuckte die Achseln. »In der langen Friedenszeit von Anno 45 bis 57 schleppte es so hin, allein der Krieg, der lange Krieg! – Wie die Kunden abnahmen von der Fabrik, nahm's auch mit den Bekanntschaften ab. Dann kam das schwere Jahr 59; ja wer das überstanden hätte! Es sind schlimme Zeiten, es hätte aber noch schlimmer kommen mögen.«
»Unglücklicher Mann!« rief Etienne aus.
»Und Krankheit kam dann auch hinzu, schlechte Menschen. Man soll sich auf niemand verlassen. Der Mensch kann viel vertragen, aber wenn die auch schlecht werden, auf die man ganz vertraut hatte. – Ja, es gibt schlechte Menschen!«
»Und der Krieg räumt so viele weg!« rief Etienne aufspringend. Es duldete ihn nicht mehr; war es die Gleichgültigkeit des alten Schmerzes, oder daß er sich entsann, wie er all den hochmütigen Tanten und Cousinen hier in demselben Zimmer die Hand hatte küssen müssen, wo sie jetzt den alten verarmten Mann seinem Unglück überließen! O er hätte ihn zur Rede stellen können im Ingrimm der Erinnerung, daß er ihn damals zwang. Hatte er es nicht vorausgefühlt, daß die knechtische Ehrfurcht vor der reichen Familie niemals Zinsen tragen könnte! Es war ihm als müsse er dem alten Manne das noch jetzt vorwerfen, noch jetzt ihn fragen: »Warum hast du auf die Familie alles gebaut?«
»Wie gesagt, Herr Marquis,« setzte dieser hinzu, »ich schätze es mir zur Ehre, daß Sie mich alten Mann in meiner schlechten Wohnung aufgesucht haben. Etwas später und es wäre auch zu spät gekommen. Nun, Sie sind noch jung, sehen munter in die Welt hinein, mit mir geht's Schritt vor Schritt zur Grube. – Sie sind wohl mit den Kaiserlichen hier?« –
»Ich bin Offizier im Dienst des großen Königs,« entgegnete Etienne.
Es war, als überkäme eine Erinnerung den Mann, die ihn doch auch kalt ließ: »So, so – das ist brav von Ihnen, daß Sie Preußen nicht ganz vergessen haben. Kann ich Ihnen mit etwas dienen?«
Die Empfindung, die hier nicht war, gestorben schon oder verleugnet, zitterte auf den Lippen des jüngeren Mannes mit aller Heftigkeit, als er, die Hand des Alten ergreifend, antwortete: »Ich danke Ihnen, was Sie an meiner Mutter getan – ich sah ihren Leichenstein.«
Der Inspektor wandte sich ab und eine Bewegung seiner Hand hieß den, der jetzt ein Fremder im Hause war, schweigen: »Sie schläft in Frieden! Es war eine brave Frau. Es lebte keine zweite wie sie.«
»Stehen Sie mir Rede. Wie waren ihre letzten Tage?«
»Es tut nicht gut, zu viel an Vergangenes zu denken.«
»Ich sah sie nicht wieder – seit ich aus dem Hause kam.«
»Ich bin nicht daran schuld!« sagte der alte Mann. »Das machen Sie ab mit dem Herrn Marquis, der für alles seine Gründe hatte.«
»Der Marquis, mein Gott, ist er hier?«
Welche Last von Fragen schwebte auf der Zunge des Offiziers. Die Lippen hielten sie zurück, es war immer zu früh; die eine Frage war zu gewichtig, der Moment nicht passend. Er suchte nach einer Annäherung, einer Vorbereitung für sich selbst. Die Frage verwandelte sich zehnfach von der ersten Fassung, bis sie über die Lippen kam, und da war sie etwas Gleichgültiges:
»Der Marquis war hier und Sie in Not und Elend!«
Der Inspektor zuckte die Achseln.
»Spendete der reiche Mann Ihnen nicht mit vollen Händen?«
»Es wäre unbescheiden gewesen, noch mehr vom Herrn Marquis zu fordern.«
»Fordern! Sah er denn nicht mit eigenen Augen, gab er nicht freiwillig? Er ist nicht geizig.«
»Er war selbst nicht bei Gelde.«
»Der Marquis von Cabanis?«
»Wohnte bei seinem Aufenthalt im vierten Stock in einer Bodenkammer. Sie äußerten jeden Taler schwer zu missen.«
»Eine neue Grille. – Sah er meine Mutter?«
»Sie starb in seinen Armen.« –
»Und er konnte – elender Gedanke an Geld! Sie starb in seinen Armen, und sie hat – ihm vergeben?«
Der Alte blickte gen Himmel. »Sie trug niemand etwas nach, sie hat keinem Menschen jemals gezürnt. Was über sie kam, kam von dem, von dem alle gute und vollkommene Gabe ausgeht. Sie war zu gut für diese Welt, sie hatte keinen Willen, keine Laune, nicht einmal einen Wunsch, – sie war ganz Ergebung.«
»Keinen Wunsch, alter Mann!« unterbrach ihn heftig Etienne. »Wünschte sie nicht, daß ich zurückkehrte, hat sie mir kein Erbteil hinterlassen: keinen Seufzer, keinen Fluch? O sprechen Sie, ich finde keinen Menschen sonst in der Welt, der mir Nachricht gibt, wie sie meine Flucht ertrug, ob es die beste Mutter niederwarf in Sorge und Verzweiflung, ob ich es war, mein kindischer Leichtsinn, mein sträfliches Ausbleiben, die ihre Jahre verkürzten.« –
»Lassen Sie das, wir haben alle an der Schuld zu tragen.«
»Sie hatte mich vor allen geliebt, es durfte ihr Herz brechen.«
»Nein, mein Herr, wenn Sie von damals sprechen; sie war am folgenden Tage schon getröstet und beruhigt. Der Herr Marquis kam zu rechter Zeit und sie ergab sich darein, daß Ihre Erziehung ihr hinführo nicht mehr zu lassen sei.«
»Er war ein grausamer Mann! – Und soll ich nichts mehr von ihren letzten Augenblicken erfahren?«
»Der Herr Marquis wird Ihnen darüber berichten können. Drei Tage lang verließ er nicht ihr Krankenbett.«
»Wirklich! Und Ihnen hinterließ sie kein Zeichen, keinen letzten Gruß für mich.« –
Der alte Mann strich sich über die Stirn: »Doch – doch – Sie verzeihen mir, ich habe an so viel anderes zu denken, daß ich das bald vergessen. Sie schrieb Ihnen viele Briefe.«
»Mensch, und du zauderst einen Augenblick. Her damit.«
»Die Briefe hat der Herr Marquis mitgenommen.«
»Alle?«
»Nein – ich entsinne mich – einen, den letzten, gab sie mir, ich sollte ihn für Sie bestellen. – Ich wußte ja nicht wo Sie waren. Wer konnte auch jetzt daran denken!«
»Her damit!«
»Ich werde Ihnen denselben holen.«
Etienne wollte ihm folgen: »Nein, mein Herr, wo ich hingehe, da ist nicht Ihres Bleibens. Ich habe noch ein Päckchen Sorge apart zu tragen. – Es ist ein Kranker, ein Verwundeter, er hat nicht mehr lange zu leben, nicht mal so lange als sein Vater. Für ihn hat die Welt auch nichts mehr, keine Leiden und keine Freuden; den lassen Sie mir allein. Ich bin bald wieder hier.«
Er ging. Wie reich waren diese Tage in der Vaterstadt; jede Stunde Erlebtes, wog es nicht die Lebensfrüchte einförmiger Jahre auf! Wer anders als Gottlieb lag in der Kammer und es drängte ihn nicht zu dem sterbenden Bruder, er sprengte nicht die Türen des Krankenzimmers, wie er die des Kerkers gesprengt hatte! Auf den Schwingen seiner Seele wogten so mächtige Eindrücke, so viel Erwartung, Spannung, daß, was er bis dahin sein Höchstes glaubte, selbst der Gedanke an Friedrich, heut noch keinen Raum gefunden!
Die Tür öffnete sich wieder, aber nicht der Vater, sondern der Doktor Zierlein trat heraus. Er kicherte etwas und wies mit der Stockspitze schon von der Schwelle auf unseren Helden:
» Salve, salve! – Haben erfahren! – O, wir kennen uns noch ganz gut. Sind etwas in die Höhe geschossen, braun geworden, das geniert nicht den alten Zierlein. – Salve, salve, mi domine! Wissen wir noch, wie wir dazumal am Laternenpfahl anliefen und uns das Ohr schunden? Da war Heulen und Zähneklappern und Mama selig dachte nicht anders, als das liebe Kind müßte trepaniert werden. Ja, so sind die Mütter, denken, die Medizin muß immer Zucker sein. – Haben uns in der Welt nun was versucht. Sind nun angelaufen, nicht an Laternenpfähle, nein, an Mauerecken, Stein, Fels, Schanzkörbe, Kanonen, Schädel, Wälle und Leitern, und da haben die Mama nicht geschrien, wenn das Ohrläppchen blutete, und der alte Zierlein hat nicht warme Umschläge auflegen müssen, und das Rouleau ist nicht heruntergelassen worden, daß den armen Jungen das Licht nicht blendete. Vorwärts hat es geheißen, en avant, rühre dich, tummle dich! Puff, paff, puff! Ich kenne das. Umschläge hat es gegeben nicht von Batist, sondern von Flintenkolben, keinen Kamillentee und Hafergrütze, sondern Schnaps; tut auch seine Dienste, salve, salve, mi domine, mein Herr Obristleutnant? oder noch Unterleutnant? Tut nichts, tut nichts, wenn nur der Leutnant dabei ist.«
Etienne drückte dem alten Manne die Hand: »Leutnant, lieber Doktor, aber still, still, daß man's nicht hört.«
»Still, mäuschenstill! Pfui, wer wollte plaudern, junge Leute und ein alter Doktor haben oft was Geheimes miteinander, die müssen sich verstehen, die Papas und Mamas brauchen nicht alles zu wissen. Dafür ist der alte Zierlein. Wie steht's denn mit uns? He! Essen wir noch so gern Haselnüsse? Meinten sonst, die Haselnüsse kämen aus der Hasenheide! He! he! he! Jetzt wissen wir wohl auch, wo der Storch die Kinder holt. Ja, ja, aus Kindern werden Leute. Mich schert das nicht, ich bin der alte Zierlein, und, will's Gott, bin ich's noch nach zwanzig Jahren in Schnee und Eis, in Sommerbrand, Reif und Regen, um Mittag und Mitternacht, allzeit auf den Beinen, Medikus und semper idem.«
»Sie sind hier ein redlicher und treuer Hausfreund geblieben.«
»Mache die Moden nicht mit.«
»Sie waren beim Unglück des Hauses?«
»Selbst verloren dabei, tut nichts. Mancherlei Medikamina schlagen falsch an.«
»Trat denn kein Vermittler auf zwischen dem Hausherrn und den Gläubigern?«
»Pfui über die Vermittler! Die Gelbhaut, der Schlipalius! Advokate! sagte ich ihm oftmals, via tua non est in luce, sed in tenebris. Er hat's bis Spandau gebracht.«
»Wie kam das?«
»Als der höchstselige König Fridericus Wilhelmus gestorben, welcher denen Advokaten so in die Finger geschaut, daß sie ihnen weh taten, meinte mein Schlipalius, er könne sich nun verpusten und nachholen, was er versäumt hatte, und derweil König Fridericus, der andere, in Schlesien sein Auge hatte, hatte er sein Auge beim Testament einer alten Jungfer. Bemeldete Jungfer starb, und mein Schlipalius war Universalerbe. Zu Papier stand's so, allein Magistratus sah meinem Schlipalius hinwiederum in die Finger, und die Finger waren schwarz von Tinte und just von derselben Tinte, womit bemeldetes Jungferntestament geschrieben. Weiß nicht, ob's evident geworden, Magistratus meinte aber, er solle sich ein paar Jahr die Hände waschen und schickte ihn derohalben nach Spandau, wo es viel Wasser hat.«
»Und doch traute ihm noch mein Vater?«
» Coecus bedeutet auf lateinisch, mein lieber Junge, blind, der Franzos sagt aveugle. Bin kein Augenarzt, hätte sonst dem Herrn Papa den Star gestochen. Ja! Selig sind, die da nicht sehen und doch glauben, in der Bibel, aber nicht bei Fabrikgeschäften. Wer nicht hören will, muß fühlen. Papa hatten immer Vertrauen auf den redlichen Mann, ließen ihn alles arrangieren, ja er arrangierte auch, bis er alle Forderungen an sich hatte um ein Spottgeld. Nun trat er auf und sprach: quid nunc, mi domine?«
»Der Schuft. Die Gerechtigkeit hat ihn ereilt.«
»Habe von gehört. Eine Apoplexia in flagranti! Ein Rattenpulver ein paar Jahr vorher statt der Latwerge hätte besser gewirkt. De mortuis nil nisi bene; ja, das läßt sich auch so!«
»Und wie steht es hier im Haus?«
»Schlimm.«
»Sehr schlimm?«
»Sehr schlimm.«
»Könnte ihm vorderhand mit hundert Dukaten geholfen werden?«
Der Arzt sah ihn fragend an. »Für den Tod ist kein Kraut gewachsen.«
»Tod?« Etienne blickte den Mann mit der unbeweglichen, immer freundlichen Physiognomie an. Sie hatten sich mißverstanden.
»Der Tod ist ein reißendes Tier, mein junger domine, er ist ein schleichender Wurm, der wie eine kriechende Schlange in die Fersen sticht, er schwimmt wie ein Haifisch im Wasser und schießt wie ein Raubvogel durch die Luft; vor ihm ist keine Sicherheit in Luft, Wasser, Erde, im Feuer am allerwenigsten. Doktor, flick zusammen! heißt's; ja, flicke du, solange es zu flicken gibt. Salben sind kein Blut, Pflaster keine Haut, Gras stopft nicht das Loch, wo die Kugel durchgegangen, Flick, flick! Wir sind alle nur Flickwerk; gehen die Nähte auseinander, wo schafft man neue her. Der alte Zierlein hat geflickt, aber dem Klapperbein schneidet er keine Nase aus Taubenfleisch und kein Bruchstück aus einem Rehziemer. Klapperbein will auch sein Recht haben, und gewinnt auf die letzt jeden Prozeß, ob's heißt, Klapperbein contra Doktor Zierlein, ob vorm Magistrat oder vorm Kammergericht, eximiert oder nicht, egal, und der Verklagte zahlt allemal die Kosten.«
»Gottlieb Bohm!« seufzte Etienne.
»Ja, hat lange genug mit ihm prozessiert und kam immer noch mit blauem Auge durch. Als er von dem Strick runterfiel, wo er zu dem Judenmädchen reinklettern wollte, potz Element, da hatte ihn der Sensenmann schon so am Schopf, daß der alte Zierlein drei Tage schneiden mußte, allein nur um den Knochenarm durchzukriegen, mit dem er ihm die Kehle zuschnürte.«
»Riß der Strick?«
»Weiß nicht. Die Sache kam nicht ins klare. Der alte Sußmann kam ins Haus gelaufen und es wurde viel lamentiert und konferiert und die Sache vertuscht. Aber das Judenmädchen wird den Strick nicht durchgeschnitten haben. So viel wissen wir auch. Der Gottlieb war ein schmucker Junge seinerzeit. Es reißt alles, warum nicht auch ein Strick, wenn er lange gedient hat!«
»Das arme Mädchen, was wurde aus ihr?«
»Blieb kein armes Mädchen. Sie ward auch in kein Kloster geschickt, sondern nach Hamburg, und hat einen Mann gekriegt, einen Mann mit dreimalhunderttausend Mark und elf Kinder. O, unsere Leute verstehen den Schacher. Es ist nichts so schadhaft, was sie nicht noch anbringen mit Profit.«
»Und Gottlieb?«
»Kriegte, was er verdient. Als er kuriert war, hieß es abermals: raus. War in gratia wieder halb angenommen gewesen, allein propter novum delictum mit disgratia hinausgeworfen; fing die Historia vom verlorenen Sohn von vorn an. Wurde exkommuniziert, exorziert, gedroht mit dem Zuchthaus, und mußte wieder in die enge Jacke hineinspazieren. Da hat er oft genug mit dem grimmigen Knochenmann gewalzt, aber allerwegen war er noch stärker, bis ihm denn auf die letzt das Blei zu heiß wurde. Nun lamentiert der alte Vater. Das hätte er früher tun sollen. Er hat's auch wohl getan im stillen. Das hört niemand und der Tod am allerwenigsten, der ist harthörig.«
»Eine Kugel traf ihn?«
»Eine! Wäre zu wenig für einen, der eine harte Haut für derlei hat. Er ist ordentlich durchlöchert.«
»Bei der Verteidigung von Berlin?«
»Da kommt der Vater, der kann was von erzählen, wenn er Lust hat. Der Gottlieb war ein braver Bursche geworden, hätte nicht nötig gehabt, sich um ihn zu schämen, wenn die Furcht Gottes ihm ins rechte Ohr wär eingetrichtert worden.«
Der alte Mann blieb auf der Schwelle stehen und winkte dem Offizier.
»Darf ich nicht mit?« fragte der Doktor.
»Gottlieb verlangt nach dem fremden Herrn, lieber Doktor, und er hat nicht mehr viel zu sprechen.«
»Verstehe, verstehe. Der Offizier ist der Beichtvater seiner Kompagnie. Der Doktor muß aber dabei sein, um zu sagen: hic est finis!«
Der Inspektor führte Etienne durch ein Nebenzimmer in die halbdunkle Krankenstube. Der Doktor folgte; behutsam schloß der Vater hinter ihm die Tür, daß kein Luftzug eindringe oder kein Lauscherblick sein schmerzliches Geheimnis verrate. Dann stellte er sich mit gefalteten Händen neben dem Krankenbette hin. Die großen Augen des darin Liegenden waren aber allein auf Etienne gerichtet. Das dunkle Braun der Gesichtsfarbe war einem halben Gelb gewichen. Die Lippen bewegten sich, aber er konnte noch nicht sprechen. Der Doktor träufelte ihm eine Tinktur ein.
»Du bist verwundet, Gottlieb?« fragte Etienne und hielt ihm die Hand hin.
Der Kranke nickte, aber die Lebensgeister seines Vaters schienen mit einmal zu erwachen, ein flüchtiges Rot lagerte auf dem abgemagerten Gesicht, die eingefallenen Augen glänzten, und indem er sich am Kopfende hinsetzte, gestützt auf dem Kissen, sprach er mit einer Wärme, einem Redefluß, den niemand nach dem Bilde von vorhin erwarten durfte:
»Ob du verwundet bist, Gottlieb! fragen sie. Zeige doch deinen Leib, den Fleck, wo keine Kugel streifte und kein Säbelhieb saß! Dir hätten sie können goldene Berge versprechen, dich zum hohen Offizier machen, und sie hätten dich doch nicht zum Schelm gemacht. Du wärst nicht rüber gegangen zu den Feinden und wenn du dein Leben lang bei uns Gemeiner bliebst. Verwundet wurdest du freilich, denn wo Gefahr war, krochst du nicht hinter den Busch, sondern warst der erste drauf. Gefangen warst du und die Kugel stand aufs Fortlaufen, aber du ranzioniertest dich und verkleidetest dich nicht; in deines Königs Montur liefst du Tag und Nacht bis Berlin und hast hier mit ausgehalten, wo's am heißesten war. – Ja, da standen wir beide an einer Schanze, Vater und Sohn, und schworen noch einmal auf die Degenspitze des alten Feldmarschalls Lehwald, Treue unserem König. Wenn alle so gestanden hätten wie du, mein Gottlieb, dann sähe es anders um Berlin aus, dann preßten sie keine Kontributionen, die Österreicher zögen nicht den Bürgern das Hemd über den Leib und sie plünderten nicht des Königs Residenz. Du bist kein schlechter Soldat gewesen, der Feldherr von achtzig Jahren, der nur drei Haare noch auf dem Kopf und drei Schritte zum Grabe hatte, klopfte dir auf die Schulter und sagte: ›Brav geschossen, mein junger Bursche, wie heißt du?‹ Sieh, Gottlieb, und das können, das sollen alle wissen, das soll dein himmlischer Vater selbst hören, da, in dem Augenblicke, wo das der alte Feldmarschall Lehwald zu dir sprach, habe ich dir alles vergeben und vergessen, was du mir je im Leben angetan, ich hab's dir in der Seele abgebeten, wenn ich zu hart gegen dich war. Weiß Gott, ich hab's immer nur dir zuliebe getan, allein ich wußte ja nicht, als ich dich schlug, daß du mal so brav werden würdest.«
Des Kranken Augen glänzten wieder etwas.
»Gottlieb, kennst du mich nicht mehr?« sprach Etienne. Der Angeredete hatte seine Kräfte gesammelt:
»Ach, Herr Leutnant, ich meinte, Sie sollten mich anders wiedersehen.«
»Ich bin noch dein Bruder, ich bin wieder dein Bruder, Gottlieb.«
»Und niemand braucht sich dein zu schämen,« fuhr der alte Inspektor auf. »Wenn Seine Majestät zurückkehren, will ich selbst um Audienz bitten und vor ihn hintreten und sagen, was der alte Feldmarschall zu mir gesagt hat. Und wenn du zehnmal gegen die Subordination gefehlt, was du hier getan hast, macht es wieder gut. Wenn's auch niemand mit Augen gesehen hat, der König wird es doch einem alten Vater glauben; o, er müßte ja kein Mensch sein, wenn ich ihm erzähle, wie du dich mit zehn herumgeschlagen, und, deinen König in der Brust, nicht um einen Schritt gewichen bist. Ja, ja, Herr Marquis, glauben Sie es mir nur, ich bin stolz auf meinen Sohn, ich bin sehr stolz auf ihn, und wenn ich noch einen Taler in der Tasche habe, will ich ihm einen Denkstein setzen lassen, denn mein Sohn hat für das Vaterland gefochten und für das Vaterland ist er verblutet.«
Man wußte nicht, ob dieser Eifer des alten Mannes, so ungewöhnlich bei seinem Charakter, mehr aus wirklicher Begeisterung entsprang oder aus einem Gefühl der Reue um etwas, das er nicht wieder gut machen konnte, und das ihn aus den sterbenden Zügen des verwundeten Sohnes mahnte.
»Nur nicht gefangen werden,« sprach Gottlieb, die Augen auf den Bruder gerichtet.
»Sei unbekümmert. Sie werden hier nicht eindringen. Die Plünderung hat aufgehört, man spricht davon, daß sie abziehen.«
»Ha, könnt' ich nach! – Doktor, gib mir die Muskete.«
Der Arzt zuckte die Achseln und blickte den Offizier mit Bedeutung an.
»Die Muskete, Doktor,« fuhr der Kranke fort und seine Augen rollten, er warf den Arm auf dem Deckbette rechts und links.
»Mein Bruder Gottlieb, du bist noch zu schwach, um die Muskete zu führen.«
»Ich bin nicht schwach,« erhielt er zur Antwort, »ich habe zwei Husaren aus dem Sattel geworfen. – Wetter, wie sie flogen!«
»Damals, allein jetzt; du wirst wieder stark werden.«
»Bist du wieder bei den Kaiserlichen?«
»Ich bin ein guter Preuße, lieber Gottlieb, ich habe wie du meinem König geschworen, ich bin auch, wie du, durch die Feinde hergeschlichen. Sie greifen mich, wenn sie mich auf der Straße sehen mit dem preußischen Rocke. Darum komme ich hier zu dir, in die dunkle Stube, ich will mich bei dir verstecken, wir wollen abwarten, bis unsere Freunde kommen, bis die preußische Trommel draußen schlägt. Stille, um Himmelswillen, stille, lieber Gottlieb, sonst verrätst du deinen Bruder.«
Der Kranke fixierte ihn mit seinen gläsernen Augen. Als erkenne er ihn jetzt erst, faßte er seinen Arm mit der Stärke des Fieberkranken und griff nach seinen Schultern, als wolle er ihn an seine Brust ziehen: »Stille, stille!« wiederholte er feierlich. »Stille, stille, ich habe dir was zu sagen.«
Er winkte den anderen mit der Hand. Der Doktor sah den Inspektor an, der Inspektor wollte nicht gehen. Er zählte das Leben seines einzigen Sohnes nach Sekunden, und ein Fremder sollte ihm noch davon rauben! Aber der Fremde stand so tief gerührt neben dem Bette, er hielt den Arm um den Leib des Kranken, er nannte ihn Bruder, die Träne stand in seinem schönen Jünglingsauge, und Gottlieb wiederholte ängstlich seine Weisung.
Etienne stand allein am Krankenlager, seine Hand gepreßt von beiden feuchten Händen des Bruders; die großen Augen desselben ließen keinen Blick, keine Miene, keinen Atemzug des glücklichen Bruders außer acht. Die Lippen umschwebte ein wehmütiges Lächeln, als er diese Hand jetzt an die Brust drückte.
»Sagt' ich's nicht, du verläßt mich nicht! Du wirst nicht dulden, daß sie mich binden, mich ausliefern, mich einsperren, mich peitschen.«
»Niemals, Gottlieb.«
»Ach, ein so vornehmer Herr, – ich bin nicht mal Gefreiter, ich habe aber keinen Kameraden hier, der alte Vater versteht's auch nicht, und es ist auch mein treuester Freund, er hat mich nie verlassen.«
»Wer ist das?«
»Ich lasse Sie nicht los, beim Himmel, ich lasse die Hand nicht los, und wenn mir in den Fingern der Tod sitzt, bis Sie's mir versprochen haben.«
»Was soll ich dir versprechen?«
»Daß Sie ihn zu sich nehmen wollen.«
»Wen?«
»Ihn gut halten, als wenn er Ihnen das Leben gerettet.«
»Deinen Freund?«
»Es ist ja nur mein Hund. Daß ihn nicht die Scharfrichterknechte fortschleppen, oder die Österreicher mitnehmen, oder die häßlichen Milchweiber vorspannen vor ihren Karren. Ich ertrüg's nicht im Grabe. Es war ein Tier, so gut wie ein Mensch. Lieber Herr Leutnant, Bruder, das können Sie mir schon zu Gefallen tun. Er kostet Ihnen nichts; o er ist schlau und sucht sich selbst sein Essen.«
»Lieber Gottlieb, um den Hund trage keine Sorge.«
»Sie wollen –«
»Von Herzen gern.«
»Er läuft Ihnen wie Ihr bestes Pferd; wenn Sie ihm sagen: Kusch! rührt er sich nicht wie eine Leiche, er wacht, wenn Sie schlafen, und tausend Schritt weit im Felde, wenn Patrouillen kommen, spitzt er die Ohren – schwimmen kann er – Tiras, Tiras.«
Der Hund, der wirklich so still unter dem Bett gelegen, daß man ihn nicht bemerkte, war mit einem Satze auf demselben und drückte seinen Kopf in der Hast der Freude tausendmal an Arm und Brust des Herrn, welcher in einer Sprache, die Etienne nicht verstand, mit ihm ein langes Gespräch führte. Beide Wesen schienen so völlig sich zu verstehen, und Gottlieb, eben wie sein Hund über den Herrn alles im Zimmer übersah und nicht sah, nur für den Hund zu leben. Ihre Augen sahen sich an wie zwei Geliebte, die nach einer langen Trennung ein kurzes Wiedersehen feiern. Fröhliche Wesen, die auch in dem Moment der Tiefe des Schmerzes sich keine Sprache gönnen, sie wollen sich nichts anderes sein in dem kurzen geschenkten Augenblicke, als sie sich sonst waren, nicht eine fremde Empfindung anlügen. Sie neckten sich, stellten sich feind, kämpften, der Herr schlug, der Hund biß und Gottliebs Augen glänzten immer mehr.
»Laß das sein, Gottlieb, es greift dich an.« Der Kranke hörte nicht.
»Ja Gottlieb mußt du ihn heißen. Das versprich mir noch, die schöne Gräfin hat ihn auch so genannt.«
»Ich gelobe dir, ich will ihn halten wie meinen Bruder, doch laß ihn jetzt.«
»Die schöne Gräfin war ihm auch gut. Sie ließ ihn den Kopf auf ihren Schoß legen, so streichelte sie ihn. Ja, ich sah einmal, eine Träne fiel auf das Tier, der Schelm ist nur so verwöhnt von ihr. Wollte erst mein Kommißbrot nicht fressen, wollte allezeit Braten und Markknochen. – Warte nur, das gewöhnten wir ihm ab. Aß denn sein Herr Braten? Höre, du mußt ihn Gottlieb nennen, und die Gräfin, wenn sie deine Frau ist, wird ihn nicht an die Kette legen lassen.«
»Alles versprech' ich dir. Er soll auch Gottlieb heißen –«
»Und dein Bruder sein. Er war mein Bruder, ich war kein besserer Bruder. Treu ist er, treu wie einer, so bin ich auch, weiß Gott, ich war treu – ich habe nichts gelernt, aber treu war ich –«
Mit Gewalt hielt ihn Etienne vom weiteren Sprechen ab, jedes Wort atmete Fieberzuckungen, die keine Kraft haben, sich noch mehr zu steigern. Stumm, mit heftigen Gebärden, mit ängstlichen Blicken, daß er verstanden werde, überwies er den Hund seinem neuen Herrn. Der Hund wollte es noch nicht begreifen, er kehrte immer wieder zum alten zurück und dessen Heftigkeit ging in Wut über. Sie wurde so grauenhaft, daß Etienne besorgt um Beistand rief.
»Laß sie nur kommen,« schrie der Kranke, als die Tür aufging, »alle kommen, ich habe es schon mit mehr aufgenommen. – Hallo, Tiras! Zu – drauf –«
Als der Inspektor mit dem Arzt zur Tür hereinstürzten, hatte sich der Verwundete, dessen Fieberkräfte dem Bruder zu stark geworden, im Bette aufgerichtet und stand mit grimmigen Gebärden wie ein Fechter, der einen Angriff erwartet. Der Zufall wollte, daß in dem nämlichen Augenblick eine österreichische Kompagnie durch die Straße marschierte. Gingen die Fenster des Krankenzimmers gleich nach dem Hofe hinaus, so drang doch der Schall ihrer Trommeln und die wohlbekannte Marschweise durch die offenen Türen laut in die Ohren des Kranken.
»Heran! – Ich bin ein Preuße,« schrie er. »Nur heran, ich will euch weisen, wie man mit Kolben schlug bei Roßbach, wie man bei Leuthen drosch – spielt auf – pfeift zu den Trommeln – hallo, ich will auch aufspielen – heran, Friedrich kommt! Heran!«
Die drei Anwesenden waren im Augenblick in der Anstrengung vereinigt, den Verwundeten zum Schweigen und auf das Bett zurückzubringen. Allein der Paroxismus hatte den höchsten Grad erreicht und die Tollheit des Unglücklichen fand im blinden Eifer des Hundes einen Beistand. Während Etienne diesen beschwichtigen mußte, vermochten die Anstrengungen der beiden Greise nichts gegen den Rasenden.
»Binden mich! Fangen mich!« schrie er, und der Trommelwirbel draußen vibrierte in seinen Worten. »Mich fängt man nicht. Da die Depeschen! Bruder, fang sie – Friedrich kommt! – Platz vor der Brücke! Hallo, mein Tier, wir schwimmen durch.«
Erst schleuderte er etwas, was er auf der Brust auch in der Bewußtlosigkeit des Fiebers bewahrt, über die Köpfe fort, – es war eine Brieftasche, – dann mit einem wilden Satze sprang er selbst, die beiden Alten zurückstoßend, weit aus dem Bette. »Viktoria!« war sein letztes Wort und er sank auf den Boden. Die Fieberkraft, die ihn vorhin fähig gemacht hätte, Eisenketten zu sprengen, war verschwunden, blutend an den aufgegangenen Wunden lag er röchelnd auf der Diele, und die drei Männer trugen den Widerstandslosen auf sein Lager zurück.
»Mein Sohn, mein Sohn!« wimmerte der Alte, »noch nicht, nur jetzt noch nicht. O vergib mir, vergib mir, was ich an dir gesündigt. Ich meinte es gut, klage mich nicht an. Jeder Schlag auf deinen Rücken traf deinen Vater dreifach. Ich wollte dich zwingen, ein rechtschaffener Mensch zu werden. O mein Gottlieb, ich habe dich mehr geliebt, als ein Vater ein Kind lieben soll; nur darum war ich so unbarmherzig. Schließ noch einmal auf deine Augen, sprich noch einmal, höre mich noch einmal – ich hatte ja ein Herz für dich. Deine Mutter, in ihrer Sterbestunde band sie dich mir auf die Seele. Da gelobte ich mir die Strenge, die auf keine Bitten hört – der allmächtige Gott hört auch auf Bitten, er ist gnädig – hab' ich gefehlt, gesündigt, stirbst du an meiner Herzenshärtigkeit, glaub' es nicht, es war weich wie Wachs für dich. Ich habe geirrt, ich wollte gerecht sein, und was ist die Gerechtigkeit des schwachen Menschen! Der Allwissende wird fürsprechen für mich bei dir. Stirb nur jetzt noch nicht, bis du mich angesehen.«
Das war leise hingemurmelt, das Gesicht des alten Mannes ruhte auf der Brust des Sterbenden. Der Doktor war an ein altes Positiv im Winkel getreten und spielte mit leisem Druck den Dessauer Marsch. Hörte Gottlieb die Worte des Vaters oder die Melodie, etwas mußte er hören, er schlug die Augen auf und ein wehmütiges Lächeln schwebte um seine Lippen. Etienne trat an ihn heran und faßte teilnehmend seine Hand: »Dein König wird doch noch triumphieren,« sprach er ihm in festem Tone zu, und als sollten die Worte eine sinnliche Versicherung von außerhalb gewinnen, in dem Augenblick drang ein heller Sonnenstrahl durch die Fensterladen in das dunkle Zimmer. Er fiel quer über das Bett und beleuchtete die Züge des Sterbenden. Die letzten Blicke desselben schienen auf dem Gesicht des Inspektors zu ruhen. Nach einigen Minuten winkte der Doktor dem Offizier und zu dem knienden Vater sprach er: »Den trifft kein Unglück mehr.«
»Er hat vergeben,« flüsterte Etienne in das Ohr des noch regungslos über der Leiche Knienden.
Eine Viertelstunde mochte vergangen sein, wo die drei Lebenden stumm vor sich gebückt auf Stühlen gesessen. Der Inspektor stand zuerst auf.
»Wie ist's mit uns, alter Freund?« sprach der Doktor in einem Tone, der wenig von seinem gewöhnlichen abwich.
»Ich bin nun allein,« sagte der Vater. Die Stimme war fester als vorhin.
Etienne sprach etwas leise mit dem Doktor, er ließ seine Geldbörse ihm in die Hand gleiten. »Er wird zurechtkommen,« antwortete der Arzt, »sein letztes hat er auf den schönen Marmorstein vor dem Halleschen Tore verwendet, und was ihm noch blieb, duldete er nicht im Hause, es mußte hinaus auf die Straße, als Hülsens Korps uns zu Hilfe kam. O er ist ein Patriot, der Alte.«
»So bleibt ihm doch etwas.«
Sie waren in das Vorderzimmer getreten. Nicht mehr so gebückt, so gebrechlich wie vorhin schien der Inspektor, als er ihnen nachkam und die Tür hinter sich schloß. Er sah sie schweigend an, als warte er, daß sie Abschied nehmen würden, und durch neue Reden fürchtete er den Aufbruch zu verzögern.
»Alter Freund,« sagte der Doktor, »was nun?«
»Meinen Dank für Ihre Dienste, die Dienste sind nun aus.«
»Oho, Inspektor, mir entgeht man nicht. Wir sehen uns noch. Mußt auch noch mal Patient werden, bis du deinen letzten Gang antrittst.«
»Ich danke Ihnen, Herr Marquis, für Ihre Assistenz und will es nicht vergessen,« sprach er und verbeugte sich. »Steht noch sonst was Ihnen zu Diensten?«
»Doch – Sie vergaßen –«
»Ich habe nichts vergessen!«
»Der Brief meiner Mutter.«
»Richtig. Sie verzeihen.«
Er holte aus dem Wandschrank einen Brief. Sein Lebensrätsel ruhte verschlossen in Etiennes Hand.
»O nicht hier, Herr Marquis,« sprach der Alte, als Etienne ans Fenster treten wollte, »nicht hier! Es ist ein Leichenhaus. Mein Sohn und ich, da ist Schmerz genug in dem öden Hause. Es hat kein anderer Platz. Leben Sie wohl – glückliche Reise. Hier ist nichts mehr zu suchen, und das Haus ist noch mein, so lange ich lebe. Glückliche Reise, glückliche Reise.«