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Gefahr in der Dschungel

Aus verschiedenen Anzeichen schloß ich, daß ich mich an der Indusmündung befinden mußte oder irgendwo in ihrer Nähe. Gemächlich kreuzte ich nach Norden. Als ich wieder einmal an einer Eingeborenensiedlung landete, sah ich inmitten der Schilfhütten ein steinernes Haus stehen.

Was soll denn das sein?« fragte ich mich verwundert. Sofort ging ich darauf zu. An der Schwelle trat mir ein Mann entgegen. Seine Haut war tief gebräunt, er war ein Weißer. Schlohweiß kam das Haar unter einem breitrandigen Hut hervor. Er sprach mich englisch an. Es war das erstemal seit drei Monaten, daß ich mit einem Menschen sprechen konnte, wenn man von der kurzen Unterhaltung mit den Passagieren der »Queen of Sumatra« absieht. Der Mann war Missionar, von ihm erfuhr ich erstmals einiges über meinen genauen Standort und wie weit es noch nach Karachi war. Er lud mich zu sich ins Haus und bewirtete mich – nach meinen sehr bescheiden gewordenen Begriffen königlich. Ich hätte gerne viel gefragt, aber er frug mich noch mehr. Meine ganze Fahrt dünkte ihm als das größte Abenteuer, das sich ein Mensch aussuchen konnte. Stunden vergingen – und Tage!

»Wie lange sind Sie eigentlich schon hier?« fragte ich ihn einmal.

»Vierzig Jahre. Früher war ich auf den Inseln im Süden, seit zehn Jahren lebe ich in diesem Örtchen. Im Jahre 1910 war ich zum letztenmal in Europa.«

Vierzig Jahre! Das war eine Zeit.

Ich fragte ihn, ob er denn so von den Tropen begeistert wäre, daß er nicht mehr zurück in seine Heimat wolle. Er stammte aus Irland.

»Begeistert? – Von den Tropen?« lachte er. »Man sieht, Sie sind noch nicht allzu lange hier und erleben alles mit ganz anderen Gefühlen als unsereiner. Aber wenn Sie nach zwei Wochen noch immer begeistert sein sollten, nach zwei Monaten werden Sie es bestimmt nicht mehr sein. Sie erleben Palmen, ewig blauen Himmel, weißen Strand, leuchtendes Meer, Abendzauber, schimmernde Korallenriffe, des Nachts Leuchtkäfer, Leoparden ... Nach und nach kommen die Kehrseiten zum Vorschein. Malaria, Chininschlucken, Moskitos, Schlangen, Ratten im Überfluß, Ameisen, Roter Hund ...«

»Roter Hund?« staunte ich.

»Jawohl, Roter Hund ... Sie werden ihn schon noch kriegen, mein Lieber, seien Sie ohne Sorge. Wenn Sie später weiter südlich reisen wollen, so um den Äquator herum, da wird Ihr Körper zu schwitzen beginnen, daß es selbst der Haut eines Tages einfach zu dumm wird. Sie tut nicht mehr mit, und auf allen möglichen Stellen Ihres werten Leichnams kriegen sie Pickel und Pusteln, und denken Sie – Sie werden den ganzen Tag zu nichts anderem mehr kommen, da Sie sich ununterbrochen kratzen müssen. Es juckt nämlich gemein. Selbstverständlich verschwindet der Rote Hund nach einer gewissen Zeit wieder. Aber diese gewisse Zeit wird Ihnen wohl ewig in Erinnerung bleiben.«

Ein Mann unterbrach uns an dieser Stelle des Gespräches. Er redete mit dem Missionar, der aufstand und sagte: »Er bittet mich, in seine Hütte zu kommen, denn seine Frau sei krank.«

Ich ging mit.

Es war schon ein älterer Mann, der da klein und unscheinbar vor uns herschritt. Er schlug eine Bastmatte zur Seite, als er an seinem Haus angelangt war und bat uns, näher zu treten. In dem einzigen Raume war ein Lager in einer Ecke. Dort lag die Kranke, die Frau des Mannes – ein Kind, nicht älter als dreizehn Jahre!

»Mit dieser Sitte des Frühheiratens kann ich nicht brechen«, sagte mir der Missionar später, »obwohl ich die Leute im Laufe der Zeit von vielem abgebracht habe. Früher ließen sich die Leute von mir nicht berühren, wenn sie krank waren, ich konnte ihnen kaum helfen. Sie hatten Angst, ihre Kaste zu verlieren. Nach Ansicht der Hindus sind nämlich nicht alle Wesen von Geburt an gleich, sondern es besteht eine Rangordnung unter ihnen, die mit dem höchsten himmlischen Wesen anhebt und mit Würmern, Pflanzen und Höllenbewohnern endet. Einst gab es nur vier Kasten oder Ränge, die der Priester, Krieger, Ackerbauer und Gewerbetreibenden. Heute haben sich diese vier Kasten vervielfacht, es gibt sogar eine Kaste der Pfauenfänger, Räuber, Diebe, Wasserträger und so fort. Auch alle Fremden werden in die Kasten eingegliedert. Nach einer ganz modernen Kastenliste rangieren unsere englischen Soldaten kurz vor der Kaste der – Menschenfresser.

Berührt nun einer von der niederen Kaste einen Höherstehenden oder auch nur einen Gegenstand, der ihm gehört, so ist dieser schon seiner Kaste verlustig und kann sie sich nur durch viele Bußübungen wieder erwerben. Die Leute in unserem Dorf habe ich nun endlich von solchem Aberglauben abbringen können. Aber es war ein schwerer Kampf! Sie haben das Christentum angenommen, trotzdem huldigen sie noch verschiedenen ihrer alten Gewohnheiten. Sie töten keine Tiere, ganz besonders keine Kühe, die uneingeschränkte Hochachtung genießen. Ihren Urin und ihren Mist betrachten sie als heilig und verwenden ihn als Medizin bei allen möglichen Krankheiten. Sie probieren das noch immer aus, ehe sie mich kommen lassen, und da ist es in vielen Fällen zu spät.«

Ich ahnte nicht, als der Mann mir von diesen Medizinen erzählte, daß sie in nicht allzu ferner Zeit an mir selbst angewendet werden sollten.

 

Nach einigen Wochen segelte ich wieder weiter. Ich legte alle Tage nur sehr kleine Strecken zurück, und am vierten Tage kam ich nach Numa, einem Dorf dicht an der Küste. Die Bewohner waren wie überall, wo ich bis jetzt gewesen war, steinzeitlich primitive Menschen. Einen Tag weilte ich bei ihnen, jeder Zivilisation noch immer so ferne, daß ich im Umkreis von hundert Kilometern bestimmt keine Ansichtskarte aufgetrieben hätte. Und das will schon allerhand heißen!

Wovon diese Leute eigentlich lebten, weiß ich nicht. Ich sah ein paar Boote am Strand liegen und einige kümmerliche Felder in der Nähe. Es gab da zufällig einen Mann, der etwas Englisch verstand, und dies darf nicht unerwähnt bleiben, denn seine dürftigen Sprachkenntnisse genügten, um mir die Neuigkeit zu vermitteln, daß sieben Meilen landeinwärts eine Pflanzung sein sollte, die einem weißen Gentleman gehörte. Dieser Gentleman wäre zudem Engländer, hieße Robertson und sollte aus London stammen. Jeder Engländer muß nach den Vorstellungen der Inder aus London stammen. Im übrigen konnte es mir vollkommen gleichgültig sein, wo der Mann beheimatet war. Auf jeden Fall freute mich die Tatsache, einen Europäer in der Nachbarschaft zu wissen, und ich beschloß ihn zu besuchen. Dies war eine selbstverständliche Pflicht der Höflichkeit, die sich zugleich mit der angenehmen Hoffnung auf ein paar gemütliche Tage verband, die ich wahrscheinlich als gern gesehener Gast auf der Pflanzung zu verbringen die Aussicht hatte. Man sagte mir, daß der Weg oder besser der Pfad, der zu Robertsons Niederlassung führte, reich an Unbequemlichkeiten sei, und daß er sich beinahe in seiner ganzen Länge durch die Dschungel winde, deren Ausläufer sich sogleich hinter den letzten elenden Hütten des Dorfes wie graugrüne, feindselige Mauern aufreckten.

Ich nahm mir vor, erst am kommenden Tag aufzubrechen. Besser wäre es allerdings gewesen, diesen Vorsatz nie auszuführen. Aber wenn man immer wüßte, was einem bevorsteht, so würde gar manches im Leben unterbleiben.

Sieben Meilen Weges lagen vor mir, als ich den Marsch antrat. Sieben Meilen sind immerhin runde dreizehn Kilometer. Schnell verschlang mich die Dschungel. »Grüne Hölle« wurde sie von irgend jemand einmal getauft und hat damit die richtige Bezeichnung erhalten. Der Boden dampfte, in unvorstellbarer Üppigkeit verschwendete hier die Natur alles, was sie aus der Erde zu zaubern vermochte. Was da nicht alles wuchs! Orchideen und seltsam feiste, fleischige Pflanzen. Von den Bäumen hingen Lianen gleich bunt verwobenen Teppichen, alle möglichen Gewächse strebten aus dem Boden. Hohe, dichte Farnwälder machten weiten Bambusstrecken Platz. Das dünne Rohr, mit dem mich innige Erinnerungen an meine Volksschullehrer verbanden, strebte oft kerzengerade vierzig bis fünfzig Meter in die Höhe und seine Spitzen schwangen knisternd und zitternd hin und her. Bestürzte Baumstämme moderten am Boden und waren mit schwellenden Mooskissen umpolstert, aus denen wieder große, tellerartige Blätter auf kurzen, dicken Stielen wuchsen. Mehrmals im Monat mußten die Eingeborenen den Pfad von der rastlosen Vegetation säubern, sollte er nicht verwuchern und unbegehbar werden.

Unter dem Tropenhelm hervor schoß der Schweiß in zahllosen Rinnsalen über mein Gesicht. Vor kurzem, ja, da war man noch so ungeschickt, da hatte man sich immer säuberlich abgetrocknet. Aber jetzt tat man das nicht mehr. Man war doch kein Greenhorn mehr in den Tropen. Verdunsten lassen mußte man den Schweiß auf der Haut, das kühlte etwas – oder sollte wenigstens kühlen. Manchmal aber hielt man trotz aller Selbstbeherrschung das lästige Brennen und Ätzen auf Lippen und Augenlidern nicht mehr aus, zog dann den klatschnassen Fetzen hervor, der ein Taschentuch vorstellen sollte, und rieb sich allen Erfahrungen zum Trotz gründlich trocken. Natürlich bekam man nachher böse, schmerzende Risse in die nun aller Feuchtigkeit entbehrende Haut.

Man bekam aber auch wunde Füße, wenn man leichtsinnigerweise auf solch einem Marsch die hochschäftigen Stiefel mit den bequemen Halbschuhen vertauschte, denn nun schleuderten die Absätze bei jedem Schritt über den lockeren Boden glühend heiße Erdkrümelchen hoch, die sich tückisch zwischen das Leder und die bald entzündete Haut an den Fersen drängten.

Prächtige blutrote und safrangelbe, schwarze und blaue Schmetterlinge gaukelten durch die Luft, die erfüllt war von einem morastigen Dunst, welcher die Nähe von Wasser anzeigte. Bald erreichte ich einen kleinen, träge dahinschleichenden Fluß, an dessen Ufer ich auf einen zweiten ausgetretenen Pfad stieß, der wie ein breites, braunes Band in mancherlei Verschlingungen, zeitweise tief in Schilfwände eingebettet, dahinführte.

Mäuse huschten vor meinen Füßen, Wasservögel schnatterten und gurgelten, grell gefiederte Störche mit schwarzen Beinen musterten mich ohne Scheu neugierigen Blickes.

Schön war die Dschungel, unvorstellbar schön – ein Rausch von Farben! Doch die Schönheit dieser Wildnis in ihrer Eigenart und ihrer Gefahr, die sie in sich barg, verlor ihren Reiz auf die Sinne, die abstumpften in der fürchterlichen, feuchten Gluthitze, die hier herrschte. Ich dachte lieber an den Engländer und an die Gastlichkeit seines Hauses, die mich erwartete. Ich würde Neuigkeiten erfahren, Zeitungen kriegen, in einem Streckstuhl sitzen, einen Ventilator, ein Moskitonetz haben, in einem Bett – wenn auch nur in einem harten Tropenbett schlafen, und noch so vieles andere genießen können, wonach sich im allgemeinen ein Mensch nach einem langen Leben in der Wildnis zur Abwechslung sehnt.

Das wog die paar Stunden Dschungelmarsch wohl auf, das würde mir den Ärger zum Beispiel über die Lianen, die andauernd hinterlistig nach meinen Beinen angelten und mich zu Fall brachten, bald vergessen. Vorläufig fluchte ich bei jedem Zwischenfall endlose Litaneien herunter und wanderte dann etwas erleichtert weiter. Bei einer kurzen Rast stellte ich fest, daß wohl die Hälfte dieses erbärmlichen Weges schon hinter mir liegen mußte, ich konnte also in zwei Stunden am Ziele sein. Das erscheint etwas lange, wenn man bedenkt, daß die ganze Strecke nur dreizehn Kilometer betrug und die Hälfte schon geschafft war. Aber in den Tropen marschiert oder geht man nicht, sondern man schleicht. Immer hübsch langsam; je langsamer es einer zuwege bringt, desto zuträglicher ist es für seine Gesundheit. Jede Anstrengung kann gefährlich werden. Zwei Stunden also noch, wenn alles gut ging. – Aber es ging wieder einmal nicht gut!

Immer müder und schlaffer schoben sich die Füße einer vor den anderen. Der Pfad durchschnitt nun eine kleine Lichtung. Sie war mit dichtem, zwerghaftem Gebüsch bestanden, und die Sonne schien die letzte Glut, die sie an diesem Tage verschwenden konnte, gerade auf diesen Erdenfleck zu schleudern, ehe sie sich zur Rüste begab.

Unversehens trat ich auf etwas Weiches und spürte im selben Augenblick einen stechenden Schmerz am linken Fuß. Instinktiv machte ich einen meterweiten, heftigen Satz nach vorwärts – verschwunden war alle Mattigkeit. Jeder Nerv war plötzlich gespannt. Zum Teufel – was war das? Ich hörte mein Herz schlagen. Prüfenden Blickes durchforschte ich das verwilderte, gelbe Gras vor mir – es war nichts. Nur einen einzelnen Farnwedel sah ich schwanken – merkwürdigerweise –, denn es herrschte doch vollkommene Windstille. Nochmals blickte ich in die Runde ...

Es wird eine Eidechse gewesen sein, versuchte ich mir klarzumachen – oder irgendein anderes Tier –, vielleicht ein Vogel oder weiß der Teufel was. Doch ein unbehagliches Gefühl begann sich dennoch in mir beklemmend zu regen. Ich wußte sehr gut, daß es wenig Gefahren gab in der Dschungel, die man deutlich sah und denen man offen entgegentreten konnte ...

Das einzelnstehende gefiederte Blatt, das mir vorhin aufgefallen war, kam noch immer nicht zur Ruhe, leise zitterte es weiter – alle anderen und die Grashalme in der Runde verharrten regungslos. Sonderbar ...

Noch stand ich unentschlossen da, mein mißtrauisch gewordener Blick streifte zufällig die Stelle am Bein, wo ich vordem den Schmerz empfunden hatte, und ein eisiger Schreck durchriß meinen Körper – aus einem winzigen, dunkel umrandeten Löchlein bildete sich ein Blutstropfen ...

Sollte das ...?

Ohne Zweifel – Schlangenbiß ...!

Ich wehrte mich instinktiv gegen diese Erkenntnis und das damit verbundene Verhängnis, während mir doch das Wissen um ein rasches Dahinsinken bereits wie dunkle Fittiche jäh um die Schläfen zu rauschen begann.

Vielleicht war es doch nur ein Dorn – es war bestimmt nur ein Dorn – oder eine Eidechse. Ich klammerte mich an jede dieser Möglichkeiten. Doch der leichte Schwindel, der in meiner Stirn begann, strafte mich selber Lügen. Hastig machte ich einen Schritt nach vorwärts, immer noch zitterte das Farnblatt und jetzt vermochte ich auch die Ursache zu erkennen. Zusammengerollt, den hochgestellten Kopf blitzschnell und aufgeregt hin und her wippend, züngelte mir eine Schlange entgegen ...

Mit einem Fluch riß ich die Pistole aus der Tasche. Dann trat ich vorsichtig noch einen Schritt näher und zielte – haargenau ...

Als begriffe die Bestie die Drohung, die in meiner Bewegung lag, zog sie den scheußlichen Kopf plötzlich ein und starrte mich angriffslustig und feindselig an. In rascher Folge drückte ich ab – fünfmal – sechsmal ... Das Eisen jagte krachend aus dem Lauf, die Spirale am Boden schnellte wild auseinander, bäumte sich einmal rasend auf, wand sich – versuchte zu fliehen und verzuckte dann kraftlos. Ihr Rückgrat war zerschmettert, aber die feine Zunge spielte noch immer, giftig und tückisch funkelten die Augen.

Nun beugte ich mich nieder zu meinem Fuß und betrachtete den Biß. Was war da zu machen? Ich hatte keinerlei Erfahrung in der Behandlung solcher Verletzungen und besaß auch keinerlei Hilfsmittel dazu. Die Wunde stimmte mich nachdenklich, heftiger Schmerz breitete sich bereits von dem Pünktchen aus und wühlte sich durch den ganzen Fuß. Schnell löste ich den Helmriemen und schnürte mit ihm das Gelenk ab. machte zwei tiefe kreuzweise Schnitte in die Wunde und lief eilig den Pfad zurück, den ich gekommen war. Irgendwie hatte ich die schwache Hoffnung, daß die Leute im Dorfe vielleicht helfen konnten. Bald aber wurde der Schmerz unerträglich. Das Gefühl einer entstehenden Geschwulst machte sich bemerkbar und blitzartige Stiche durchzuckten das ganze Bein. Ich konnte den Fuß nur mehr mit Mühe bewegen, und eine plötzlich auftretende Trockenheit in der Kehle, gefolgt von brennendem Durst, stellte mich unumwunden vor die Erkenntnis, daß es um mein Leben ging ...

Ich hastete weiter ...

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, dann konnte ich nicht mehr. Ich mußte mich zum erstenmal stöhnend auf den Boden werfen. Das schwarzviolette Pünktchen neben dem Knöchel verschwand bereits in einer furchtbaren Anschwellung des Fußes, unförmig quoll er aus dem Halbschuh heraus. Die Haut war so dünn und fest gespannt, als ob sie jeden Augenblick platzen würde.

Entsetzlicher Durst folterte mich.

In der Nähe trieb die gelbe Schlammflut des Flusses, ich brach durch das Schilf, wälzte mich zu einem übelriechenden Tümpel, meine Lippen suchten das Wasser – ich bekam den Mund voll Erde – und trank die Brühe, ohne daran zu denken, daß ich mir in diesem Augenblick wohl eine gefährliche Darmkrankheit holte. Aber das Durstgefühl wich nicht, die Kehle war ausgedörrt. Eine Wendung mit dem Kopf, die ich versuchte, verursachte mir ungeheure Anstrengungen. Das Genick schien mit Blei ausgegossen zu sein. Die Sache sah sehr schlimm aus – sehr schlimm ...

Die Farbe des Fußes wechselte allmählich in einen bleifarbenen, schon brandigen Glanz hinüber. Schneidende Schmerzen durchzuckten das Bein in raschem Wechsel und bohrten sich bis zur Leiste herauf. Das Blut schien plötzlich mit Glassplittern vermengt zu sein, die die Adern zu zerreißen drohten. Die peinigende Trockenheit im Schlund, deren brennendheiße Glut jeder Atemzug noch anzufachen schien, wurde zur grauenvollen Qual. Als ich einen Versuch machte, mich aufzurichten, wurde mir übel.

So ohne weiteres wollte ich mich aber nicht preisgeben.

»Vorwärts ... Steh endlich auf – auf – auf« flüsterte ich mir befehlend zu und mühte mich ab, hochzukommen. Doch die Glieder versagten den Dienst. Ich tobte innerlich vor Erbitterung über meine körperliche Ohnmacht. Das Bild der fernen Heimat rollte wie ein Film vor meinem Inneren ab. Und sie sollte ich nicht mehr wiedersehen? Nur weil ich auf einen Wurm getreten war, der gebissen hatte? – Das gab es nicht!

Ausgeschlossen – lächerlich – Unsinn.

Auf! –

Die Fäuste geballt blieb ich noch einen Augenblick regungslos. Dabei überkam mich eine ruhige Entschlossenheit. Es ging ums Letzte. Ich wußte das sehr genau. Die Zähne verbissen raffte ich den letzten Rest meiner Willenskraft zusammen und – erhob mich mit einem Ruck. Etwas schwankend stand ich – doch ich stand!

Und begann auch zu gehen – zu gehen ...!

Die Eingeweide brannten derartig, daß ich vor Schmerz das Gesicht in tausend Fratzen verzerren mußte.

Es schien schon Abend zu sein. Gelbrot neigte sich die Sonne den Bambusspitzen über mir zu. Jede Minute, die ich ausschritt, schien mir wie eine Ewigkeit. Das ganze Bein bildete einen unförmigen, harten Block. Einen Augenblick hielt ich an und schnitt ächzend die Hose auf – der Unterleib war geschwollen, bleifarbene Stellen waren auch auf ihm zu sehen.

Unendlich mühselig taumelte ich dahin, den Flußpfad hinab. Manchmal stürzte ich und blieb gleichgültig liegen, dann peitschte mich doch der Wille wieder auf und vorwärts.

Die Sonne war untergegangen, der Himmel erglühte im Westen in goldigem Schimmer. Schattige Kühle löste sich aus der Dschungel – es begann mich zu frieren und zu schütteln.

Mein Kopf wurde immer schwerer, das Bein war wie Eisen schwer und gefühllos. Aber noch fühlte ich, daß ich ging, und solange ich mich bewegte, lebte ich. Der Atem wurde kurz und pfeifend.

Feierliche Stille senkte sich in die Wildnis. Das einzige, was meine Ohren noch vernahmen, war das Brausen meines in seinem Laufe gehemmten Blutes.

Durch einen roten, zitternden Schleier gewahrten meine Augen einen Strand, lange, schmale Kanus, die wie erschöpfte Tiere auf der Seite lagen, Hütten mit Schilfdächern ...

Ich schien angelangt zu sein. Kleine Menschen, die mir kaum bis an die Schultern reichten, umdrängten mich mit entsetzten Gebärden. Warum nur?

Aha – da war ja der, welcher englisch radebrechte. Unaufhörlich bewegte sich sein Mund – und ich vernahm keinen Laut. Komisch sah das aus – ich mußte sogar lächeln ...

Seltsam frisch und leicht fühlte ich mich jetzt, nur über den Rücken rieselte es mir unaufhörlich eisigkalt. Behagliche Schläfrigkeit umfing mich – keine Spur von Schmerz mehr ...

Alles drehte sich im Kreise – Menschen, Hütten, Boote, Palmen, Strand – alles versank – es wurde Nacht – tiefe Nacht ...

Als ich mich bewegte, fühlte ich etwas Nachgiebiges unter mir. Ich hatte die schattenhafte Empfindung, daß irgendwo ein Ventilator laufen mußte, denn ununterbrochen lag ein brummender Ton in der Luft.

Auf meinem Kopf schien etwas Schweres zu lasten, ich vermochte nichts zu sehen. Aber einmal zerriß das Dunkel um mich. Ich schlug die Augen auf und schloß sie gleich, schmerzhaft geblendet, wieder. Licht – Licht – war es denn möglich, daß es so grelles Licht gab? Nochmals bewegte ich zaghaft die Lider – blinzelte neugierig in die Runde ...

Verdammt europäisch sah es hier ja aus. Vielleicht träumte ich? Tisch, Spiegel – ein richtiges Zimmer – eine offene Tür, vor der ein Hof lag. Eine Menge Pfauen lief dort durcheinander. Wirklich merkwürdig ... Meine Finger befühlten leinenes Zeug – Bettzeug. Wie kam doch das alles? Eine ganze Weile wunderte ich mich, dann stand plötzlich die Erinnerung an mein Mißgeschick vollkommen klar vor mir. Von einer bösen Ahnung geplagt schob ich die Hand vorsichtig unter die Decke, legte sie an den linken Oberschenkel und fuhr langsam abwärts zum Knie, zum Fuß. Das Bein war noch da! Eine Zentnerlast fiel mir vom Herzen.

Nach einer Weile hörte ich Schritte. Ein Inder kam, sah mich an, lächelte und eilte wieder weg. Dann erschien ein großer Mann, den ich schon irgendwo gesehen hatte – ein Europäer. »Hallo, Boy – endlich ausgeschlafen, wie?« Mit diesen Worten schüttelte er mir freundlich und vorsichtig die Hand. Kaum konnte ich glauben, daß diese magere Hand die meine sein sollte.

»Ich verstehe nicht recht ...« antwortete ich.

»Ja, ja – Sie sind nun da, wo Sie damals eigentlich hin wollten. Es war nett von Ihnen, mich hier besuchen zu wollen. – Sie haben auf dem Weg hierher ein schlimmes Erlebnis gehabt – wissen Sie noch?«

Ich nickte: »Schlangenbiß.

»Übrigens – Robertson heiße ich. George Robertson ...«

Ich wollte etwas fragen, aber es war nicht leicht, die Gedanken zu ordnen und in Worte zu kleiden. Verdammt schwach war ich geworden. Endlich hatte ich es.

»Damals, sagen Sie, Sir – damals, das war doch höchstens gestern!?«

Dröhnend lachte der andere. »Gestern? – Boy, fünf Wochen sind es her, daß man Sie zu mir gebracht hat. Jawohl, fünf Wochen liegen Sie hier! Ich war schon in Sorge, Sie kämen überhaupt nicht mehr zu Ihrem Verstand, denn immer, wenn ich zu Ihnen kam, sahen Sie mich vollkommen geistesabwesend an, ohne mir auf eine Frage zu antworten.«

Nun erinnerte ich mich – der Mann hatte recht. Ich hatte ihn schon öfters vor meinem Lager stehen sehen, daher kam er mir bekannt vor. Es war mir jedoch nicht möglich gewesen, irgend etwas zu begreifen. Ich hatte gewissermaßen das Gedächtnis verloren und die Eindrücke, die ich empfand, schon im nächsten Augenblick wieder vergessen.

Dieser Zustand schien also vorbei zu sein.

»Wissen Sie, wem Sie überhaupt zu verdanken haben, daß Sie noch am Leben sind?« fuhr Robertson fort. »Den Braunen unten in Numa. Die haben Sie zuerst gepflegt. Weiß der Teufel, was für Zaubereien sie angewandt haben. Respekt vor den Burschen und ihren Heilmitteln. Als Sie dann über den Berg waren, hat man Sie zu mir gebracht.«

Nun wußte ich alles.

»Eines wundert mich maßlos«, fuhr Robertson fort, »wie Sie – von diesem Scheusal gebissen, das neunundneunzigmal unter hundertmal tötet, noch durch die Dschungel nach Numa laufen konnten – mit einem solchen Bein.«

Man kann vieles in der letzten Not – wenn es keinen Ausweg mehr gibt.

Wir wurden noch gute Freunde, Robertson und ich. Seine Frau weilte gerade zu Besuch in Bombay, leider konnte ich sie nicht kennenlernen, da sie während der Zeit meiner Anwesenheit auf der Pflanzung nicht mehr zurückerwartet wurde. Zehn Jahre arbeitete Robertson schon hier auf seiner Pflanzung. Vorher war er einige Jahre in Ostcelebes, das seinen interessanten Erzählungen nach wohl der wildeste Platz auf der ganzen Erde sein muß.

»In einigen Jahren kehren wir zurück nach Europa«, sagte er mir. »Man soll nicht zu lange in Indien bleiben. Es ist nicht gut für die Gesundheit. Am besten ist, man geht hierher, um zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre hart zu arbeiten und dann mit dem Ertrag heimzukehren und ein bescheidenes, ruhiges Leben zu führen.«

Ein bescheidenes, ruhiges Leben – jawohl, alle Menschen strebten danach. Und nur ich schleppte, wie das Kamel seinen Höcker, die Unrast mit mir herum. Das mußte anders werden!

Wenn die guten Vorsätze nur nicht so schwer zu halten wären! Als ich mich erst wieder richtig recken und strecken konnte, pochte es mir schon wieder in allen Adern und Fibern: Vorwärts!


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