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Manchmal saß mir das Gespenst der Langeweile im Nacken, und als einziges Mittel dagegen konnte ich nur eine Kiste öffnen, in der sauber in Pergamentpapier eingewickelt und mit einem Band verschnürt ein Bündel Briefe lag, die Post aus der Heimat.
Ich hatte sie gut aufgehoben, und das Päckchen war im Laufe der Zeit redlich dick geworden. Zwei Jahre waren nun vergangen, seit ich Deutschland verlassen hatte. Briefe und Karten waren das von Verwandten, Bekannten, Freunden, und auch von Leuten, die ich gar nicht kannte. Ich wußte ihren Inhalt beiläufig schon auswendig, sooft hatte ich sie bereits gelesen. Alles Denkbare und Undenkbare teilte man mir mit oder erfragte es. Was sich aber bei allen in ihrem Inhalt wiederholte, waren die Sätze: »Sie Glücklicher ... Sie Beneidenswerter ... so ganz ohne Sorgen leben Sie ... fahren frisch und fröhlich in die weite, heitere Welt hinaus ... sehen Länder und Völker ... wer doch mit Ihnen sein könnte ... Jahre meines Lebens würde ich geben, um da mittun zu können ... ich würde gar nichts verlangen von Ihnen, nur für Kleidung und Verpflegung müßten Sie aufkommen ... schreiben Sie mir bitte doch recht bald, ob ich kommen darf und wo ich Sie treffen kann ...«
So also stand es in allen Briefen, die mich erreichten – aber erst, als ich Konstantinopel hinter mir hatte! Vorher hieß es immer: »Nun werden Sie ja bald umkehren müssen, denn auf das Meer getrauen Sie sich doch nicht hinaus ... die Donau ist schließlich noch ein harmloser Fluß ... aber lassen Sie sich doch auch von mir einen guten Rat geben ... ich bin ein alter, erfahrener Mann ... so folgen Sie mir doch ...«
Etwas zum Lachen!
Daheim beneidete man mich! Das war allerdings eine Kleinigkeit. Weite, heitere Welt ...
Wißt ihr denn, wie oft ich schon daran war, einfach alles hinzuhauen und umzukehren?
Und wißt ihr auch, warum ich es nie getan habe?
Nicht? –
Weil ich eure spitzen Finger vor mir sah, die auf mich deuteten, und die schadenfrohen Worte hörte: »Da – das ist der, der gemeint hat, er könne mit einem kleinen Segelboot übers Meer fahren – noch dazu mit was für einem Segelboot – einem Waschtrog! Na ja, er hat ihn auch selber zurechtgeschreinert, ohne davon was zu verstehen. Jetzt ist er wieder da, umkehren hat er müssen. Aber ich habe es ja schon immer gesagt ...«
Natürlich habt ihr es schon immer gesagt! Ihr wußtet alles und ihr wißt alles, ihr seid immer die gleichen, man kennt euch schon sattsam. Doch gerade eure Erwartungen auf einen Mißerfolg fachten meinen Trotz an und brachten mich soweit, wie ich heute bin; und es ist die Wahrheit, wenn ich sage, daß ich es zu einem gewissen Teil euch zu verdanken habe, wenn ich mein Vorhaben restlos durchführen werde.
Ihr habt natürlich nie daran gezweifelt, meint ihr heute? – Und ihr beneidet mich auch noch dazu und schreibt schmachtende Briefe. Nun, wie wäre es, wenn einer mal ein bißchen mittäte. Ich müßte mich nur hinsetzen und auf einen solchen Brief etwa folgendes antworten:
»... Mein lieber Freund ... kommen Sie nur ... auf Sie warte ich gerade ... Ihre blauen Wunder sollen Sie bestimmt erleben ... kann Ihnen gar nichts schaden, denn gerade Sie haben Ihre Klappe am weitesten aufgerissen und sich über mich lächerlich gemacht, als ich noch daheim an meinem Boote werkte ... Ihnen kann eine gesunde Abreibung nur gut tun ...«
Halt – bei einem solchen Ton würde natürlich keiner anrücken. So müßte es heißen: »Sie tun recht, wenn Sie mich im Paradiese wähnen. Unsagbar herrlich ist es hier. Romantik! – sage ich Ihnen. – Schauen Sie sich die orientalischen Bilder auf den Zigarettenschachteln an, genau so ist es. Aber so kommen Sie doch, ich freue mich ja geradezu auf Sie ...«
So, Herr Meier, Sie wären von mir auserwählt, Sie werden also zu mir nach Chios kommen. Und was sich dann alles begibt, würde sich später ungefähr folgendermaßen schildern lassen: Ich warte im Hafen von Chios auf das italienische Puglia-Schiff. Unter den Passagieren, die es verlassen, erkenne ich Sie sofort. Sie fallen ja glatt auf in ihrem warmen, blauen Jackett, weißen Hosen und gestärktem Kragen. Einen nagelneuen, braunen Koffer schleppen Sie auch. Wird ja schön Schimmel ansetzen, und die Beschläge werden verrosten. Einmal an Land schauen Sie sich suchend um, wo wird doch der Zitt sein? Aha, jetzt haben Sie mich erkannt, zögern aber immer noch, zu mir herzukommen. Ich bin Ihnen wohl zu mager und zu sonnenverbrannt, Sie haben mich anders in Erinnerung, wie? – Ja, das kommt schon vor auf einer derartigen Vergnügungsreise.
Sie sind ja durch und durch naß? – Die Hitze? – Lieber Mann, was heißt hier Hitze? Vierzig, fünfzig Grad – das ist doch leicht zum Aushalten!
Wollen wir nun schnell etwas essen gehen? – Dies hier ist ein griechisches Restaurant, wohl das beste am Platze. Sie schauen so entsetzt? – Ja, daran müssen Sie sich gewöhnen, mein Lieber – Europa haben Sie nun hinter sich gelassen – in weiter Ferne. Aber wenn es auch primitiv ist, so ist es doch ganz nett. Oder sind Sie schon enttäuscht?
Na, was ist denn mit dem Essen, Sie rühren ja gar nichts an? – Schmutzig, sagen Sie? – Mein Lieber, dann müssen Sie im Orient verhungern, wenn Sie sich daran stoßen. Auf der Reise sind Sie einmal hier, einmal dort und müssen sich eben notgedrungen auf alles umstellen können.
So – und jetzt wollen wir einmal einen kleinen Spaziergang zur »Bayern« machen. – Da schaukelt sie schon. Ein neuer Anstrich könnte ihr nicht schaden, sie kommt daher wie ein Handwerksbursche. Größer haben Sie sich das Boot vorgestellt? Recht wäre das schon, leider ist sie nicht gewachsen seit ihrer Abreise aus München. Aber wie sie bewiesen hat, kann sie auch so allerhand vertragen. In einer Stunde werden wir die Anker lichten, vorerst aber müssen wir zur Kapitanie, um die Papiere zu holen. Das ist nämlich das Wichtigste. Jedes Fahrzeug muß ein Manifest besitzen, das seine Beschreibung enthält, sowie ein Sanitätspatent, in dem der Gesundheitszustand der Besatzung vermerkt ist. Sofort, wenn Sie einen fremden Hafen anlaufen, müssen Sie sich damit zum Hafenkapitän begeben, wenn Sie sich keiner Bestrafung aussetzen wollen.
Wo wir hinfahren?
Ich möchte zur Insel Andros. Sehen Sie hier einmal auf die Seekarte. Wir befinden uns in Chios. Wir haben augenblicklich den Tramuntanawind, als Nordost. Ich werde daher vorerst die Chiosstraße hinaufkreuzen, Maschine habe ich ja keine, wie Sie wissen. Das Nordende der Insel wird sodann umrundet, und da der Kurs gerade günstig ist, geht's von dort raumschoots direkt nach Andros. Die Strecke über hohe See, von Insel zu Insel, ist nicht groß, etwa hundert Kilometer, wie Sie sagen würden. Der Seemann aber rechnet in Meilen. 1852 Meter sind eine Meile, also vierundfünfzig Meilen bis Andros. Vom Hafen Chios aus gemessen aber fünfundsiebzig Seemeilen. Ich schätze auf eine Reisedauer von rund vierundzwanzig Stunden, da wir ja erst aufkreuzen müssen, was immerhin einige Zeit wegnimmt.
Wo wir des Nachts bleiben werden?
Auf See natürlich, wo sollen wir denn sonst hinfahren, ist ja weit und breit keine Küste.
Lebensmittel?
Die habe ich immer genügend an Bord. Hier ist die kleine Kajüte, Sie können in ihr schlafen, oder auch draußen im Sitzraum, – in der Pflicht – wie der Seemann sich ausdrückt.
Bis zum Inselende sei die Reise nicht gefährlich, meinen Sie – weil wir doch die Küste in der Nähe hätten?
Das sind theoretische Vorstellungen, wie ich sie auch einmal gehabt habe. Na, warten Sie erst mal eine Weile!
Die wuchtigen Wolken hinter den Gebirgen der Insel Mytilene finden Sie wundervoll?
He – wissen Sie überhaupt, was diese Wolken dem Seefahrer sagen? Sturm bedeuten sie, bösen Sturm sogar – und hochlaufende See!
Wie – was – da sollten wir lieber nicht auslaufen?
Natürlich wird gefahren! Das müßte auch ein Schiffer sein, der auf schönes Wetter wartet. Er müßte glatt verhungern. Seefahrt verlangt Mut!
Wir sind also bereit zum Anker lichten, es ist alles klar. Erst wird das Vorsegel und nachher das Großsegel gehißt. Der Postdampfer, mit dem Sie gekommen sind, wird übrigens auch in wenigen Minuten auslaufen. Woher ich das weiß? – Er hat doch den blauen Peter gesetzt, das ist die blaue Signalflagge mit dem weißen Rechteck in der Mitte. Sie bedeutet im internationalen Signalgebrauch den Buchstaben P des Alphabets und wird eine Viertelstunde vor Abfahrt eines Schiffes gehißt.
Setzen Sie sich in diese Ecke, ich werde rasch den Anker aufhieven. Die Kette ist dreißig Meter lang. Manchmal kommt es vor, daß ein Dampfer seinen Anker ausgerechnet über meine Kette wirft, dann kann ich nicht auslaufen, wenn nicht der Dampferkapitän so freundlich ist, seinen Anker wieder wegzunehmen.
Hier ist der Anker schon. Viel zu leicht finden Sie ihn? Der hat seine guten fünfzehn bis zwanzig Pfund, die genügen für mein Boot.
Herrlich – dieses geheimnisvolle, geräuschlose Dahingleiten? – Draußen wird's aber scharf hergehen. In der Chiosstraße läuft nämlich immer starker Strom, und selbst bei leichtem Wind gibt es heftige Wellen. Sehen Sie die weißen Schaumkronen – dies ist kein gutes Zeichen.
Wie – Sturm soll das sein – hohe See? Menschenskind – Sturm und hohe See sind etwas ganz anderes!
Und erst himmelhohe See, und mittendrin mit der Nußschale! Na, heute nacht werden wir's ja erleben.
Ganz bleich sind Sie. Haben Sie etwa Angst – oder schon die Seekrankheit? Angst brauchen Sie keine zu haben. Wäre auch ganz sinnlos. Man muß der Gefahr kalt ins Auge sehen, dann kann man sie überwinden – Feigheit bedeutet das sichere Ende. Wer sich darüber nicht klar ist, soll lieber am festen Land bleiben und sich von einem Auto überfahren lassen. Was die Seekrankheit anbelangt – so bleiben Sie nur ruhig sitzen, wo Sie jetzt sind – das ist das beste. Oder binden Sie sich eine Leibbinde um, damit sich der Magen nicht bewegen kann.
Achtung! Die ersten Brecher – nun sind Sie über und über naß geworden. Tut mir leid. Schade um die elegante blaue Jacke, sie wird weiße Salzflecke bekommen, wenn sie wieder trocknet. Hier – haben Sie meinen Ölmantel und den Südwester. He – schon wieder ein Brecher, ja, es wird ernst. Die Brise frischt auf. Verdammt mulmig. Ich muß mehr auf die türkische Küste zu kreuzen, denn wir haben die Chiosfelsen zu dicht an Backbord. Der Wind ist »auflandig«, und das ist gefährlich – sehr gefährlich. Sie sehen also, was nützt die schönste Küste, wenn sie keinen Schutz bietet. Das Boot kann auf die Felsen geworfen werden und scheitern. Bei flacher, sandiger Küste? – Dasselbe in Grün. Sie können doch nur soweit heran an die Küste, als Ihr Boot tiefgeht. Und vergessen Sie die gewaltige Brandung am flachen Strand nicht. Das Boot wird zusammengedroschen wie eine Zündholzschachtel. Gerät man also in einen Sturm und ist in der Nähe von Land, ohne die Aussicht, einen Hafen ansteuern zu können, dann gilt nur eine Losung: Raus auf hohe See – dort ist man in Sicherheit! Genügend Seeraum – und ich fürchte keinen Orkan.
Wir verlassen nun die Chiosstraße, hier an Steuerbord sehen Sie schon die Bucht von Kardamyla, wir nehmen bald südwestlichen Kurs und laufen dann vor Wind und See.
Jetzt haben wir auch schon den schönsten Sturm. Wie kommen Sie sich denn vor? – Halten Sie sich irgendwo fest, mein Lieber. Ein alter Seemannsgrundsatz heißt: »Eine Hand für die Sicherheit, die andere für das Schiff!«
Ist es nicht herrlich, ist es nicht so, wie Sie es sich vorgestellt haben?
Achtung!
Wumm – scht – scht ...
Das war ein Brecher – he –
Achtung ...
Wumm – scht – scht ...
Hören Sie ...?
Schauen Sie doch, wie wir die Woge hinaufsteigen – sieht es nicht aus, als wolle der Klüver den Himmel aufspießen ...?
Wie ein Fahrstuhl, meinen Sie, der hinaufsaust und wieder hinabfällt auf einen Gummiball? – Ein treffender Vergleich!
So – halten Sie mal die Ruderpinne, ich hole den Kompaß aus der Kajüte. Er kommt auf das Messinggestell, das Sie vor Ihren Füßen haben. Wenn ich ihn nämlich nicht benötige, versorge ich ihn in der Kajüte, damit er nicht beschädigt wird. Er ist sehr teuer und empfindlich.
Da – schauen Sie zurück. – Sie sehen nichts? Einen Augenblick – nun? Ein Dampfer kommt über einen Wellenberg herauf, seine zerfetzte Rauchfahne wälzt sich auf dem Meer dahin.
Feines Wetter, wie? – Kriegen Sie nun einen Begriff, wie hoch die Wellen sind? Da – sehen Sie, wie der Dampfer sich aufbäumt ... gut die Hälfte seines sicher hundert Meter langen Rumpfes schießt aus dem Wasser ...
Vergessen Sie auch nicht, wo wir sind! Kap Horn, die Nordsee, das Schwarze Meer und diese See hier sind gefürchtete »Ecken«, wie der Seemann sagt. Nehmen Sie dieses Tau hier und binden Sie sich zur Vorsicht fest. Das Boot kann kentern, auch wenn es vor dem Sturme lenzt. Na na – keine Aufregung deswegen – kann kentern, habe ich doch nur gesagt! Rechts – an Steuerbord ist das Eiland Psara, nun erst beginnen die vierundfünfzig Meilen offene See. Pfui – wie das tobt! Lauter soll ich brüllen? – Wenn der Wind so wie jetzt in den Wanten heult, dann hat er achtzig bis hundert Kilometer Stundengeschwindigkeit.
Warum das Boot einmal nach links – einmal nach rechts schießt? – Weil der Wind direkt von hinten kommt.
Sie haben sich gedacht, dies wäre der idealste Segelwind? – Nein durchaus nicht. Der Bug bohrt sich unter der Segellast in die Flut, das Heck dagegen hebt sich in die Luft, und somit verliert das Boot die Führung. Ich sehe schon, ich muß das Großsegel bergen, ehe es zu spät ist. Achtung – ich drehe in den Wind – ein sehr gefährliches Manöver bei solchem Wetter – – –.
Es hat geklappt.
Nur die Fock lasse ich am Vorstag – jetzt laufen wir zwar langsamer, aber vor allen Dingen ruhiger. Wahrscheinlich müssen wir die Nacht über beidrehen und vor Treibanker gehen. Was das nun wieder ist? – Sie werden ja sehen. Machen Sie rechts mal die Klappe auf, dort finden Sie ein Heftchen, in dem allerhand beschrieben ist. So – geben Sie her – nun überfliegen Sie mal schnell dies hier – sprechen kann man sowieso nichts mehr – man versteht kaum noch sein eigenes Wort. Geben Sie aber acht, daß Ihnen der Wind die Blätter nicht zerfetzt!
Ich werde inzwischen etwas essen. Sie haben keinen Appetit? – Glaube Ihnen gerne, daß Ihnen das ganze Essen wieder aus dem Gesicht fallen würde. Wäre schade darum. Haben Sie sich die Stelle gemerkt? Also lesen Sie, was da steht!
»... Ein guter Seemann wartet mit dem Beidrehen nicht, bis die Seen zu steil geworden sind und er das Manöver nur mehr mit mehr oder weniger Gefahr ausführen kann. Hat er aber den Bug herumgebracht, daß er nun die Wellen von vorne nimmt, dann muß er sein Fahrzeug in dieser Lage belassen, und da bedient er sich nun des See- oder Treibankers. Dieses Gerät ähnelt in seiner besten Form sehr einem jener Windsäcke, wie man sie an der Grenze eines Flugplatzes wehen sieht. Es ist ein Sack aus starker Segelleinwand, ein Holzkreuz oder ein Eisenring halten die größere Mundöffnung offen, durch vier kurze, starke Bändsel ist er an einem dicken Tau befestigt, das man am Bug ausfährt. Das scheinbar so Ungereimte der Tatsache, daß der Seeanker voraus ausschwimmt und so Wind und Wellen trotzt, erklärt sich daraus, daß der eben unterhalb der Wasseroberfläche treibende Seeanker nicht vom Wind beeinflußt wird, der auf den ihm zugewandten Freibord des Schiffes auftrifft und dies dann leewärts drückt. Das Tau mit dem Seeanker strammt sich nun, und durch den ausgeübten Druck wird die Nase des Bootes ständig gerade in den Wind hineingehalten, während es sachte leewärts treibt. Solange das Tau hält, läuft das Boot in der gleichen Lage; es bleibt so trocken, daß das Ruder gelascht werden kann und die Besatzung sich hinlegen und gänzlich unbesorgt schlafen gehen kann. Auf dem freien Meer, fern von den Gefahren der Leeküste, ist man also ziemlich sicher ...«
Sie sind also im Bilde? – Dann stecken Sie das Heft wieder weg. Es dunkelt schon, und ich glaube, es wird sowieso bald Zeit, den Treibanker auszufahren. Halten sie wieder die Ruderpinne fest, ich mache ihn inzwischen klar. Für alle Fälle führe ich auch noch Öl an Bord mit, mit dem man die Wellen glätten kann, doch heute brauchen wir es kaum.
So – beigedreht wäre, der Treibanker schwimmt – sehen Sie nun, wie alles geklappt hat? Ja, zwanzig Meter ist das Tau lang. Was wir nun machen? – Erst die Lichter setzen. Dann werden wir Tee kochen und ich muß den längst fälligen Brief an meine Mutter schreiben.
Ob ich auch sicher bin, daß wir nicht überraschend in der Dunkelheit auf Land kommen? – Ziemlich sogar! Sie sehen den Verbindungsstrich auf der Seekarte, den ich von Chios nach Andros gezogen habe. Das sind vierundfünfzig Meilen. Alle halben Stunden habe ich vorhin die Geschwindigkeit geloggt. Um drei Uhr nachmittags haben wir das Kap passiert. Jetzt ist es sechs Uhr. Sechsmal habe ich in dieser Zeit geloggt und dabei eine Durchschnittsgeschwindigkeit von fünf Meilen festgestellt. Drei Stunden sind also fünfzehn Meilen. Ziehen Sie diese Zahl von den vierundfünfzig ab, dann bleiben noch neununddreißig Meilen. So weit ist Andros entfernt. Nun haben wir eine Trift von einer Meile die Stunde, wie ich schätze. Nehmen wir aber an, es würden drei Meilen sein, dann wären es immerhin noch dreizehn Stunden vor dem Treibanker bis zur Küste, vor morgen früh sieben Uhr könnten wir also nicht in Andros sein.
Wie – einfach kommt Ihnen das alles vor?
Ach ja, ich habe ganz vergessen, daß Sie einer von denen sind, die immer schon alles gewußt haben.
Elend schauen Sie aber aus. Ob ich oft in solches Wetter komme? Sehr oft, mein Lieber, aber wie Sie sehen, fürchte ich mich vor dem Ungeheuer Meer nicht. Ich packe es im Genick und ringe es nieder.
Was sagen Sie da? – Eigentlich wäre doch eine verdammte Schweinerei um uns? – Natürlich haben Sie jetzt Heimatgedanken bekommen – rate ich richtig? – Sie sehnen sich nach Musik, Tanz, Mädchen, einer schönen, warmen und trockenen Stube – nach allem eben, was Sie jetzt unmöglich haben können. Ja, ja, ging mir auch oft so, aber jetzt ...
Mir gefällt dieses Leben, das einen Kerl aus einem macht. Ich schlafe schon seit zwei Jahren in diesem Boot auf dem harten Bretterboden, nur eine einzige Decke als Unterlage. Ihnen würde dies zu hart sein? – Verstehe ich!
Übrigens, am Himmel kommen Sterne durch – morgen wird's schön! Wir kommen gut nach Andros. Dann steuern wir hinunter nach Kreta und über das Mittelmeer nach Afrika. Sie werden noch viel Schönes sehen und erleben.
Wie – Sie wollen es sich erst überlegen, noch weiter mitzufahren? – Aber weshalb denn? – Sie waren doch in München so begeistert?
Gefährlich? – Zu viele Strapazen?
Aber es gibt doch auch wirklich schöne Erlebnisse, man muß doch nicht immer das Unangenehme als Muster nehmen, und das Schönste ist ja schließlich – der Kampf!
Ein beschauliches Leben ziehen Sie dem Kampf vor?
Na – Sie schauen auch aus danach.
Ja, in sicherer, weiter Ferne stellt man sich gar manches anders vor, als es in Wirklichkeit ist.
Wenn Sie morgen in Andros das Postschiff nach dem Piräus erreichen, dann können Sie abends noch den Europazug nehmen. In vier Tagen sind Sie wieder in Deutschland. Grüßen Sie die Heimat!
Ein bißchen viel kommt es Ihnen vor, was Sie in den letzten Stunden durchgemacht haben – aber es war nur ein ganz kleiner Teil von dem, was mir bis heute beschieden war.