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Von den Ufern des Stromes war jetzt das linke rumänisch, das rechte bulgarisch. Beiderseits standen in regelmäßigen Abständen Wachtposten, in dicke Pelze eingemummte Gestalten, bei denen das Gefährlichste das Gewehr in ihren Händen war. Durchaus nicht selten brannten sie ihre Schießeisen auf uns ab, besonders die Rumänen taten sich dabei hervor. Daß es keine Salutschüsse uns zu Ehren waren, die da krachten, kriegten wir bald weg, denn die blauen Bohnen sausten unheimlich dicht an uns vorbei; es waren Aufforderungen, zu landen – sofort zu landen. Und da dies den Kerlen oft nicht schnell genug ging, knallten sie so lange, bis sie sicher waren, daß wir nicht abhauen wollten. Nicht selten liefen sie einen ganzen Kilometer über Stock und Stein, durch Schlamm und Pfützen am Ufer mit, bis sie uns hatten. Schicksalergeben zückten wir dann jedesmal unsere Papiere und taten sehr freundlich, denn eine genaue Untersuchung des Bootes wollte ich vermeiden, da ich zwei Gewehre darin versteckt hatte. Wenn diese den Rumänen in die Finger gefallen wären, wäre ich sie losgewesen. Aber die Leute waren harmloser als sie sich gaben. Viele konnten nicht einmal lesen. Versuchshalber hielt ich einmal einem den Frachtbrief hin, den ich noch in der Tasche hatte. Er studierte ihn mit todernster Miene durch und gab ihn mir höflich zurück, er hatte ihn für meinen Reisepaß gehalten. Papiere wollten die Leute also nicht sehen, nein – aber Tabak, Zigaretten, Brot.
Es waren wirklich keine Wegelagerer oder besser Stromlagerer – es waren nur rumänische Soldaten, arme Teufel, die Hunger hatten und nur einige Pfennige Löhnung.
In einer stürmischen Nacht hielt uns wieder ein rumänischer Posten an. Er sprach deutsch, seine Heimat war Siebenbürgen. Zusammen gingen wir zum Wachthaus. Es war eigentlich ein Unterstand, halb in die Erde gegraben, mit Schilf gedeckt. Ein kleines Feuerchen glimmte und knisterte, mehrere Gestalten kauerten im Kreis herum und hielten ihre Hände über die Glut. Wir blieben einige Zeit, um uns aufzuwärmen. Im dürren Schilf über uns raschelte der Wind, dicke Tropfen fielen herab, der Schnee auf dem Dach taute durch die Wärme in der Hütte, und das Wasser suchte seinen Weg nach unten.
Ein abenteuerliches Bild. An den Wänden lehnten Gewehre, das zuckende Licht des Feuers malte bewegliche Schatten auf die Gesichter der herumhockenden Männer. In ihren ruppigen Mänteln und mit den hohen weißen Fellmützen machten sie einen wilden, verwegenen Eindruck.
Wir unterhielten uns mit dem Siebenbürger. Er litt unter der Sehnsucht nach seiner Heimat jenseits der Karpaten, und wenn er auch die Landessprache vollkommen beherrschte, so fühlte er sich unter seinen rumänischen Kameraden doch immer als Fremder. »Es wäre besser gewesen«, sagte er, »unsere Vorfahren wären nie aus Deutschland ausgewandert. Vieles würde uns dadurch erspart geblieben sein. Bis zum Friedensschluß waren wir ungarische Untertanen und heute sind wir rumänische Staatsbürger. Selbst jeder anständige Rumäne muß zugeben, daß unsere Kultur von der seines Volkes verschieden ist, und doch müssen wir uns in das Ganze einfügen. Dazu kommt, daß die Verhältnisse im Lande ein paar Jahre nach dem Kriege noch reichlich verworren sind. Die Ordnung kehrt erst langsam ein. Das kleine Rumänien ist plötzlich sehr groß geworden, und es gibt Leute, die sich Einfluß gesichert haben und Staat und Volk als gute Verdienstquelle betrachten. – Dabei ist das Land, an den westeuropäischen Verhältnissen gemessen, sehr arm. Schauen Sie einmal nur uns Soldaten an, wir bitten Sie um Brot und Zigaretten. Es ist eben nichts da. Sehen Sie« – er wies auf ein paar Holzstücke in der Ecke – »wenn wir hier Feuer haben wollen, dann müssen wir uns das Holz auf irgendeine Weise beschaffen, geliefert wird uns keines. – Unsere Fellmäntel? Bitte, schauen Sie die doch einmal näher an ...«
Er zog seinen Mantel ab und hielt ihn mir hin. Es war ein vollkommen von Motten zerfressener und an vielen Stellen zerschlissener Balg, der in dem eisigen Wind, der draußen fegte, wenig Schutz gewähren konnte.
Wir verteilten an die armen Kerle, was wir an Zigaretten und Proviant entbehren konnten, dann fuhren wir weiter.
Weihnachten stand vor der Tür. Der Strom, das Land, die Sümpfe, die grenzenlosen Einöden waren nur noch eine brausende Weite. Stürme fegten Tage und Nächte vom Norden herunter. Schneeschauer brachten sie mit, und spitze Eisnadeln prasselten gegen Hände und Gesicht, das zur Grimasse gefror. Mast, Tauwerk und Segel vereisten. Die Kajüte gewährte kaum mehr notdürftigen Schutz gegen die beißende Kälte. Man hütete sich ängstlich, irgendein Eisenteil anzugreifen, da sofort die Haut daran klebenblieb. Am Nachmittag des 24. Dezember ankerten wir bei Giurgiu, dem größten rumänischen Petroleumhafen. Gegenüber auf der anderen Seite des Stromes lag das bulgarische Rustschuk. Die Glocken seiner Kathedrale dröhnten feierlich durch die sternenklare, bitterkalte Nacht. Barke hatte mir wirklich Lebewohl gesagt und war fort, nicht ohne sich ungefragt und heimlich mit einigen meiner wichtigsten Ausrüstungsgegenstände versehen zu haben. In Zukunft, schwor ich mir, nie wieder einen Gast im Boot mitzunehmen.
Bei der Familie eines deutschen Schleppsteuermannes gedachte ich die Weihnachtsfeiertage zu verbringen. Aber gerade ins schönste Feiern schlug wie eine Bombe die Nachricht: Eisgang im Eisernen Tor!
Eine Stunde später fuhr ich schon wieder, dreihundert Kilometer trennten mich noch von Braila. Bis dorthin wollte ich in diesem Jahr wenigstens kommen, denn an ein Auslaufen ins Meer war zur Winterszeit doch nicht zu denken, das bescheinigte mir jeder Schiffer, der die Donaumündung kannte.
Durch die Dobrudscha ging es. Rechts stellte sich ein hohes Lehmufer auf, links erstreckten sich die Sümpfe der Walachei. Die Gegend sollte nach den Erzählungen der Schiffersleute nicht recht geheuer sein, denn die Bewohner übten neben ihrem kargen Fischfang auch noch das einträglichere Gewerbe der Flußräuber aus. Die Eisenbahnbrücke von Cernawoda schwang sich hoch über den Strom, als Glied der fünfzehn Kilometer langen Überschienung des Donautales zwischen Bukarest und Konstantza. Wie harmlose Wattebäuschchen trieben plötzlich die ersten Eisschollen daher, schnell wurden es immer mehr, umschlossen knirschend das Boot. Aber Braila war bereits in der Nähe. Kein Schiff war mehr im Strom, alle hatten sich in den Winterhafen geflüchtet, und auch die »Bayern« stellte ich dort unter.
Der Lloydagent hatte Briefe für mich, Briefe, und was noch wichtiger war – Postanweisungen. Ein Schreiben war da von meinem Schwager, der auf einem Gut weit oben in der Moldowa lebte. Ich sollte ihn doch besuchen. Das traf sich gut. Aber Schwierigkeiten hatte ich bis zum letzten Augenblick, Schwierigkeiten, die sich ins Groteske begaben. Ich ging anderntags nochmals zum Strom hinab, um mich in den Winterhafen übersetzen zu lassen, da ich einiges aus dem Boot mitnehmen wollte. Der Eisgang aber war inzwischen derart gefährlich geworden, daß ich nur mit großer Mühe einige Fischer bewegen konnte, mich durch den mahlenden, weißgrünen Brei über den Strom zu bringen. Die Fahrt wurde auch ein Abenteuer. Mehr als einmal schien es, als würde der Kahn erdrückt. Trotzdem kamen wir glücklich am jenseitigen Ufer an. Ich eilte zu meinem Boot, und als ich nach zwei Stunden zurückkam, fand ich keinen Fischer und keinen Kahn mehr vor. Die Kerle hatten mich einfach im Stiche gelassen und waren zurückgerudert. Was sollte ich nun tun? Unmöglich, einen Menschen aufzutreiben, der sich noch auf den Strom traute. Große Geldversprechungen konnte ich nicht machen, sie hätten auch nichts genützt. Sollte ich warten, bis die Donau zufror, um dann zu Fuß nach Braila hinüberzugehen? Das konnte noch Tage dauern. Oder sollte ich warten, bis der Eisgang aufhörte? Auch das war etwas sehr Unsicheres. Dabei wollte ich Silvester unbedingt bei meinen Verwandten verbringen.
Es gab keine Möglichkeit hinüberzukommen. Und im Angesicht der Stadt entschloß ich mich kurzerhand zu einem Umweg von einigen hundert Kilometern. Ich nahm ein Auto, das mich nach Cernawoda brachte. Dort bestieg ich den Expreß nach Bukarest und traf am andern Morgen wieder in Braila ein. –
Nachmittags begab ich mich nach Galatz und am Abend desselben Tages wartete ich im Bahnhof auf den Zug, der mich in die Moldowa bringen sollte. Eine aufgeregte Menschenmenge wogte durcheinander. Der Eigenart des Landes entsprechend waren es zumeist Bauern. In einem überfüllten Wartesaal drängten sich Männer, Frauen, Kinder – Zigeuner, Juden und Soldaten. Sie alle saßen, lagen, kauerten, standen auf den Bänken, auf den Tischen, auf den Fensterbrettern, am Boden. Jeder hatte Bündel und Körbe bei sich – sein Gepäck. Es war kurz vor Neujahr – alles wollte reisen. Der Zug sollte erst in einer Stunde fahren. Ich lehnte in einer Ecke und benutzte die Zeit, die zusammengewürfelte Reisegesellschaft näher in Augenschein zu nehmen.
An den Füßen trugen die Leute Opinschen, eine Art spitzer, aus einem Stück angefertigter Sandalen von Schweinsleder. Um die Waden waren Lumpen gewickelt und mit Spagat festgeschnürt. Der Anzug ohne Form bestand aus braunem Stoff, dem landesüblichen »Sumam«. Über die Ohren hatten sie die Lammfellmütze, die »Katschula«, gezogen. Die Frauen unterschieden sich in ihrer Aufmachung von den Männern nur durch ihren Rock. Die Juden trugen einen schmierigen Kaftan und waren auch sonst an den fuchsroten Bärten und den nach ranzigem Fett duftenden Locken bereits auf Abstand erkenntlich. Nicht viel anders angezogen wie diese Leute schob sich ein Polizist durch die Menge, bloß daß er noch einen braunen Mantel anhatte, ein Wappen auf der Fellmütze und einen knüppelartigen Stock in der Hand, mit dem er jede Widersetzlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes augenblicklich niederschlagen konnte.
Endlich tat sich die Sperre auf. Alles raffte seine Sachen zusammen und stürmte auf die Tür los. Es war verwunderlich, daß die Leute nicht einsahen, wie sie damit nur Verwirrung anrichteten. Die Türöffnung war den Menschenmassen nicht gewachsen, keiner kam durch, Kinder weinten, die Erwachsenen beschimpften sich. Warum nur das alles – um Himmels willen?
Endlich löste sich der Knäuel, ein Wettlauf zum Zug setzte ein. Dort wurde der Kampf, der sich unter der Bahnhofstür abgespielt hatte, fortgesetzt. Jeder wollte der erste sein. Die einen waren schon halb auf der Plattform und zerrten fluchend an ihren eingekeilten Bündeln, andere wollten sie wieder zurückreißen.
Schließlich verlor einer den Halt, fiel herunter und mit ihm ein paar andere, an die er sich anklammern wollte. Vier, fünf Kerle wälzten sich im Schnee, von einigen Dutzend Füßen getreten. Nur gut, daß die Opinschen so weich waren. Inzwischen hatten sich die Schlauen von der entgegengesetzten Seite oder durch die Fenster Eingang verschafft. Auch ich besorgte mir, nachdem ich glücklich in den Wagen eingedrungen war, einen Platz. Ich hatte das Gefühl, auf viele Hände und Füße und in einen Korb getreten zu sein, als ich endlich zufrieden auf einer Bank hockte. Wie einfach und beschaulich hätte sich alles abspielen können, wenn nur die Menschen einigermaßen ihre Ruhe bewahrt hätten. Aber der Zug hatte nur wenige Wagen und jeder machte vom Recht des Stärkeren Gebrauch.
Ein Horn tutete, ein Ruck – der »tren« setzte sich in Bewegung.
In der bitterkalten Dezembernacht hingen die Menschen an den Trittbrettern und Puffern und auf den Dächern. Wer keinen Platz fand, hätte zurückbleiben müssen, ohne daß ihm das Fahrgeld vergütet worden wäre, und die Karte galt noch dazu nur für einen bestimmten Zug! Der Wagen stank betäubend nach Karbol – er war desinfiziert worden, wahrscheinlich von Flöhen, Wanzen, Läusen ...
Noch betäubender stanken die Juden und die Bauern in ihren feuchten Fellkitteln. Die zerbrochenen Fenster erwiesen sich als eine Wohltat, wenngleich ein eisiger Luftzug einem das Gesicht zerschnitt. Ich war eingepreßt und konnte mich kaum bewegen. Mein Nachbar dagegen kratzte sich dauernd, manchmal schob er die Schultern zurück, versenkte die Hand in die so entstehende Öffnung zwischen Hals und Jacke, wühlte darin herum, und wenn er sie wieder herausnahm, zerknüllte er etwas zwischen den Fingern, das er dann achtlos irgendwohin warf.
Im Schneckentempo rumpelte der Zug, blieb auf jeder Station eine Ewigkeit stehen, und überall wollten noch Menschen mitfahren!
Mein Nachbar fragte mich, ob ich ein Njematz sei. Njematz heißt Deutscher, aber der anständige Rumäne sagt German. Njematz ist ein Spitzname. Als ich bejahte, meinte er, daß er auch Deutsch könne und begann eine Unterhaltung, die in Anbetracht seines kaum zwanzig Worte betragenden Sprachschatzes ziemlich geistreich verlief. Er wollte wissen, wie es in Deutschland zuginge, und ob es wohl bald wieder Krieg gäbe. Die anderen mischten sich nun auch ein. Ob wir einen König hätten? fragten sie. Warum nicht? – Wer regierte dann im Land? – Wie viel Lei ein Kilo Schweinefleisch koste? – Wie, es gäbe keine Lei in Deutschland? – Womit bezahlte man dann dort? – Mark? – Wie viele Mark wären eine Lei? ... Wie – was – vierzig Lei wären eine Mark? – Oho – oho ... Sehr ungläubig lachten sie. Ob ich eine solche Mark bei mir hätte? – Zeigen ... – Ich zerrte eine Mark aus der Tasche und zeigte sie. Einer wollte sie haben, als Andenken an mich. Vierzig Lei wollte er mir geben, aber erst dort, wo er ausstiege, denn soviel Geld hätte er nicht mehr bei sich, er müßte sich das erst beim Bahnhofswirt, seinem Bruder, ausborgen. Ich sagte, daß er dazu bestimmt solange brauchen würde, bis der Zug abgefahren sei und ich wäre meine Mark los. Er lachte, sichtlich geschmeichelt, daß ich ihn für so schlau hielt. –
Endlich wurde Tekutsch erreicht. Hier mußte ich umsteigen und auf den Expreß Bukarest–Cernowitz warten. Er kam angebraust – vollkommen überfüllt natürlich. Kurzerhand stieg ich in einen Wagen erster Klasse. Der Schaffner wies mich hinaus. Ich sollte die Differenz und eine Strafe bezahlen, dann hätte ich bleiben können. Das wollte ich nicht, und so mußte ich auf einem Trittbrett weiterreisen, klappernd vor Kälte. Der elende Expreß führte seinen Namen nur zum Schein – er hielt so ziemlich auf jeder Station! Der Schaffner entdeckte mich, nahm mich zur Seite, kramte einige Bücher aus seiner Tasche und bedeutete mir, auf sie weisend, daß er nochmals nachgesehen habe. Wenn ich bereit sei, zwanzig Lei zu zahlen, könne ich auch so in der ersten Klasse fahren. Also ohne Zuschlag und Strafe. Ich verstand schon, was das hieß: »Auch so ...« – Schnell drückte ich dem Manne das Geld in die Hand und übersiedelte in ein warmes, behaglich gepolstertes Abteil. Mein einziger Kummer war nur der, daß diese Gemütlichkeit schon nach einigen Stationen ihr Ende haben würde.
Mein Bestimmungsort war Vaslui – eine kleine Kreisstadt. Als einziger Passagier entstieg ich dem Zuge. Der Expreß eilte weiter, ein Bahnhofsdiener löschte die Lichter, sperrte das Gebäude ab, es war erst drei Uhr morgens. Kein Lokal war offen – alles schlief. Der trübe, flackernde Schein einiger Gaslaternen erhellte dürftig die breiten Wege der Stadt, die mit ihren ebenerdigen Häusern einen traurigen Eindruck machte. Übernächtigt und frierend stand ich da, überlegend, was zu tun war. Fünfzehn – zwanzig Kilometer sollten bis Solesti sein. Ich entschloß mich, sofort zu Fuß loszumarschieren.
Das Nächstliegende war jetzt, einen Polizisten zu fragen, wie man dorthin kam. Nächtlicherweise einen rumänischen Polizisten ausfindig zu machen, ist nicht schwer. Es ist eine eigentümliche Sitte, daß jeder mit einer Trillerpfeife ausgerüstet ist, die er, solange die Dunkelheit andauert, in Abständen von einigen Minuten kräftig in Tätigkeit setzen muß. – In verschiedenen Städten an der Donau, in denen ich eine Nacht verbrachte, war mir schon das unaufhörliche Pfeifen aufgefallen. Schließlich erfuhr ich die Ursache.
Wahrhaftig – andere Länder, andere Sitten. Was für ein Hallo wäre es bei uns in Deutschland, wenn die Polizei solche Konzerte aufführte! Die Herren Spitzbuben würden genau wissen: Ruhe jetzt, bis der Polizist vorüber ist! Mit Feuereifer würden sie dann sorglos ihr Werk fortsetzen, um ja fertig zu sein, bis sich die nächste im Anmarsch befindliche Patrouille durch fröhliches Trillern meldete.
Es dauerte nicht lange und ich hatte zwei stockbewehrte Hüter des Gesetzes zur Strecke gebracht. Einer kauderwelschte etwas Russisch, ich auch, so kam bald eine notdürftige Verständigung zustande.
»Solescht liegt da ...« sagte er und wies mit dem Knüppel in die Richtung. »Wie weit?« wollte ich wissen, »Eine Stunde mit dem Auto ...« – »Und zu Fuß?« – Er besprach sich mit seinem Kollegen. Resultat: Keiner wußte es. Sie entschuldigten sich damit, daß ihre Heimatdörfer auf der anderen Seite der Bahnlinie wären und taten noch ein übriges, indem sie mich ans Ende der Stadt brachten, damit ich den Weg nicht verfehlen konnte. »Hier, geradeaus«, sagte der eine, dann verabschiedeten sie sich. Ich war allein.
Von einer Straße war nichts zu erkennen, hoch lag der Schnee, und die Schlittenspuren waren verweht. Die Stangen der Telephonleitung gaben den einzigen Anhaltspunkt für die Richtung. Dumpf knirschten die Schritte, die letzten Häuser verschwanden bald, da und dort kläffte ein Hund, es ging über eine kleine Bodenwelle, dann lag die Steppe vor mir – Einsamkeit rundum. Manchmal, wenn ich stehenblieb und mich umwandte, sah ich als letztes Zeichen der Stadt einen schwachen Lichtschimmer am Horizont. Es kam vor, daß ich bis über die Knie durch die halbgefrorene Oberfläche des Schnees brach. Ich marschierte, und doch hatte ich den Eindruck, als bliebe ich stehen. Es gab keine Merkmale in dieser weißen, gleichförmigen Landschaft, die das Gefühl der Bewegung in mir hätten hervorrufen können. In nichts unterschieden sich die Telephonstangen voneinander, die erste war wie die hundertste, und diese glich der fünfzigsten. Ein flacher, dunkel gewölbter Himmel hing über mir, als sei eine schwarze Decke über die Steppe gebreitet. Wann kam ein Haus? Ein Baum? Ein Strauch?
Ich marschierte ...
Regungslos schweigende Steppe – die Einsamkeit der Einsamkeiten ... Das Gefühl grenzenloser Verlassenheit überfiel mich; selbst wenn ich hustete, wurde dieser Laut von der Wildnis aufgesogen.
Langsam, langsam graute der Morgen, es wurde hell im Osten, in der Ferne sah ich Häuser, die Straße wand sich im Bogen um einen Sumpf, dann war ich in Solesti. Auf einer Anhöhe stand das Gut ...
Nachdem ich mit meinen Verwandten ein paar Tage lang Silvester gefeiert hatte, richtete ich mich auf längeres Bleiben ein. Aus Braila hatte ich die Nachricht erhalten, daß in absehbarer Zeit kaum Aussicht bestünde, daß die Donau wieder eisfrei würde. Es hieß also überwintern, und ich blieb auf dem Gut. Nun hatte ich Gelegenheit, rumänisches Leben – allerdings nur aus der Perspektive eines Dorfes – näher kennenzulernen.
In dem Dorfe Solesti herrschte fast uneingeschränkt über alle der Pope. Der Bürgermeister, der Gemeindesekretär, der Lehrer, die Gendarmen, die Bauern wagten kaum zu atmen, wenn er geruhte, seinen Blick auf sie zu richten. Es klingt seltsam, aber er hatte beinahe mehr Gewalt über das Volk als die weltliche Obrigkeit. Sein besonderer Freund war der Förster des Gutes, der sonnte sich in seiner Gunst und war daher ebenso unantastbar wie der Pope selbst.
Trotz dieser Tatsachen waren verschiedene wenig ehrerbietige Gerüchte über jene beiden Männer in der Gegend im Umlauf. Sie konnten zwar von bösen Zungen – die es ja überall gibt – in die Welt gesetzt worden sein, aber hartnäckig, wie gerade üble Gerüchte einmal sind, kamen sie nie zum Versickern. Es hieß, der Pope und der Förster sollten dem meist abwesenden Gutsherrn den halben Wald stehlen.
Mit dieser Behauptung war das Gerücht natürlich schon von vornherein als Lüge gebrandmarkt, denn ein Pope stiehlt nicht, und jeder anständige Mensch in Solesti wandte sich empört vor soviel Verleumdung ab. Leider lebten auch weniger anständige Menschen in der Gemeinde, die auf den Popen nichts hielten und für die es ein Genuß war, Schlechtes über ihre Mitmenschen zu hören und es zu verbreiten. Diese räudigen Schafe sorgten mit wahrer Wollust dafür, daß die Gerüchte über den Popen und den Förster nie verstummten. Der letztere sollte die Bäume stehlen, und vom Hochwürdigen erzählte man, daß er der Hehler wäre. Jeder Anständige im Dorfe war bereit zu schwören, daß das Holz, welches Hochwürden bei den nicht seltenen Abendunterhaltungen beim Kaufmann des Dorfes, einem Juden, verhandelte, beim Förster ehrlich gekauft worden war.
Wie schon gesagt, waren dies nur Gerüchte, und die beiden Freunde, denen sie unzweifelhaft auch zu Gehör gelangten, fühlten sich im Bewußtsein ihres reinen Gewissens und ihres wirklichen Ansehens so erhaben, daß sie nicht einmal das Gesetz anriefen, den Verleumdern das Handwerk zu legen.
Der Pope fand noch während meiner Anwesenheit in Solesti ein trauriges Ende. Eines Tages, im Februar, begab er sich in Gesellschaft des Lehrers im Schlitten über Land. Sie waren zu irgendeinem Fest in den Nachbarort geladen. Wie das nun einmal auf Festen ist, wurde auch hier viel getrunken, Wein und Schnaps – roter Wein aus der Moldowa und feuriger Raki, aus Reben destilliert. Es war bereits tiefe Nacht oder frühester Morgen als sie wieder anschirren ließen, um nach Hause zu fahren.
Das Gerücht öffnete später wieder sein böses, zahnloses Maul und behauptete, die beiden wären in dieser Nacht vollkommen betrunken gewesen. Wahrscheinlich hatten sie nur »zuviel Alkohol konsumiert«, und selbst wenn sie dies nicht getan hätten, wäre ihr Ende dasselbe gewesen.
Bekanntlich war der Winter 1928/29 sehr streng. Das Adriatische Meer fror zu und vor den Küsten des Schwarzen Meeres stand meilenweit dickes Eis. In Rumänien trieben die Wölfe ihr Unwesen, in großen Rudeln drangen sie fast jede Nacht in den Gutshof ein.
Wenn ich sie vor den Fenstern heulen hörte, dachte ich mit Grausen an meinen einsamen nächtlichen Marsch durch die Steppe, auf dem mich ein gnädiges Schicksal beschützt hatte.
Am Tage nach der Fastnacht im Nachbarort trafen weder der Pope noch der Lehrer in Solesti ein. Da man beide benötigte, schickte man jemand fort, sie zu holen. Auf halbem Wege fand er den Schlitten: alles was einst in ihm und um ihn gelebt hatte, war nur noch in Überresten vorhanden – die Wölfe hatten gründliche Arbeit geleistet.
Einmal hatte ich in Vaslui zu tun, an meiner Aufenthaltsbewilligung stimmte etwas nicht. Mein Schwager hieß den Schlitten bereit machen, es war Platz in ihm für vier Personen. Zwei Pferde wurden eingespannt. Der Bauer, der den Schlitten lenkte, knallte mit der Peitsche und los ging's. Die zwanzig Kilometer bis zur Stadt lief er in der Gangart der Pferde, bald im Trab, bald im Galopp, nebenher und war durch kein Zureden zu bewegen einzusteigen, denn er war ein Bauer und kein Herr. Es schickte sich nicht für ihn, an der Seite eines solchen zu sitzen. Er war gewohnt, Schläge und harte Worte zu kriegen.
Jahrhundertelange Leibeigenschaft hat den Bauer zu einem willenlosen Arbeitstier gemacht. Vor Jahrzehnten zwar ist die Leibeigenschaft schon gefallen, aber viele Bauern kamen mit der plötzlich erhaltenen Freiheit nicht zurecht, und es wird noch einige Zeit dauern, bis sie ganz erfassen, daß sie dieselbe Ehre und denselben Stolz besitzen wie die Herren, daß sie selber mächtige Herren sind und der wichtigste Bestandteil im ganzen Volke.
Ein Knecht des Gutes, der Knecht Jon Miron, wollte heiraten. Die Vorbedingung für die Durchführung dieses Vorhabens war ein Haus. Ein Haus, das so groß ist, wie bei uns ein Zimmer.
Der Herr hat ihm ein winziges Stück Grund geschenkt, er selbst hat sich ein kleines Vermögen erspart – zweitausend Lei! (Etwa fünfzig Mark.) Umgehend wird der Bau in Angriff genommen. Vier Pfosten werden in die Erde geschlagen. Sie müssen nicht unbedingt gerade und gut gewachsen sein. Das ist nicht nötig. Unter Berücksichtigung von Fenster- und Türöffnungen werden Querhölzer und einiges Geflecht angebracht, worauf die Zwischenräume mit Lehm, der mit Pferdemist vermengt ist, ausgefüllt werden. Im Verlaufe einiger Wochen trocknet der Lehm zusammen, bekommt Risse, die Fensteröffnungen und Mauern schieben sich aus dem Winkel, werden windschief – aber auch das hat nichts zu sagen. Der Besitzer ist wunschlos glücklich, deckt sein Haus mit einem oben spitzen, unter vorspringenden Dach aus Stroh oder Schilf und nagelt sich aus gewöhnlichen Brettern Fensterstöcke und Türen zusammen.
Das Bauernhaus ist fertig. Es ist nach unseren Begriffen nur ein Schuppen, eine Hütte. Aber Jon Miron legt wenig oder gar keinen Wert auf die Schönheit oder Bequemlichkeit seines Heimes, ihm genügt die Tatsache, daß er einen Unterschlupf gegen die Witterungsunbilden hat. – Als Wandschmuck werden in der Regel einige Bogen Papier erstanden, mit farbenreichen Darstellungen von Begebenheiten aus der Geschichte des Landes. Ist ein gewisser Wohlstand vorhanden, so werden auch einige Teppiche gewebt und ausgebreitet. Das Kochgeschirr besteht aus einem eisernen Kessel, in dem die tägliche Mameliga – der Maisbrei zubereitet wird. Öfen kennt man nicht, gekocht wird auf winzigen Holzkohlenfeuerchen. Gegessen wird mit Holzlöffeln. Zum Schlafen ist der festgestampfte Lehmboden da. Frieren braucht keiner, denn man rollt sich in dicke Decken und außerdem erachtet man das Auskleiden als vollkommen überflüssig. Wohlhabende Leute haben ihr Haus in zwei oder gar drei Räume geteilt und lassen aus Dorngestrüpp einen Zaun um ihr Grundstück flechten.
Eines Tages starb einer im Dorf – ich glaube, er hatte schon gegen die Türken gekämpft. Auf Grund dieser Tatsache kam wohl auch eine Militärkapelle aus Vaslui. Der Trauerzug formierte sich. Vorneweg marschierte die Musik. Die Soldaten spielten ohne alle Noten, aber ausgezeichnet. Die große Trommel wurde von einem Eselchen geschleppt und ein ungefähr zehnjähriger Knabe in Uniform schlug sie. Anschließend gingen einige Zigeuner, die auf großen Tellern flache Kuchen trugen. Hinter diesen wieder schritt singend und näselnd, ein Rauchfaß schwingend, der Pope. Um seine Schultern hing ein goldverbrämter Mantel und eine hohe schwarze Mütze saß auf dem langen Haar, das im Nacken zu einem Knoten gebunden war. Dann folgte der Tote im offenen Sarg, der von einem halben Dutzend Männer getragen wurde. Am Grabe angekommen, drückte jeder der Leidtragenden der Leiche den üblichen letzten Kuß auf die Stirn, dann, nach verschiedenen Zeremonien und nachdem ein Geldstück in den Sarg gelegt worden war, wurde er geschlossen und in die Erde gesenkt. Den Abschluß der Feierlichkeiten bildete die Verteilung der Kuchen an die Trauergäste. Der Pope wurde für seine Bemühungen mit Teppichen, Holz, Wein und Getreide beschenkt.
Ja, es war wirklich abwechslungsreich, das Leben zwanzig Kilometer nordöstlich von Vaslui und vierzig Kilometer westlich vom Pruth. Wenn auch die kurzen Wintertage grau und trostlos über das Dorf hinwegdämmerten, wie überall in den Einöden des Ostens – für mich vergingen sie bunt und rasch.