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Eroberte Ferne

Wasser bis zum Horizont, nur im Westen an Steuerbord ein heller Saum zwischen Himmel und See – die Küste, sehr fern.

Wie ganz anders war nun die Fahrt über das Meer, als auf dem Strom. Keine Grenzen mehr, kein Leben ...

Nun erst kam mir der Begriff »Segeln« in seiner ganzen Eigenart zum Bewußtsein, dieses vollständige Anpassen und Ausgeliefertsein an das Element, an Wind, Wasser, Regen, Sturm – restlos verbunden mit der Natur. Rastlos drängte sich der Bug der »Bayern« durch die hellgrüne Flut. Die Tage gingen dahin. Nirgends verweilte ich, nur des Nachts verbrachte ich einige Stunden in irgendeiner Bucht, um mit dem Morgengrauen schon wieder die Anker zu lichten. Das Land an Steuerbord war bulgarisch geworden, am Kap Kara Burun vorbei zog mein Kielwasser. Kap Burun gehörte schon zur Türkei. Der Bosporus war nahe.

Eine Nacht noch ...

Ich lief kein Land mehr an. Übermüdet und frierend kauerte ich in meiner Ecke. Ich hatte wenig geschlafen seit der Abfahrt von Sulina. Leise schwankte und kreiste die Kompaßscheibe im dürftigen Schein der Petroleumlampe.

Dunst lag über dem wogenden Meer und verhüllte die Sterne. Vier Uhr früh. Blendete – blinkte da nicht etwas – Licht ...? – Nochmals – wieder ...

Ein Leuchtfeuer bestimmt ...

Achtung, Land! hieß das – Klippen, Riffe im Wasser!

Es war Rumeli Feuer – die Einfahrt in den Bosporus war erreicht. Noch eine Weile, dann wuchs eine Felsenküste aus der See. Ich warf die Anker über Bord, um bis Tagesanbruch mit der Weiterfahrt zu warten. Es wäre gut gewesen, etwas zu schlafen, aber erwartungsvolle Unruhe im Blut vertrieb die Müdigkeit. Ich machte mir's bequem und vertilgte den Inhalt einer Konservenbüchse, der letzten, die ich noch von der Heimat her hatte, und meine Gedanken durcheilten wie schon sooft die bis jetzt bewältigte Strecke. Wenn sich die Nebelwand verflüchtigte, mußte ich die Küste Kleinasiens sehen. Dieser Gedanke kam mir seltsam unwirklich vor, und doch war ein Traum zur Wirklichkeit geworden.

Ich hatte es geschafft! Ich stand vor dem Ausgang ins Mittelmeer, in dem sich die Wege nach Ostasien und zum Atlantik schieden.

Hinter mir lag das Schwarze Meer.

Nebel und Dunst begannen sich zu lichten, die Konservenbüchse flog im Schwung über Bord, Wimpel und Flagge stiegen in den Mast; der Tag rüstete sich.

Zaghaft und schüchtern erhellte sich erst der westliche Himmel, während im Osten zartes Orangerot aus tiefem Dunkelblau entstieg, und als der Schein im Westen wieder verging, züngelten plötzlich purpurrote Flammen im Osten auf, die bald in leuchtendes Gelbrot hinüberlohten. Immer gelber wurde es – hellgelb – grüngelb – grün ...

Bis endlich ein zartes Blau das strahlende Sonnenrad umhüllte. So wurde es Morgen am Bosporus.

Erschüttert hatte ich das herrliche Naturschauspiel bestaunt, und eine Ahnung der Wunder, welche ich auf meiner ferneren Reise schauen sollte, erfüllte mich.

Auf zum Goldenen Horn!

Ein Märchentraum erstand vor meinen Augen, weiß, schimmernd, mit Burgen und Palästen, mit hellen Zinnen und schlanken Minaretten, die wie die Stiele einer Wunderblume in den Himmel schossen. Dunkle, ernste Zypressenhaine machten sich auf den beide Erdteile säumenden Höhen breit. Europa – Asien, nur getrennt durch einen schmalen, natürlichen Kanal – den Bosporus. Die Wellen waren so klar, daß man zwanzig bis dreißig Meter tief auf den Grund sah, auf dem Muscheln und Seesterne blinkten. An seichten Stellen leuchtete die Flut smaragdgrün. Rasche Segelboote – weiß, blau, grün, rot, gelb – ganz nach der Phantasie ihrer Besitzer bemalt, durchschnitten mit spitzen, bunten Segeln die See, die leicht bewegt war und von der ein so starkes Strahlen ausging, daß ihr Widerschein als dumpfes Blau und Grün auf der Schattenseite der Segel vor dem Firmament sich abhob. Alles leuchtete und strahlte hier, Land – Himmel – Meer ...

Hin und wieder kam ein leichter Windstoß und kräuselte in scherzhaftem Spiel die weite Fläche. Die Dünung strich dann längs der Küste über Riffe, die unter dieser Bewegung wie von einem Schleier zahlloser schäumender Perlen überdeckt wurden. Auf den Ufern sproßte es grün, Palmen neigten sich, groß, schlank und majestätisch. Schwerer, süßer Duft südlichen Frühlings schwebte in der Luft. Zwischen Felsen und Mauern strebte wucherndes Gebüsch mit brennend gelben und roten Blüten empor. Mächtige Seeschiffe fuhren ins Schwarze Meer hinaus oder kamen von dort. Aufgeregt pfeifend und sirenenheulend eilten kleine, flinke Lokaldampfer von Landesteg zu Landesteg der zahlreichen Orte am Ufer. Elegante Segel- und Motorjachten schaukelten sich, riesigen Schwänen gleich, vor Bojen und Ankern, über all dem verschwendete die Sonne Licht, Licht, Wärme – maßlos viel Wärme.

Hier schien wirklich das Paradies der Leute zu sein, denen es gut ging. Wenn ich sieben Tage zurückdachte – an die rauhen, grauen Donausümpfe –, so kam es mir fast vor, als sei ich in ein Wunderland geraten.

Bescheiden drückte sich die »Bayern« der europäischen Küste entlang ihrem Ziele zu. Ruppig und struppig, wie sie geworden war, merkte man ihr kaum noch an, daß sie bessere Tage gesehen hatte. Ihr einst so schöner Anstrich war unansehnlich geworden, fleckig, abgewaschen und verkratzt. Festgebackener Donauschlamm verunstaltete ihre Bordwände auf grausame Weise. Der Segeltuchbezug des Verdeckes hatte von der Spitze des Bootshakens verschiedenes abgekriegt. Das einst so blendendweiße Großsegel wies als Andenken an die Überwinterung greuliche Stockflecke auf, und der Kapitän selbst trug einen wilden Stoppelbart, während seine Kleider und Schuhe weiß ausgelaugt waren vom Seewasser. Über dreitausend Kilometer Fahrt durch Winter, Eis und Schnee, auf endlosem Strom und über das Schwarze Meer lagen hinter uns, und all das mußte letzten Endes unser mitgenommenes Aussehen entschuldigen.

Knatternd flitzte ein Motorboot heran, Uniformen darin – gewiß türkische Polizei! Am Bug stand ein baumlanger Araber, der mit einem Bootshaken nach der »Bayern« angelte und auf diese Weise dem Verdecksbezug ein paar neue Löcher beibrachte. Hatte ich erwartet, mit Salem Aleikum begrüßt zu werden, wie man sich das in Deutschland allgemein denkt, so wurde ich enttäuscht. Die Polizisten salutierten. »Sabach hair olsun!« rief der Araber, und das sollte guten Morgen heißen.

»Aleman?« war die erste Frage, und dann ging es französisch weiter: »D'ouvenez-vous, monsieur – ou est-ce que vous allez – votre passeport s'il vous plait – le manifest – le patent sanitair ...«

Zuvorkommend wurden rasch alle Formalitäten erledigt. Mühselig malte einer ein paar lateinische Buchstaben darstellende Hieroglyphen in den Paß. Leise fluchte er dabei vor sich hin. Die fränkische Schrift sollte doch der Schaïtan holen. Vor kurzem erst hatte der Ghazi den Erlaß herausgegeben, daß es bei Strafe verboten ist, die bislang in der Türkei gebräuchliche arabische Schrift fernerhin anzuwenden. Da hieß es umlernen. Selbst die alten Großväter mußten daran glauben und neben ihren Enkeln nochmals auf die Schulbank, um die abscheulichen Zeichen der Ungläubigen zu erlernen.

Freundliches Händeschütteln, alles in Ordnung. Das Polizeiboot jagte davon, ich konnte die Fahrt fortsetzen. Gegen Mittag erhob sich die imposante Wasserfront Konstantinopels vor meinen Augen, die drei Stadtteile Pera, Galata und Stambul. Eine Menge Boote und Schiffe lagen auf der Reede, und ich mußte lange herumsuchen, bis ich meinen Anker fallen lassen konnte.

Nun rastete die »Bayern« endlich nach langer Fahrt zwischen Fahrzeugen aller Art, jeder Nationalität und verschiedenster Gerüche. Kohlenstaub, Küchenabfälle, tote Fische, Öl, Schlamm und andere unnennbare Dinge bedeckten das Wasser – die erstandene Romantik war plötzlich weggeblasen – oder sollte sie das erst sein?

Immer hatte ich mich darauf gefreut, dem ersten Landsmann in Konstantinopel zu begegnen. Da war er auch schon. Ich kramte eben in der Kajüte herum, als ich eine deutsche Stimme hörte: »Wo kommen Sie denn her – mit Ihrer – hm – Ihrer Jacht?« – Etwas gereizt sah ich nach oben, denn meine biedere »Bayern« war keine Jacht, und wenn sie einer so betitelte, dann führte er den Spott im Schilde. Eine Gestalt stand auf der Kaimauer aufgebaut, die in jeden Urwald besser als nach Konstantinopel gepaßt hätte. Ein derber Khakianzug umhüllte eine lange, hagere Figur, die Füße waren mit Schaftstiefeln bewaffnet, und das Gesicht beschattete ein Tropenhelm – vermutlich der einzige in ganz Konstantinopel.

»Ich komme von Deutschland«, antwortete ich kurz angebunden.

»Nicht möglich«, stotterte der andere. »Mit diesem sind Sie über das Meer gefahren? Das glaube ich nicht – und, wenn es wahr ist, so ist es doch höchst gefährlich. Beinahe eine neue Art, Selbstmord verüben zu wollen, das ist ja entsetzlich ...«

»Lieber Mann«, unterbrach ich ihn, »sparen Sie doch Ihre Gefühle. Wieso verirren denn Sie sich hierher, wenn man fragen darf?«

»Ich mache eine Mittelmehrfahrt mit der ›Lützow‹ –.«

»Na, sehen Sie, und ich mache eben eine Weltreise mit der ›Bayern‹. Sie brauchen ja nicht mitzukommen ...«

»Aber – aber«, zweifelte er.

»Aber – aber, jetzt lassen Sie mich schön in Ruhe, oder haben Sie vielleicht etwas zu rauchen bei sich?«

Natürlich hatte er etwas zu rauchen. Eifrig griff er in die Brusttasche und brachte ein Zigarrenetui zum Vorschein, das er aufklappte und mir hinhielt: »Deutsche Zigarren ...«

Ich griff ungeniert zu und steckte eine Handvoll ein. Das war zwar eine Frechheit, aber der Mann hatte mein Boot beleidigt, und wie hätte ich ihn sonst anders ärgern können? – Dann legte ich herablassend den Zeigefinger an den Mützenrand und ging mit landungewohnten Schritten davon, während der Mittelmeerreisende etwas von Unverschämtheit und Leuteanschwindeln murmelte.

Ich liebe keine Beschreibungen von Städten, das besorgt in einwandfreier Weise der Baedeker. Abgesehen davon renne ich auch nicht mit dem Reiseführer unter dem Arm von Straße zu Straße, von Platz zu Platz, von Denkmal zu Denkmal und von Museum zu Museum, um in den nächsten zehn Städten genau dasselbe zu tun. Auf diese Weise merke ich mir nämlich gar nichts. Ich schlendere, so wie mir gerade der Sinn steht, vielleicht fünfmal durch dieselbe Gasse, fahre kreuz und quer mit der Straßenbahn, falls es eine solche gibt, esse unter Umständen in einer Spelunke zu Mittag, bewundere zwischendurch auch ein schönes Bauwerk, schaue am liebsten in die Volksseele hinein und bilde mir eine eigene Meinung, die nicht von Baedekersternen vorgeschrieben ist.

Konstantinopel vertrat wohl den Orient, aber weder richtig die Türkei noch Asien. In ihrer Bauweise machte die Stadt auf mich einen griechischen Eindruck, und es kann ruhig gesagt werden, daß, flüchtig betrachtet, das Leben in den mohammedanischen Gebieten Bosniens – zehn D-Zugsstunden von München entfernt – mehr türkisch anmutet, als in der einstigen Hauptstadt der Türkei selbst. Ich stellte fest, daß das weltberühmte Goldene Horn wohl aus der Vogelschau einem Horn gleichen mochte, daß es aber ansonsten alles andere als golden war. Eine Flußmündung zwischen den Stadtteilen Galata und Stambul, graues, trübes, beinahe stehendes Wasser, auf dem Tausende von Fahrzeugen aller Gattungen schwammen. An den Ufern zogen sich verfallende und verlotterte Häuserfronten hin, Schiffswerften, Werkstätten, Docks, Arsenale und Lagerplätze. Schlamm- und tangbewachsene Wracks faulten im Wasser, rostige Konservenbüchsen brannten vom seichten Grund herauf, wo das Wasser etwas klar war, Fischernetze und Segel waren zum Trocknen da und dort aufgehängt.

Vielleicht mag das Horn früher einmal wirklich golden gewesen sein, als die Hagia Sofia, die vielen Moscheen, der Serail, die riesigen unterirdischen Zisternen und gewaltigen Säulenhallen noch in Pracht und Blüte waren, und die einzigartige Schönheit der Bauten noch nicht von jener Rücksichtslosigkeit verdrängt war, die man stets in orientalischen Häfen antrifft, deren Tradition mit aller Roheit zerstört wurde und deren moderne Gewohnheiten und Einrichtungen lediglich dem Geiste einer raffinierten Geschäftigkeit dienstbar sind.

An der großen Brücke zwischen Galata und Stambul fielen mir Tafeln auf, welche die eigenartige Aufschrift trugen: »Achtet auf die Diebe!« Gemeint sollten aber nicht jene ehrenwerten Männer sein, die mit langen, taschenlosen, steifleinenen und bis auf den Boden reichenden Überkleidern angetan und Büchsen in den Händen, die Brücke in ihrer ganzen Breite absperrten und von jedem Passanten einen Piaster Zoll einhoben, sondern die Taschendiebe, welche sich die Brücke, als den Platz des größten Gedränges, zum Arbeitsplatz ausersehen hatten.

Während mich das internationale Pera- und Galataviertel nicht sehr anzog, interessierte mich besonders der Stadtteil jenseits der Brücke – Stambul. Dort war der Basar, dort fand man noch am meisten Eigenart, Orient, Türkei und einen Hauch von Asien. Sämtliche Gewerbe und Geschäfte waren vertreten, die Gäßchen waren eng und schmutzig, Autos zwängten sich hindurch, Eselskarawanen zogen dahin, Radfahrer schaukelten von einer Vertiefung des groben Pflasters in die andere, Lasten- und Wasserträger schrien mit heiseren Stimmen um Platz, Limonadenverkäufer mit einem blitzenden Messingkessel am Rücken und Gläsern in der Hand boten für ein paar Piaster ihre Erfrischungen an. Läden nach westlichen Begriffen gab es nicht, es waren einfache Buden, bei denen tagsüber die ganze Vorderwand herausgenommen wurde. Da war ein Barbier, ein auf einer Stange ausgestecktes Handtuch kennzeichnete sein Gewerbe, dort ordinierte ein Arzt in der Öffentlichkeit. Rechtsanwälte, die keine Kanzleien hatten, hielten in irgendeiner Kaffeebude sitzend Sprechstunde ab. Wahre Künstler waren die Handwerker. Ihnen zuzusehen lohnte es sich, Stunden zu opfern. Kupferschmiede, Klempner, Gold- und Silberarbeiter, Schneider, Drechsler übten in echt orientalischer Unbekümmertheit auf offener Straße ihre Gewerbe aus. Fassungslos stand ich vor einer Drechslerbude. Wenn doch mein Vater, der ja vom Fach war, seinen türkischen Kollegen hätte sehen können!

Der Mann kauerte am Boden vor einer kleinen, mehr als primitiven Drehbank, in welcher das zu bearbeitende Stück Holz eingespannt war. Um eine Trommel neben dem Schwungrad war eine Schnur gewickelt. Riß er nun mit der Hand an ihr, so setzte sich das Rad in Bewegung, die Trommel mit der Schnur aber rollte sich durch eine Federvorrichtung selbsttätig wieder auf, so daß sich der Vorgang immer wiederholen konnte und die Maschine stets in Bewegung blieb. Das wäre an sich wohl etwas Merkwürdiges, aber nichts Überwältigendes gewesen. Das Einzigartige aber war, daß der Mann mit der linken Hand die Maschine trieb, mit der Rechten und den Zehen des linken Fußes den Drehstuhl hielt und mit den Zehen des rechten Fußes sich je nach Bedarf verschiedene Werkzeuge herbeiholte oder sie weglegte. Der ganze Arbeitsvorgang spielte sich mit verblüffender Geschwindigkeit ab, und die fertiggestellten Teller, Vasen und Pfeifenrohre sahen vollkommen einwandfrei aus.

Die Fleischer hängten ihre Ware vor den Buden auf, unzählige Fliegenschwärme, die erst im nächsten Abfallhaufen herumgekrochen sein mochten, ließen sich auf das Fleisch nieder, Köche übten ihr Gewerbe in zwei, drei Töpfen aus, mit kleinen Holzkohlenöfchen bereiteten sie die Mahlzeiten auf offener Straße. Zerlumpte Bettler stellten ihre Gebrechen zur Schau, Mist von Pferden und Eseln lag überall herum, Obst, Gemüse, Käse, Butter, Brot und allerhand Gewürze wurden feilgehalten. Jeder betrachtete sich die Sachen, ehe er kaufte, mit den Fingern.

Penetranter Geruch schwebte über all dem. Es war wirklich fabelhaft interessant, bloß empfindlich durfte man nicht sein.


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