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ERSTES BUCH.

ERSTES KAPITEL.

AM STERBEBETTE EINER MUTTER.

Um die moosbewachsenen Giebel der alten Försterei rauschten die Tannen im Westwinde. Einzelne schwere Regentropfen schlugen gegen die Fenster und verkündigten den Bewohnern des Hauses den Anzug eines Gewitters. Es war bereits spät am Tage. Das am westlichen Horizont heraufziehende schwarze Gewölk breitete die Schatten der Nacht über Berg und Wald, und die ohnehin etwas abgelegene Försterwohnung war jetzt abgeschnitten von der ganzen übrigen ziemlich stark bevölkerten Gegend.

In einem großen Zimmer dieses Hauses, dessen Wände mit künstlich zusammengefügtem Holzgetäfel bekleidet waren, liegen zwei Frauen vor den zurückgeschlagenen Vorhängen eines Himmelbettes auf den Knien. Beide sprechen mit halblauter Stimme Gebete, während ihre thränenerfüllten Augen auf den bleichen Zügen einer Sterbenden ruhen, die nur noch schwach athmet.

Das knarrende Geräusch einer sich öffnenden Thür macht jetzt eine der Knienden auf und umblicken, und wir sehen in ein blutjunges, interessantes Gesicht, das, von dem vollen Strahle einer hellbrennenden Lampe getroffen, rosig erglüht. Eine große, hagere Frauengestalt, in durchaus unmoderner Kleidung tritt ins Sterbezimmer. Die rechte Hand der Eintretenden halt eine niedrige Messinglampe, die linke einen großen Schlüssel. Ihr Gesicht ist ernst, der Blick scharf und hart, und die schmalen, festgeschlossenen Lippen lassen vermuthen, daß Entschlossenheit zu den vorherrschenden Eigenschaften derselben gehört.

Die Lampe auf den Sims des großen Kachelofens stellend, der einige Fuß vom Himmelbett entfernt in der östlichen Ecke des Zimmers steht, nähert sich diese hagere Frau mit großen Schritten den Knienden, beugt sich über das junge Mädchen gegen das Bett und sagt kalt und herzlos:

»Ist sie wirklich hinüber?«

Das junge Mädchen bricht bei diesen Worten in lautes Schluchzen aus, die neben demselben kniende Frau aber, reich und modisch gekleidet, steht auf, legt ihre Hand auf die Stirn der leise Röchelnden und versetzt:

»In wenigen Minuten wird sie ausgelitten haben.«

»Nun, ich gönne ihr die Ruhe von Herzen,« sprach die Hagere. »Jetzt, denk’ ich, soll es hier aus einem andern Tone gehen!«

»Katharine!« erwiderte die Dame, einen sprechenden Blick auf das junge Mädchen werfend, das ihr Gesicht schluchzend in die Bettlaken verbarg. »Die arme Hildegarde wird die Mutter schwer genug vermissen, denn mir scheint, Freunde hat das weichherzige Kind unter denen, die sie unmittelbar umgeben, sehr wenige:«

»Gnädige Frau Baronin,« versetzte in entschiedenem Tone auf diese Bemerkung Kathrine, »wenn ich meiner Nichte keine Schmeicheleien sage, so geschieht es, weil ich ihr wohl will und wünsche, daß sie dereinst eine brave Hausfrau und Mutter wird. Unter Liebe verstehe ich etwas ganz anderes, als was gewisse hochgebildete Personen, mit denen ich mich allerdings nicht messen kann, dafür halten. Ich will immer das Rechte und das Gute; wo ich aber sehe, daß man mit Unrechtem und Ungutem Schleichhandel treibt, da lehne ich mich mit aller Gewalt dagegen auf, ohne viel zu fragen, ob ich Vornehm oder Gering dabei auf die Zehen trete!«

Kathrine Frei, die Schwester des Försters, dessen Frau in diesem Augenblicke ihre Seele aushauchte, rauschte an der Baronin vorüber, legte ihre hagere knochige Hand auf das Herz der Sterbenden und bewegte dann ihr ausdrucksvolles, scharfes Gesicht mit den unbeweglichen, harten Zügen, als wolle sie sagen: Freilich, die hat auf Erden nichts mehr zu schaffen.

»Meine gute, liebe Mutter!« schluchzte die kaum sechzehnjährige Hildegarde, indem sie aufstand und der Todten die erkaltende Hand küßte. »Was soll nun aus mir werden!«

»Eine tüchtige Hausfrau, mein Kind,« versetzte die Tante. »Richte dich nur in allen Dingen von heute an nach mir, und es kann dir nicht fehlen. Ich verlange nicht, daß du deshalb deine Liebhabereien ganz aufgibst, nur die Hauptsache dürfen sie nicht sein. Bedenke stets, daß du eines unbemittelten Försters unbemittelte Tochter bist, keine reiche Erbin, auch kein vornehmes Fräulein! Sobald du dir das recht klar machst, verlieren sich die unzehörigen Gedanken von selbst, und du wirst erst anfangen wirklich zu leben. Versprich mir das, Hildegarde, und gib mir darauf deine Hand!«

Das junge Mädchen war offenbar unschlüssig, die etwas milder als gewöhnlich klingenden Worte ihrer Tante aber machten doch Eindruck auf Hildegarde, und so streckte sie Kathrine ihre kleine, schlanke Hand entgegen. Kathrine hätte dieselbe auch ergriffen, wäre nicht die Baronin rasch dazwischengetreten.

»Um Himmels willen kein bindendes Versprechen, Hildegarde!« rief sie aus. »Ich weiß, welche Qualen sich an ein solches Versprechen knüpfen können, und will, so weit ich es vermag, dich vor ähnlichem Leid bewahren! Du stehst unter meinem Schutze – ich habe es deiner seligen Mutter mehr denn hundertmal versprochen! Nur mit meiner Bewilligung –«

»Halten zu Gnaden, Frau Baronin,« fiel Kathrine Frei hier mit spöttischem Lächeln ein, »meine verewigte Schwägerin mag Ihnen versprochen haben, was sie wollte, so weit kann ihre Abneigung gegen mich doch wohl nicht gegangen sein, daß sie noch kurz vor ihrem Tode Sie, meine Gnädigste, beauftragt hat, in diesem Hause, wo ich walte und so gut es gehen mag zur Ordnung sehe, Unfrieden stiften sollen.«

»Mademoiselle Frei,« erwiderte die Baronin, »in das Reich, wo Sie heimisch sind und wo Sie sich wohl befinden, werde ich keinen Fuß setzen. Ich bin in dieser Hinsicht ebenso geartet, wie es meine unvergeßliche Freundin, die selig entschlafene Cornelie, war. Und eben, um Ihnen die unbeschränkte Herrschaft in diesem Reiche zu lassen, wollte ich nach dem Wunsche Corneliens deren Kind vor dem Betreten desselben warnen!«

Kathrine Frei biß die Zähne so fest zusammen, daß die Lippen nur noch zwei dicken Linien glichen. Ihre großen, tiefliegenden grauen Augen funkelten unheimlich. Sie erhob ihren langen dürren Arm und schwang drohend den Schlüssel, den sie noch nicht weggelegt hatte, gegen die Baronin.

»Wir kennen uns,« sprach sie fest, »und wir werden uns hoffentlich noch besser kennen lernen!«

Dann beschrieb sie einen Kreis rund um sich und setzte ebenso energisch als kalt hinzu:

»Hier ist mein Reich, gnädige Frau Baronin, und ich will doch sehen, wer mir dieß streitig machen kann! Hildegarde ist ein Kind, leider ein arg verzogenes Kind. Sie weiß nichts, sie lernt nichts, sie will nichts lernen, und mein Bruder –«

Ein starker Blitz, der durch die unverschlossenen Fenster leuchtete, unterbrach die Sprechende. Gleichzeitig schlug der Regen prasselnd an die Scheiben, und ein lautes, ungestümes Klopfen an der Hausthür ließ sich hören. Die große Wanduhr auf dem Vorplatze schlug zehn.

»Es ist Frei,« sprach Kathrine, sich der Thür zuwendend. »Ich will ihm öffnen und ihn auf das vorbereiten, was sich während seiner Abwesenheit hier zugetragen hat.«

Sie nahm die Messinglampe vom Ofensims und verließ das Sterbezimmer. Kaum war die Thür hinter der Fortgehenden zugefallen, als Hildegarde leidenschaftlich beide Arme um den Nacken der Baronin schlang und mit tiefer, aus innerster Seele kommender Bewegung ausrief:

»Retten, ach retten Sie mich!«

Thränen erstickten die Stimme des jungen Mädchens, das die Baronin, eine Dame von einigen vierzig Jahren, mit liebevollen Worten zu beruhigen suchte und wiederholt unter Küssen umarmte. Das alte, baufällige Haus erbebte unter heftigem Donnerschlage, der, vielfach in den Waldschluchten sich brechend, nur langsam verhallte.

»Deine Tante kann dir nichts anhaben, lieb Herzchen,« sagte die Baronin, »sie wird es auch gewiß nicht versuchen, wenn sie erst sieht, daß sie auf heftigen Widerstand stößt. Laß mich nur sorgen, mein Liebchen! Mit deinem Vater werde ich sprechen, sobald die Selige bestattet ist. Bis dahin unternimmt Kathrine nichts, denn sie hat ja Wichtigeres zu thun.«

Ein bitteres Lächeln glitt über die etwas schlaffen Züge der vornehmen Frau, indem sie fortfuhr: »Sie muß ja das Leichenmahl besorgen, und da hat eine tüchtige Wirthin, wie deine Tante, zu andern Dingen keine Zeit übrig. Wie könnten auch Kuchen gerathen, die sie nicht selbst einrührt und knetet? Und dann gibt es Ochsenzunge zu kochen und Reis zu backen, und das versteht wieder niemand besser oder nur so gut als die unübertreffliche Mademoiselle Kathrine Frei!«

»Meine liebe, liebe, unvergeßliche Mutter!« schluchzte Hildegarde.«

»Still, still, mein Liebchen!« sprach die Baronin in schmeichelndem Flüstertone. »Ich werde dir die Mutter ersetzen, solange ich kann, und ich denke, du hast Vertrauen zu mir und liebst mich ein wenig.«

»Warum können Sie nicht meine Tante sein!« rief Hildegarde in kindlicher Zerknirschung. »Wie lieb wollte ich Sie haben, wie wollte ich Sie pflegen!«

Seufzend versetzte die Beschützerin der Försterstochter:

»Das sind die Launen des Schicksals, denen wir uns alle, auch die Allerglücklichsten, fügen müssen! Aber jetzt fasse dich und gib dir keine Blößen! Wenn du still und besonnen bleibst und meine Winke beherzigst, wird es uns schon gelingen. – Ich spreche mit deinem Vater, sobald ich ihn zugänglich finde.«

»Der Vater hält viel von der Tante,« bemerkte Hildegarde schüchtern. »Sie hatte auch immer große Macht über ihn.«

»Leider, leider!« versetzte die Baronin. »Indeß das kann sich ändern.«

»Jetzt? Nun die Mutter nicht mehr dagegen wirken kann?«

»Gerade deshalb, mein Kind! – Die Männer sind seltsam geartete Menschen. Sie thun am liebsten das nicht, wozu man ihnen räth. Auch dein Vater macht, so eigenthümlich er sonst auch von Charakter ist, doch in dieser Beziehung keine Ausnahme. Wenn man nicht immer mit Vorstellungen auf ihn einstürmt, läßt er sich ganz unmerklich leiten. Das war es, was deine treffliche Mutter nicht verstand und wodurch sie viel verdarb. Jetzt, nun die Unvergeßliche uns verlassen hat, wird auch dein Vater die Lücke gar schmerzlich empfinden, die ihr Hinscheiden in unser aller Leben gerissen, und er wird für manches, das er früher gering achtete, empfänglicher werden. Nur hüte dich ja, mein Kind, seinen Liebhabereien entgegenzutreten! Das versäumte Cornelie ebenfalls und gerade dadurch machte sie ihn widerspenstig. – Ich weiß ganz bestimmt, er wäre heute morgen nicht in den Forst gegangen, wo er ja doch nichts zu thun hatte, wenn die gute Cornelie weniger eifrig von ihm verlangt hätte, er solle ihrer heftigem Schmerzen wegen den ganzen Tag ununterbrochen bei ihr bleiben, weil das seine Pflicht sei.«

»Und darum mußte die gute Mutter sterben, ohne dem Vater die Hand zum ewigen Abschiede reichen zu können!« seufzte schaudernd Hildegarde. –

Auf dem Vorplatze ließen sich feste Schritte hören, dann sprach eine tiefe Baßstimme resignirt die Worte:

»Ich bin einmal zum Unglück geboren!« Gleich darauf trat Hildegardens Vater, im grünen Jagdrock, den mit zwei Heherfedern verzierten niedrigen Hut in der gebräunten Hand, in das stille, matt erleuchtete Sterbezimmer seiner Gattin.


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