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ZWÖLFTES KAPITEL.

MÄDCHENLIST.

Wir überspringen jetzt einige Wochen in dem Lebender bisher uns bekannt gewordenen Personen, da während derselben kein Ereigniß von Wichtigkeit sich zutrug. Wider Erwarten des Försters hatte der Stiftssyndikus sehr warm für Hildegarde sich verwendet und durch seine Empfehlung dem jungen Mädchen die Aufnahme im Hause des Domdechanten Warnkauf gesichert. Liebner kannte den geistlichen Herrn besser als sich selbst.

Er wußte, daß ein blutjunges, noch gänzlich unerfahrenes Mädchen von ihm nicht ascetisch streng, am wenigsten mönchisch gehalten werden würde. Bei seinen geistlichen Vorgesetzten stand der Domdechant sogar in dem Rufe, daß er als Mann der Kirche in seinen Grundsätzen zu liberal sei, und der Welt mit ihren Freuden mehr Opfer bringe, als sich streng genommen mit seiner Stellung vertrage. Da man ihm indeß keinen eigentlichen Exceß vorwerfen konnte, so begnügte man sich mit brüderlichen Winken, die bei nicht stattfindender Besserung die Anwendung strengerer Disciplin in der Zukunft ahnen ließen.

Diese Wahl des Stiftssyndikus fiel dem Förster nicht auf, eben weil man den Charakter des Domdechanten weit und breit kannte, und seine Vorliebe für Andersgläubige niemand ein Geheimniß war. Warnkauf trug das priesterliche Gewand mit dem Anstande eines geborenen Fürsten, den erst in spätern Jahren, nachdem er das Leben gründlich genossen hat, die Verhältnisse nöthigen, dasselbe anzulegen. Er war und blieb als Priester immer Mensch. Dir Lehre von der Liebe verkörperte sich in seinen Werken; in den Predigten, deren er überhaupt nur wenige hielt, war selten davon die Rede.

Im steten Umgange mit einem so humanen und hochgebildeten Manne glaubte der Stiftssyndikus die Tochter seiner verstorbenen Nichte am besten aufbewahrt. Es fehlte in der Dechanei dem jungen Mädchen nicht an geeignetem Umgange, denn Gleichalterige verkehrten oft daselbst, da Warnkauf die Aufsicht über ein Jungfrauenpensionat führte, in welchem unbemittelte Mädchen erzogen, und, sofern sie Lust und Drang dazu zeigten, zum Klosterdienst herangebildet wurden. Hildegarde war also ganz so untergebracht, wie ihr Vater es wünschte. Sie wurde beaufsichtigt, ohne klösterlich streng gehalten zu werden; sie konnte ihre Kenntnisse in Wissenschaft und Kunst vermehren und durfte doch nicht alles vernachlässigen, was sonst noch jungen Mädchen zu lernen obliegt. Mit dem Vaterhause aber blieb sie in fast ununterbrochener Verbindung, da die Dechanei nur ein paar Stunden von dem Forsthause entfernt war.

In letzterm war es unangenehm still geworden, seit die lebhafte Hildegarde es verlassen hatte. Kathrine besaß jetzt keinen Gegenstand mehr, an dem sie sich reiben konnte, und der Förster, dem es bei der Schwester noch weniger behagte als früher bei seiner Frau, fing sein unhäusliches Leben schon wenige Tage nach der Abreise der Tochter von neuem an.

Hildegarde verließ das väterliche Haus nicht ungern, dennoch überrieselte es sie, als sie erfuhr, daß ihr zukünftiger Aufenthaltsort die Dechanei sein sollte. Vielleicht wäre dem jungen Mädchen ganz dasselbe begegnet bei jedem Orte, denn ihr einziges Augenmerk war auf Kaltenstein gerichtet, etwas jedoch mochte zu dem Gefühl der Furcht, das sie beschlich, doch wohl der Gedanke mit beitragen, daß sie, die Protestantin, fortan unter lauter Katholiken verweilen werde. Sie schwieg jedoch und behielt die Miene kindlicher Unterwerfung, die sie sich vor dem Spiegel einstudirt hatte, mit solchem Glücke bei, daß ihr Vater nichts von dem ahnte, was in ihr vorging.

Zu Anfang ihres Aufenthalts in der Dechanei besuchte der Förster seine Tochter jeden dritten oder vierten Tag. Er fand sie immer gleich gemessen und still. Sie hatte keine Klage zu führen, im Gegentheil, sie war mit allem zufrieden. Der Domdechant gab sich viel Mühe, sie in Dingen zu unterrichten, die Hildegarde bis dahin fremd geblieben waren. Er beschäftigte sich gern etwas mit Astronomie, überhaupt mit Naturkunde, und gerade aus diesen Studien mochte er seine milde Weltanschauung geschöpft haben, die wohl hin und wieder mit dem Dogma, das sein Amt ihm zu vertheidigen gebot, in Zwiespalt kommen mochte. In diese interessante Wissenschaft suchte Warnkauf seine Pflegebefohlene jetzt einzuweihen.

Hildegarde faßte zwar leicht, allein sie interessirte sich wenig für die Enthüllungen der Weltgeheimnisse. Die Sterne lagen ihr zu weit ab und bisweilen glaubte sie, der geistliche Herr wolle ihr etwas aufbinden. Ihr Reich war die Erde. Diese wollte sie kennen lernen, diese ganz so genießen, wie es ihr die wohlwollende Baronin so oft verheißen hatte. Demnach blieben alle Gedanken Hildegardens stets auf diese Frau gerichtet, von der sie zu ihrem großen Leidwesen weder vor ihrem Weggange aus dem Vaterhause noch später auf der Dechanei etwas hörte.

So vergingen einige Wochen scheinbar in bestem Einvernehmen. Hildegarde hatte sich eingewöhnt und blieb gegen den väterlich milden Domdechanten, den sie ›Onkel‹ nennen mußte, ebenso gegen dessen Schwester, die redselige Sabine, die ebenfalls die Herzensgüte selbst war, gleich freundlich.

Die Besuche des Försters wurden bald seltener, und schon im October hörten sie ganz auf.

»Der Vater vergißt mich,« dachte Hildegarde, und ein Gefühl der Bitterkeit nistete sich ein in ihrem Herzen. »Es kommt alles wie ich es mir gedacht habe. O, wäre doch die Baronin noch ein einziges mal zu mir gekommen, ehe der Vater seinen Entschluß mit Hülfe des immer lächelnden Stiftssyndikus ausführen konnte! Oder hätte ich meinen Brief der gnädigen Frau zuschicken können!«

Dieser Brief beunruhigte Hildegarde sehr. Beim Wechseln ihrer Kleider hatte sie ihn verlegt und konnte ihn trotz des eifrigsten Suchens nicht wiederfinden.

Einen andern gleichen Inhalts zu schreiben fand sie keine Gelegenheit, und so blieb zu ihrer tiefsten Betrübniß die Baronin von Kaltenstein über ihre eigenen Wünsche völlig im Unklaren. Am meisten fürchtete Hildegarde, daß ihr gänzliches Schweigen die ehrgeizige Frau verletzen könne. Hildegarde wünschte deshalb nichts mehr, als daß es ihr gelingen möchte, die von ihr und ihrer verstorbenen Mutter so hoch geschätzte Frau womöglich bald noch einmal zu sprechen.

Dieser Wunsch konnte sich erfüllen, wenn es Hildegarde gelang, einigen Einfluß auf den Domdechanten zu gewinnen. Sie war klug genug, ihre Absichten ganz geheim zu halten, ihr weiblicher Instinct ließ sie aber nach den geeignetsten Mitteln zur Erreichung derselben greifen.

Der Domdechant war in frühern Jahren ein eifriger Jäger gewesen und hatte wiederholt mit Büchse und Jagdtasche zugleich mit ihrem Vater das Forsthaus betreten. Der jüngste Kaplan begleitete dann den Herrn gewöhnlich. Gegen Kinder ungemein freundlich, pflegte Warnkauf jedes, das ihm begegnete und nicht blöde war, ihm Rede und Antwort zu stehen, durch kleine Geschenke zu beglücken. Diese bestanden in Bildern, welche durch einen Spruch der Heiligen Schrift erklärt wurden. Hildegarde war noch im Besitze einiger dieser Bilder, und sie benutzte eines Tags den günstigen Moment, um halb im Scherz und halb im Ernst den geistlichen Herrn zu fragen, ob er nicht auch jetzt noch ein oder das andere derselben an sie zu verschenken habe? Der Domdechant holte sogleich ein altes Meßbuch, blätterte darin und überreichte Hildegarde ein Bild, das eine weiße Lilie vorstellte.

»Sieh es dir genau an, meine Tochter,« sprach er schalkhaft lächelnd, »und handle danach!«

Hildegarde nahm das Geschenk dankend an. Die Blume war beweglich; sie ließ sich zur Seite biegen, und als das junge Mädchen dem Verlangen nicht widerstehen konnte, dies zu thun, enthüllte sich ihr ein zweites Bild, das den heiligen Georg darstellte, wie er den Drachen besiegt.

»So wie dieser fromme Ritter, sollen wir alle handeln,« sprach der Domdechant, indem er warnend den Zeigefinger der rechten Hand gegen Hildegarde erhob. »Es bäumen sich der Gift und Verderben drohenden Drachen gar viele auf unserm Lebenswege und selbst in unserm Herzen, und suchen uns mit versengender Lohe zu begeifern. Sie alle müssen wir besiegen, unerschrocken, durch Ausdauer und beharrliches Wollen, wie der heilige Georg das beschuppte Unthier für sich und andere unschädlich machte.«

»Halten mich denn Hochwürden für gar so sündhaft, daß Sie gerade mir dies vielsagende Bildchen jetzt verehren?« fragte Hildegarde in scherzendem Tone.

»Für sündhaft nicht, liebe Tochter, aber für schwach,« versetzte Warnkauf. »Du bist jung, hübsch – mancher wird dich vielleicht schön nennen – beides zusammen macht eitel, und Eitelkeit ist ein schlechter Gefährte der Tugend. Nur Kampf kann diesen Feind oder Versucher besiegen!«

»Da sollten Hochwürden recht viele mit solchen warnenden Bildern beschenken,« meinte die kluge Hildegarde. »Ich selbst wüßte ein paar Leute, denen sie gar nichts schaden könnten.«

»Zum Beispiel?« forschte der Domdechant, dem die naiven Antworten des jungen Mädchens gefielen.

»Zum Beispiel meine Tante Kathrine und dann – die gnädige Frau Baronin von Kaltenstein!«

Warnkauf konnte sich eines Lächelns nicht enthalten.

»Das sind zwei Personen,« versetzte er, »wie man sie sich kaum verschiedener denken kann. Ich glaube indeß nicht, daß gerade diese beiden einer solchen Warnung benöthigt sind.«

»Ganz gewiß, Hochwürden,« sagte Hildegarde unbefangen. »Meine Tante trägt mehr als einen Drachen in sich und wird, fürcht’ ich, zuletzt noch von einem derselben mit Haut und Haar aufgefressen, wenn sich nicht ein barmherziger Heiliger ritterlich ihrer annimmt, und die Frau Baronin –«

»Kind, Kind, du bist schlimm!« fiel der Domdechant ein.

»Die Frau Baronin,« fuhr Hildegarde ungenirt ort, »hat es mir selbst gesagt, daß ein Mädchen oder eine Frau, welche den Männern gefallen wolle, nicht blos ein klein wenig, sondern ziemlich viel eitel sein müsse!«

»Freilich, freilich,« versetzte der geistliche Herr, fortwährend lächelnd, »wenn es so um die Baronin steht, dann müßte man ihr schon aus christlicher Liebe unbemerkt beispringen. Ich will also sehen, was ich zu thun habe.«

»Darf ich sprechen, Hochwürden?« fiel Hildegarde ein.

»Soviel du magst, nur hüte dich, zu viel Thorheiten über deine leichtfertige Zunge schlüpfen zu lassen!«

»Die gnädige Frau hat noch nie eine Procession mit angesehen.«

»Weißt du das?«

»Sie beneidete mich um dieses erbauliche Schauspiel, dem ich, wie Sie ja wissen, schon als Kind mehrmals beiwohnte. Darum glaube ich, Hochwürden könnten der Frau Baronin wohl auch einmal Gelegenheit geben, eine solche Feierlichkeit in der Nähe zusehen. Am Allerheiligentage –«

»Man müßte die Frau geradezu einladen,« unterbrach sie Warnkauf.

»Das meine ich auch, Hochwürden! Sollte das nicht erlaubt sein?«

»Warum nicht! Nur die Form, die Form!«

»Der Herr Baron hält in den nächsten acht Tagen eine große Jagd ab, das weiß ich,« fiel Hildegarde ein. »Es betheiligen sich viele daran, auch geistliche Herren. Ich wende mich an den Vater, den ich ohnehin gern wieder einmal sehen möchte, und Hochwürden haben die schönste Gelegenheit, sich der gnädigen Frau erkenntlich zu erweisen. Während der Procession dann zu dem wunderthätigen Marienbilde drücken Hochwürden ihr einen so niedlichen Drachentödter in die Hand und –«

»Du bist so schlau und so allerliebst listig, mein Kind,« unterbrach der Domdechant die Rede der Försterstochter, »daß man selbst Schelmenstreiche, die du möglicherweise verüben möchtest, dir großmüthig verzeihen müßte. Seit Jahren schon bin ich ein miserabler Jäger geworden, da meine Augen mich immer täuschen. Die Herren Weidmänner aber sind arge Spötter, wenn sich schlechte Schützen zu ihnen gesellen, und deshalb habe ich mich ganz von diesem Vergnügen zurückgezogen. Um aber der Frau Baronin den Beweis zu liefern, daß ich ihr gern gefällig sein möchte, will ich deinen Vorschlag in Erwägung ziehen. Schreibe du inzwischen an deinen Vater und laß in deinen Worten durchblicken, daß ich ihn gern je eher je lieber sehen und sprechen möchte.«

Hildegarde verbarg ihre Freude über das voraussichtliche Gelingen ihres Plans und setzte sich auf der Stelle hin, um dem Vater zu schreiben. Dem Wunsche des Domdechanten mußte dieser entgegenkommen, und der Baron von Kaltenstein hätte sehr unhöflich sein müssen, wenn er, von seinem Förster darum angegangen, den geistlichen Herrn nicht in Person zu der abzuhaltenden Jagd eingeladen hätte. Die Baronin selbst aber – so schloß Hildegarde – war viel zu klug, um die geschickt angelegte Machination nicht entweder ganz zu durchschauen oder doch zu ahnen. Hildegarden sagte die freudige Unruhe, von der sie mehr und mehr ergriffen ward, daß sie ihre mütterliche Freundin wiedersehen würde, und dies Wiedersehen genügte, um sich gegenseitig vollkommen zu verständigen.


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