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EIN ANZIEHENDES PORTRÄT.
Seit Hildegarde die Freundin ihrer verstorbenen Mutter wiedergesehen hatte, war eine große Veränderung mit ihr vorgegangen. In stürmischer Erregtheit, die zum Theil wohl noch Folge der überstandenen schweren Krankheit sein mochte, warf sie sich der Baronin an die Brust, und die ersten Worte, die sie unter reichlichem Thränenerguß der ihr gewogenen mütterlichen Vertrauten zuraunte, bezogen sich auf ihre Zukunft.
»Nur weit, weit fort von der Heimat, theuerste Freundin!« bat sie flehentlich. »Ich kann den Vater nicht wiedersehen, die Tante, die mir Schrecken einflößt, nicht begrüßen! Auch dem Domdechanten und dem Stiftssyndikus mag ich nicht vor Augen kommen. Retten Sie mich, helfen Sie mir, gnädigste Baronin, nur fort, fort in die weite, weite Welt!«
Diese Gemüthsstimmung der Förstertochter kam dem Plane, welchen Clotilde von Kaltenstein bereits entworfen hatte, auf halbem Wege entgegen. Auch sie sah die Nothwendigkeit einer Entfernung Hildegardens ein, wenn sie Gewalt über das Mädchen behalten sollte. Nur fürchtete die Baronin, es werde Schwierigkeiten verursachen, sie zu dem, was sie selbst für gut hielt, zu veranlassen. Sollten die nächsten Angehörigen die Entflohene nicht wiederfinden und in ihre Gewalt bekommen, so mußte sie in weiter Ferne, womöglich im Auslande, untergebracht werden. Ob aber dazu Hildegarde, der es weder an Eigensinn noch Selbständigkeit gebrach, ihre Einwilligung geben werde, war wenigstens fraglich. Im Falle eines ernstlichen Widerstandes wäre Clotilde in nicht geringe Verlegenheit gesetzt worden.
Begierig griff sie daher die Worte Hildegardens auf, indem sie auf der Stelle statt aller Beruhigungsversuche mit ihrem schon fertigen Plane hervortrat und ganz bestimmt erklärte, sie habe bereits ein schickliches Asyl für ihren Liebling gefunden.
Hildegarde widersprach nicht, sie zeigte sich vielmehr mit dem Vorschlage der von ihr so hoch verehrten Baronin vollkommen einverstanden. Die ferne Gegend, das fremde Land, die vornehme Familie, deren Mitglied sie werden sollte, beschäftigten ihre Einbildungskraft, und da Clotilde ihr wiederholt die Versicherung gab, die nothwendig gewordene Entfernung trenne sie nur körperlich von ihr, geistig blieben sie einander nahe gerückt und stets verbunden, so war Hildegarde schnell über ihr Schicksal beruhigt. Erst als sie erfuhr, daß die gräfliche Familie Serbillon katholisch sei, zeigte sie einige Unruhe.
»Dann werden sie mir nie vertrauen oder mich mit Bekehrungsversuchen quälen,« sagte sie geringfügig. »Ich liebe die Frommen nicht und mag selbst gar nicht fromm werden! ... Es ist so entsetzlich langweilig!«
Clotilde von Kaltenstein, die selbst sehr wenig Religion besaß, wußte ihren Schützling leicht zu beruhigen. Sie schilderte die Gräfin von Serbillon als eine Weltdame von feiner Bildung und eleganter Tournure; sie hob alle Eigenschaften derselben, welche sie selbst bestochen hatten, hervor und folgerte daraus, daß die Gräfin in hohem Grade liebenswürdig sei und das rein Menschliche jeder beengenden Satzung verziehe. Endlich aber machte sie Hildegarde auch eine Mittheilung, welche deren Vater betraf und die Tochter tief bewegte. Sie erwähnte nämlich, immer den Förster entschuldigend, des Verdachts, der längere Zeit auf diesem geruht hatte, ohne den Namen des in so geheimnißvoller Weise Getödteten zu nennen.
Diese Mittheilung wirkte entscheidend. Hildegardens Stolz würde selbst eine Anspielung auf diesen betrübenden Vorfall, der noch immer der Aufklärung harrte, nicht ertragen haben. Auch schien ihr, gerade infolge desselben, ihre Entfernung von Vater und Tante gerechtfertigt. Die Vorschläge der Baronin fanden daher ihre ganze Billigung, und die Aussicht, demnächst im Schose einer weltlich gesinnten katholischen Familie vielleicht jahrelang leben zu müssen, hatte für das zerstreuungssüchtige Mädchen weit mehr Anziehendes als Abstoßendes.
Hildegarde zog es vor, den ersten Abend auf Schloß Hammerburg still in den beiden ihr angewiesenen sehr wohnlich eingerichteten Zimmern zu verweilen. Einsamkeit war ihr vorerst wirkliches Lebensbedürfniß, denn in den letzten Tagen hatten zu viele Eindrücke auf sie eingestürmt. Ohne daß sie litt, fühlte sie sich unendlich erschöpft, ja fast gebrochen. Ihr Herz zitterte, jeder Nerv schmerzte sie und doch war sie weder krank noch traurig gestimmt. Die Folgen einer nun schon viele Wochen lang dauernden Anspannung aller geistigen Kräfte machten sich jetzt erst dem Körper bemerkbar. Dieser Abspannung dieses dumpfen Schmerzes, die Leib und Seele gleichmäßig empfunden, mußte sie erst vollkommen Meister geworden sein, ehe sie den neuen Freunden mit Bewußtsein und freier Entschließungen fähig unbefangen entgegentreten konnte.
Diana, Gräfin von Serbillon, imponirte Hildegarde in jeder Hinsicht. Die begabte Försterstochter fühlte sogleich den Unterschied heraus, der zwischen dieser begeisterten Polin und der blasirten Baronin von Kaltenstein bestand. Diana war eine Edeldame im vollsten Sinne des Wortes; sie würde alle die Vorzüge, durch die sie sich auszeichnete, auch in Bettlertracht zur Geltung gebracht haben, ohne sich anzustrengen. Die Noblesse, die Würde waren Diana angeboren, und die ihr eigene Bildung machte diesen Schmuck der Natur noch augenfälliger und anmuthiger.
Bei Clotilde von Kaltenstein war das alles anders. Auch diese Dame, die vielleicht weit mehr Lebenserfahrung als die Gräfin von Serbillon besaß, war vornehm, und der Duft der Bildung gab sich bei ihr in jeder Redewendung kund, der wahre Adel aber ging ihr ab. Wäre sie in Lumpen gekleidet gewesen, so würde niemand gezweifelt haben, daß die Tracht der Bettlerin die ihr gebührende sei.
Diese Entdeckung machte einen höchst peinlichen Eindruck auf Hildegarde und gab ihr viel zu denken. Sie ward Veranlassung, daß sie schweigsamer und befangener als anfangs, ja beinahe unbeholfen der Gräfin gegenüber stand. Gerade diese Schweigsamkeit aber gefiel Diana, weil sie dieselbe für ein Zeichen jugendlicher Blödigkeit hielt. Auch Abbé Kasimir, welchen übrigens Hildegarde wenig beachtete, glaubte in dem auffallend schönen Mädchen einen seltenen Edelstein gefunden zu haben, der nur der geschmackvollen Fassung bedürfe, um alle Welt zu fesseln, ja in Staunen zu setzen.
Die Zimmer, welche unsere Freundin auf Schloß Hammerburg bewohnte, erinnerten sie an ihren unfreiwilligen Aufenthalt im alten Schlosse der Dub. Das Wohngemach hatte ebenfalls einen Erker mit hohen Fenstern, aus denen man eine malerische Landschaft mit vielen Weilern, Dörfern und Kirchen überblickte. Um den Fuß des Hügels, welcher Hammerburg trug, strömte ein wasserreicher Fluß, an dessen Ufern in der Ferne die Baulichkeiten zu erkennen waren, die mit Bewilligung des Grafen industrielle Unternehmer aufgeführt hatten. Jetzt lag die Landschaft unter einer blendenden Schneehülle begraben, die im hellen Mondlicht zauberhaft funkelte und blitzte.
Ohne es zu wollen, mußte Hildegarde an Joseph denken, der ihr das Leben gerettet und den sie zum Dank dafür hintergangen hatte. Die gräßliche Nacht im Stiftswalde stand wieder vor ihrem Geiste ... Sie sah den Mann am Crucifix ... sie hörte das Wagengerassel ... der rothe Blitz der abgefeuerten Büchse zuckte auf vor ihren Augen ... Geschrei und Gezänk hallte wider in ihrem Ohr, und die Gestalt des bleichen Vaters mit dem verwilderten Haar stürzte sich in das Gebüsch! ...
»Wenn der Vater nun doch um den Tod des Bleidiebes wußte?«
Immer von neuem mußte Hildegarde diese schreckliche Frage sich verlegen, und immer ward sie mehr davon beunruhigt. Die Gedanken verwirrten sich fast, wenn sie alles in ihrem Gedächtniß zusammensuchte, was den vereinsamten Vater in jener Nacht in den Wald getrieben haben konnte. Die Tochter war sich unredlichen Handelns bewußt. Des Vaters Betrübniß darüber, daß sie ihm weniger anhing, als er zu fordern ein Recht hatte, kannte sie ebenfalls, und wie der Förster von der Baronin dachte, das hatte er niemals verhehlt. Alles in allem also konnte sich Hildegarde mittelbar die Schuld an seiner Verhaftung zusprechen.
Dennoch, so oft sie auch ihr Herz befragte, zog nichts sie zurück in das Haus des Vaters. Ja hätte sie unbemerkt das Zimmer besuchen können, in welchem ihre Mutter, um die sie noch trauerte, so unerwartet gestorben war, zur selben Stunde noch würde sie zu Fuße dahin aufgebrochen sein. Am Bett der armen Dulderin hätte die Tochter vielleicht weinen und beten können.
Durch die Flucht aus der Dechanei war ihr Leben – das sagte sich Hildegarde – in ein ganz neues Stadium getreten. Bis dahin konnte sie noch bestimmend auf sich selbst einwirken, seit jenem Abend waren ihr die Zügel der unbekannten Macht, die sie trug, der sie folgen mußte, entglitten. Ihre Führer konnten Dämonen sein, und das Heil ihrer Seele, ihr ganzes Erdengeschick war diesen Unsichtbaren völlig anheimgegeben.
So oft Hildegarde dieser Gedanke beschlich, überrieselte es sie kalt, und ein Seufzer qualvoller Bangigkeit entrang sich ihrer Brust. Lange indeß gab sie sich quälender Pein nicht hin, weil das Leben zu rasch in ihr pulsirte, und die nächste Zukunft ihr doch mehr heitere als trübe Bilder zeigte.
Um nun alle düstern Gedanken zu verbannen und sich selbst einigermaßen klar zu werden, schrieb Hildegarde an die Baronin von Kaltenstein. Diese Beschäftigung gewährte ihr Zerstreuung, und an Stoff zu Mittheilungen fehlte es ja nicht.
Als sie das Niedergeschriebene, das mehrere Seiten füllte, überlas, gewahrte sie, daß sie ganz und gar vergessen hatte, von der Gräfin, die ja doch die Hauptperson war, zu sprechen. Ihr Schreiben beschäftigte sich mit dem Abbé und den Fragen, welche Kasimir während der Reise ihr vorgelegt hatte, mit dem Grafen, der sie nur flüchtig begrüßte, und mit dem polnischen Oberst, den sie als einen Mann von hohem militärischen Anstande schilderte.
Weshalb schrieb Hildegarde nichts über Diana?
Als sie darüber nachdachte, gestand sie sich, daß sie der Gräfin nicht gedacht hatte, um die Baronin nicht durch einen in ihren Mittheilungen etwa vorkommenden Ausdruck zu beleidigen. Sie beschloß jedoch, ihrem Briefe ein Postscript anzuhängen, in welchem ausschließlich von der Gräfin die Rede war, Hildegarde nahm dabei all ihre Klugheit zusammen, wog jedes Wort ab, das sie brauchte, und fand zuletzt, sie habe weder zu viel noch zu wenig gesagt.
Einige Tage schon genügten, um Hildegarde den Aufenthalt in Schloß Hammerburg angenehm zu machen. Die Gräfin behandelte sie wie eine Tochter, der Graf war freundlich und galant gegen sie, der Oberst Malachowsky stellte sich auf einen väterlich vertraulichen Fuß, nannte sie bald Sie, bald Du, entschuldigte sich dann jederzeit auf die munterste Weise, und ward Veranlassung, daß sich Hildegarde entschloß, Reitstunde zu nehmen und von ihm das Billardspiel zu erlernen.
Die Försterstochter war eine gelehrige Schülerin. Da sie ein sicheres Auge und eine feste Hand besaß, es ihr auch an Keckheit nicht fehlte, so gewann sie dem Oberst sehr bald eine und die andere Partie Billard ab, und in der Reitbahn machte sie womöglich noch erstaunlichere Fortschritte.
Mit dem Abbé kam die neue Schloßbewohnerin, welche für eine Verwandte der Familie galt, nur bei Tafel und abends, wenn man sich vor dem Thee um den Kamin einfand, zusammen. Kasimir schien sich absichtlich etwas fern von der jungen Schönen zu halten, und Hildegarde wußte diese Zurückhaltung zu schätzen. Es ging ihr aus diesem Verhalten des Abbé hervor, daß er nicht die Absicht habe, sein Bekehrungstalent an ihr zu erproben. Ueberhaupt vermieden alle, religiöse Gegenstände zu berühren. Der Abbé las jeden Morgen in der Kapelle des Schlosses eine Messe, welcher die Gräfin immer, der Graf und der Oberst meistentheils beiwohnten, Hildegarde aber ward von niemand aufgefordert, ein Gleiches zu thun.
Diese Duldsamkeit machte das junge Mädchen unbefangen, und die Schalkhaftigkeit, die ihr von Natur innewohnte und die nur durch die betrübenden Ereignisse der letzten Monate zurückgedrängt worden war, begann sich nach einiger Zeit wieder in sehr bestimmter Weise geltend zu machen.
Neue Nachrichten aus Polen, wo bereits blutige Schlachten geschlagen worden waren, ließen keinen Tag ohne Gespräche vergehen, welche diese wichtigen Ereignisse zum Gegenstande hatten. Hier nun war der Abbé entschieden der Lebhafteste, wie er sich auch in der Geschichte Polens und seiner Leiden sehr bewandert zeigte.
Die Vorträge Kasimir’s über die Vergangenheit einer Nation, der er selbst durch Geburt angehörte, hatten für die aufgeweckte und leichtfassende Hildegarde große Anziehungskraft. Sie hing mit Aufmerksamkeit an seinem Munde und lernte durch das von seinen Lippen fließende lebendige Wort mehr als die übrigen Zuhörer. Dem Abbé konnte dies nicht entgehen und so kam es, daß, wenn er von den politischen Zuständen Polens sprach, er seine Worte zunächst für Hildegarde berechnete.
Diese sich oft wiederholenden Unterhaltungen brachten die Försterstochter dem Abbé näher, als es wohl sonst geschehen sein würde. Kasimir war nicht mehr Priester seiner Kirche, wenn er von seinem Vaterlande sprach, das ihm selbst schon in frühester Jugend verloren gegangen war, sondern heißblütiger, polnischer Patriot. Keine Nation haßte er intensiver als die russische, wie er auch in der russischgriechischen Kirche den Antichrist erblickte, was ihn wiederholt zu unbedachten Aeußerungen fortriß, obwohl beobachtende Zurückhaltung Pflicht seines Standes war.
Hildegarde entdeckte infolge dieser Gespräche, daß in ihrem Wissen noch große Lücken auszufüllen seien, und sie äußerte unbefangen den Wunsch, der Abbé möge ihr Lehrer werden.
Kasimir kam diesem Wunsche gern entgegen, da ihn die Ursprünglichkeit Hildegardens anzog. Auch er lernte von dem jungen Mädchen, denn er gewann die Einsicht, daß sich in dieser Natur seltsame Widersprüche verbargen, die nur das Leben langsam versöhnen würde. Sein scharfer Blick, sein Urtheil, durch Lehre und Forschung geübt, entdeckte eine Menge Heimlichkeiten in der jugendlichen Schloßbewohnerin, die ihrer Erscheinung und ihrem ganzen Wesen an Interesse zulegten, was sie ihr an kindlicher Naivetät und Jungfräulichkeit nahmen. Er sagte sich, daß die dem Vaterhause Entfremdete vieles aus ihrer Vergangenheit mit Absicht geheim halte, und er gab sich selbst das Versprechen, diese verschlossene, in die Tiefe gehende Mädchenseele, ohne daß sie es ahne, zu erforschen, um sie durch und durch kennen zu lernen.
Der Abbé bewohnte auf Schloß Hammerburg ein stilles Zimmer, wo er seinen Studien oblag. Er besaß eine nicht große, aber ausgewählte Büchersammlung, die in einem alterthümlichen Schranke aufgestellt war. In demselben Schranke verwahrte Kasimir auch verschiedene geschriebene Hefte, die von dem Seminar und der Universität herrührten, auf denen er sich gebildet hatte. Aus dem Studirzimmer des Abbé gelangte man in den Ahnensaal des Schlosses, der selten von jemand betreten ward. Es sah darin wüst und etwas unheimlich aus. Die sehr alten Tapeten hatten sich hier und da von den Wänden gelöst und bewegten sich raschelnd, wenn der Wind an den hohen Mauren rüttelte oder durch eine Spalte der ebenfalls schadhaft gewordenen Fenster strich.
Alle Wände dieses Saales waren mit lebensgroßen Gemälden der frühern Besitzer des Schlosses bedeckt, deren letzter Sproß zu Anfang dieses Jahrhunderts verstarb. Sein Porträt, ein Kniestück, hing zunächst der Thür, welche sich nach dem Zimmer des Abbé öffnete. Neben diesem zeigte sich ein Brustbild mit schönem männlichen Kopfe und schwärmerischen dunkeln Augen, die gar nicht recht mit der Uniform harmonirten, welche der junge Mann trug. Es war die Uniform eines polnischen Ulanenrittmeisters.
Hildegarde, die sich überhaupt wenig um das Innere des weitläufigen Schlosses kümmerte, hatte von dem Vorhandensein dieses Saals kaum eine Ahnung. Der Zufall erst lehrte sie denselben kennen. Ihrem Wunsche gemäß nämlich nahm sie mit Bewilligung der Gräfin in Geschichte und Literatur der slawischen Stämme, von denen sie bitter wenig kannte, Unterricht bei dem Abbé. Behufs dieser Lehrstunden verfügte sich Hildegarde in das Studirzimmer Kasimir’s, den sie jedesmal ihrer harrend, zwischen Büchern und Manuscripten sitzend, antraf.
Diese Stunden, die sich täglich wiederholten, gewährten dem bildungseifrigen Mädchen hohen Genuß und ließen sie alle Schmerzen der Vergangenheit schnell vergessen. Sie ward heiterer, als sie sich zu Anfang ihres Aufenthalts auf Hammerburg zeigte, und die Farbe der schönsten Jugendfrische erblühte wieder auf ihren bleich gewordenen Wangen. Nun erst verstand sie ganz den hohen Werth der Erziehung zu schätzen, die sie zunächst ihrer verewigten Mutter und in zweiter Linie auch dem ermunternden Einflusse und der uneigennützigen Unterstützung der Baronin von Kaltenstein zu danken hatte.
Abbé Kasimir war ein vorzüglicher Lehrer, wenigstens für Hildegarde. Sein Vortrag war nicht trocken, nicht doctrinär. Er erzählte mit Feuer, und so gewann der Gegenstand, den er behandelte, durch die Frische seiner Rede Leben. Hildegarde hätte dem kenntnißreichen Mann, der gar keine priesterliche Strenge zur Schau trug und am allerwenigsten sich damit brüstete, stundenlang, ohne zu ermüden, zuhören können.
Eines Tages, als die Tochter des Försters Frei das Zimmer ihres freundlichen Lehrers zur gewohnten Stunde betrat, war der Abbé nicht anwesend. Wie immer nahm Hildegarde ihren Platz am Tische ein und begann in einem der großen alten Bücher zu blättern, in denen ihr Lehrer studirt haben mochte.
Es war ein Kirchenvater, zu deren Wissen sich Hildegarde nicht eben sehr hingezogen fühlte. Blätternd und bald da, bald dort einige Worte lesend, mochten etwa fünf Minuten vergangen sein, ohne daß der Abbé erschien. Plötzlich glaubte Hildegarde ein Geräusch zu hören, das wie das leise Knarren einer Thür klang, die sich langsam in ihrer Angel dreht. Sie wendete sich um, indem sie zugleich aufstand, denn sie meinte, der Abbé werde eintreten. Dies war jedoch nicht der Fall, wohl aber wiederholte sich das eben vernommene Geräusch. Nun ward ihre Neugierde rege. Sie umschritt lauschend den mit Büchern beschwerten Tisch, sie legte ihre Hand ans Ohr, sie beugte den vollen Lockenkopf vor, um besser hören zu können. So gelangte sie an die in den Ahnensaal führende Thür und sah, daß dieselbe geöffnet und nur angelehnt war.
Hildegarde konnte nicht umhin, ihre Hand nach dem Griffe auszustrecken und gegen denselben zu drücken. Die Thür gab geräuschlos nach, und der lange, hohe Saal mit den gebräunten Tapeten, den von Motten zerfressenen wurmstichigen Möbeln, den alten Bildern lag vor ihr.
Vielleicht wäre das Mädchen, von einem natürlichen Gefühl der Scheu vor den unheimlich finstern Blicken der zum Theil im ritterlichen Schmuck des Harnisch gemalten Herren ergriffen, zurückgewichen, hätte sie nicht links von der Thür den Abbé erblickt. Dieser kniete auf der staubigen Diele und sein Auge ruhete, offenbar ganz in Schauen vertieft, auf dem Porträt des jugendlichen Mannes in der Uniform eines Rittmeisters der polnischen Ulanen. Aber auch Hildegarde erschrak und ward gleichzeitig beim Anblick dieses Bildes gefesselt. Sie blieb an der Schwelle stehen, als sei sie erstarrt, so überrascht ward sie von dem Ausdruck der Züge in diesem jugendlichen Männergesicht. Ein einziger Blick genügte, um ihr zu sagen, daß sie einem Manne, welcher diesem Bilde merkwürdig ähnlich sah, bereits einmal begegnet sein müsse, ein zweiter gab ihr Gewißheit darüber, und von heftigem Herzklopfen befallen, holte sie unabsichtlich und laut Athem aus schwerbeengter Brust.
Von diesem lauten Aufathmen ward auch der Abbé in seiner Beobachtung gestört. Er wendete sich um und erröthete ein wenig, als er, nur wenige Schritte hinter sich seine jugendliche Schülerin erblickte. Die Ueberraschung und der Reiz neugierigen, freudig staunenden Anschauens, das ihren Mund halb erschloß und den blendenden Schmelz der weißen Zähne enthüllte, verlieh Hildegarde einen ungewöhnlichen Grad von Schönheit, die auch den jungen Priester nicht kalt ließ. Indeß beherrschte er sich und stand auf. Lächelnd näherte er sich der noch ganz befangenen Hildegarde, die ihr Auge immer wieder zu dem fesselnden Bilde erhob.
»Sie werden glauben, mein Fräulein, ich sei ein Götzendiener geworden,« sprach Kasimir, mit seinem Taschentuche die Flecke von den Knien stäubend, welche die unreine Diele auf seinem schwarzen Beinkleide zurückgelassen hatte. »Es war aber nicht Anbetung oder Verehrung, sondern einfache Wißbegierde, die mich diesen Kniefall vor einem Bilde thun ließ. Ich wollte den Namen des Mannes kennen lernen, der, wie es scheint, bei Lebzeiten für mein Vaterland die Waffen getragen hat.«
»Hat Ihnen diese Demüthigung vor dem Porträt eines sehr weltlichen Mannes diese Kenntniß verschafft, Herr Abbé?« gab Hildegarde zur Antwort.
»Ich bin von dem Namen desselben überrascht worden.«
»Wie so?«
»Dieselbe Frage könnte ich an Sie richten, mein Fräulein, denn auch in Ihren Zügen malte sich eine große, freilich mehr eine frohe Ueberraschung, während sich der meinigen herbe Trauer beimischte.«
Hildegarde erröthete bis in die Stirn. Sie wagte nicht, dem scharfsichtigen Abbé ins Auge zu blicken. Diese unvermuthete Entdeckung machte Kasimir seine Schülerin noch um vieles interessanter.
»Es scheint,« sprach er, »als hätten wir beiderseits in Gewährung dieses Bildes, das uns so beachtenswerth vorkommt, eine Fügung Gottes zu erkennen. Die Züge dieses Mannes, der Sigismund heißt, erinnern mich an meinen verstorbenen Vater. Es sind die Augen meines Vaters, die mich so wunderbar geheimnißvoll, so schwärmerisch weich und doch wieder so leidenschaftlich heiß auf diesem Bilde, von dem ich bis heute keine Kenntniß besaß, ansehen. Aber auch Sie Hildegarde, auch Sie bezaubern diese Augen! Auch Sie müssen ähnliche schon gesehen haben, einem Manne, der diesem Bilde gleicht, irgendwo auf Ihrem Lebenswege begegnet sein!«
Der warme, fast leidenschaftliche Ton Kasimir’s vermehrte die Befangenheit Hildegardens. Sie wußte nicht, sollte sie dem Abbé Rede stehen oder ihre Gedanken ihm geheim halten? ... Gewiß, auch sie hatte schon in ähnliche Augen geblickt, und der Ausdruck dieser Augen lebte fort in ihrem Herzen und machte dies jetzt von neuem heftig schlagen.
»Sie schweigen, Hildegarde?« nahm nach kurzer Pause Abbé Kasimir abermals das Wort. »Verdiene ich nicht Ihr Vertrauen? Oder glauben Sie sich etwas zu vergeben, wenn Sie mich zum Mitwisser eines Geheimnisses machen, das mir doch nicht immer verborgen bleiben wird? Bedenken Sie wohl, daß ich Priester bin, und daß es eine der heiligsten und erhaltensten Pflichten meines Standes ist, anvertraute Geheimnisse bis in den Tod jedermann zu verschweigen! Waren Sie je im Leben einmal in Polen?«
Diese so bestimmt an sie gerichtete Frage durfte Hildegarde mit gutem Gewissen verneinen. Sie that es und ihr Auge schlug sich frei zu dem Abbé auf.
»Sie waren nicht in Polen!« fuhr Kasimir bestürzt fort. »Und dennoch überraschten Sie die Züge dieses längst begrabenen Mannes?«
Er wendete sein Gesicht noch einmal dem Porträt des Rittmeisters zu, schien jede Linie desselben zu prüfen und ergriff dann mit raschem Druck die Hand Hildegardens, die vor der Heftigkeit desselben zusammenzuckte. In der Aufregung des Abbé erhielten auch seine sonst immer streng beherrschten Gesichtszüge einen andern Ausdruck, und wenn ein scharfes Auge eine Familienähnlichkeit zwischen dem schwarzhaarigen Kasimir und dem dunkelblonden, lebensfrischen Bilde Sigismund’s herausfand, so war dies vielleicht mehr als bloßes Phantasiespiel.
»Sie sind vorsichtiger und zurückhaltender, als es eine junge Dame dem priesterlichen Gewande gegenüber sein sollte,« sagte der Abbé, mit Hildegarde, deren Hand er noch umschlungen hielt, der Thür zuschreitend. »Da Sie schweigen, will ich reden. Vielleicht krystalliren sich dann in Ihrer Erinnerung die Gedanken und werden so durchsichtig, daß auch Sie dieselben in Worte zu kleiden vermögen. Wer den Lebensgang anderer, die vieles zu erdulden hatten, kennen lernt, vermehrt auch seine Kenntnisse, und die Summe des Wissens, das unser Herz läutert, unsern Verstand aufklärt, erhält durch solche Einblicke in das Leben Verstorbener vielleicht einen größern Zuwachs, als ihm die Lehre blos wissenswerther Gegenstände zu geben vermag. Kommen Sie, Hildegarde, und hören Sie mir eine Stunde aufmerksam zu, dann denken Sie über das Gehörte nach, und wenn Sie davon ergriffen werden, folgen Sie den Regungen Ihres Herzens!«
Der Abbé hatte seine Schülerin in das Studirzimmer zurückgeleitet. Er schloß die Thür zum Ahnensaal, öffnete seinen Bücherschrank und entnahm demselben ein dünnes Manuscript, das in braunen Saffian sehr sauber eingebunden war. Mit diesem Manuscript in der Hand nahm er Hildegarde gegenüber Platz.