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NEUNTES KAPITEL.

BRUDER UND SCHWESTER.

In dem Augenblicke, als Kathrine Frei dem Boten des Domdechanten durch inquisitorisches Fragen das Geständniß von der heimlichen Flucht ihrer Nichte entrissen, hatte sie eine tiefinnerliche Befriedigung gefühlt. Zwar gerieth sie in Zorn, der sich durch lautes Schelten und höhnisches Auflachen Luft machte; ihre Menschenkenntniß aber feierte einen Triumph, der wohl das über den Förster hereingebrochene Unglück vollkommen aufwog. Es war ja ganz so gekommen, wie sie vorausgesagt hatte. Eine so verkehrte Erziehung konnte gar kein anderes Resultat liefern. Sie mußte ein kaum der Schule entwachsenes Mädchen, dem Mutter und bewundernde Freundin den Kopf verdrehten, eingebildet auf das ihm beigebrachte leere Wissen machen, es zur Heuchelei und Lüge verführen, und so auf geradem Wege dem Verderben in die Arme jagen!

Kathrine bedauerte nur, daß der Stiftssyndikus gerade mit ihrem Bruder zu sprechen hatte, sonst würde sie auf der Stelle ihrem übervollen Herzen eine wohlthuende Erleichterung verschafft haben. Es konnte freilich auch nichts schaden, wenn Liebner ebenfalls die ungeschminkte Wahrheit bei dieser Gelegenheit zu hören bekam, denn seiner Verwendung hatte man ja die Verschickung Hildegardens zu danken; allein dieser Herr ließ sich nicht auf ganz gleichem Fuße mit dem einfachen Förster behandeln. Kathrine war deshalb genöthigt, ihren Groll vorerst entweder still in sich zu verschließen oder ihn an andere Personen auszulassen. Aus Bedürfniß und Liebhaberei zog sie letzteres Auskunftsmittel vor. Die Hausmagd und der Jägerbursche, die ihr beide in den Weg kamen, mußten eine Flut kräftiger Redensarten von der Erzürnten über ihr unordentliches Wesen u. s. w. hören.

»Aber was nützt alles Predigen,« unterbrach sie sich selbst, »wie der Herr so ’s Geschirr! Das ist noch all Lebtage so gewesen m wird so bleiben, solange die Heiligen Zehn Gebote, die mein liederlicher Herr Bruder und meine saubere, verlaufene – ha, ha, ha, ha – Nichte längst schon vergessen haben, in der Welt Geltung behalten! ... Statt daß der Hausherr seinen eigenen Leuten mit gutem Beispiele vorangehen soll, zeigt er ihnen lieber die Wege zur Sünde! ... Keine Nacht mehr bleibt er im Hause ... keinen Schlaf kann er sich schaffen, weil der Teufel und seine Großmutter ihn an beiden Ohren gepackt haben, als wären sie gelernte Saufänger und der Herr Förster – mit Respect zu vermelden – die gehegte Sau! ... Nun, nun, immerhin, mein verblendeter Herr, immerhin! ... Ich wasche meine Hände in Unschuld, aber den Mund will ich mir nicht verbinden lassen! Ich wäre eine schlechte Schwester, wollte ich schweigen! Die innere Stimme gebietet mir zu sprechen und zu warnen! Wollen aber dir Leute, die es angeht, nicht hören, nun gut, so müssen sie fühlen! ... Das vornehm aufgetakelte Jungferchen mit ihren verführerischen Augen wird auch noch erfahren, daß die alte Tante mit dem verfitzten Gesicht ehrlicher war als eine andere Person in seidenen Kleidern und zehnerlei Schlappertuscheln auf ihren weiß geschminkten Schultern ... O, wir kennen uns, und wir werden uns, will’s Gott, noch besser kennen lernen! ... Die von oben herab behandelte bürgerliche Mamsell Kathrin’ tauscht noch immer nicht mit mancher gnädigen Frau! ... Man hat auch noch seine Reputation, und man läßt sich weder täuschen noch mit hochmüthigen Blicken abtrumpfen! ... Und das soll die Welt noch einmal erfahren, oder es müßte keine Gerechtigkeit mehr geben und keine gesetzliche Obrigkeit!«

In diesem Tone, in so anzüglichen Worten und drohend eingekleideten Redensarten lärmte die erbitterte Kathrine eine ganze Stunde lang fort, ohne deshalb ihre Arbeiten zu vernachlässigen. Sie ging oder polterte dabei treppauf, treppab, sie rief der Magd Befehle zu und hielt den Jägerburschen durch immer neue Aufträge ununterbrochen im Gange. Ab und an richtete sie auch wohl eine hastige, scharfe Frage an den Boten des Domdechanten, der in einem Winkel der Küche saß, um auf Antwort zu warten, und mit offenem Munde der Suada dieses kaum zu bändigenden Mannweibes zuhörte.

Erst über Tische kam eine mildere Stimmung über Kathrine. Sie erschrak über das Aussehen des Bruders. Daß das Davonlaufen eines unbesonnenen eingebildeten Mädchens, das ihrer Meinung nach früh genug aus eigenem Antriebe sich wieder einfinden werde, einen starken Mann so furchtbar angreifen könne, hatte sie doch nicht vermuthet. Im Grunde verdroß Kathrine auch diese Bestürzung des Bruders, weil sie dieselbe für unmännlich hielt. Darum beschloß sie, Andreas einen Wink zu geben.

»Nur, damit er sich nicht vor andern Leuten blamirt,« sagte sie zu sich selbst. »Wäre ich ein Mann und mir passirte das mit einem Kinde, na, ich wüßte was ich zu thun hatte, und bin gewiß, meine Cur würde anschlagen!«

Noch während des Mittagsessens, an welchem auch der Stiftsarzt und der Actuarius theilnahmen, führte Kathrine ihr Vorhaben aus, als sie den Nachtisch aufsetzte.

»So rappele dich doch auf und nimm dich zusammen!« raunte sie dem Bruder zu. »Mir sieht’s keiner an, daß ich vor Wirth nur so koche! Wenn das dumme Ding Hunger fühlt, klopft sie de- und wehmüthig von selber an deine Thür. Nur keine Furcht, Unkraut verliert sich nicht!«

Des Försters Blick lähmte die Zunge der Schwester. Er sagte aber nichts als: »Nach Tische wirst du anders urtheilen!«

Diese wenigen Worte veranlaßten Kathrine, einen Blick auf ihre Gäste, besonders auf den Stiftssyndikus zu werfen. Dieser stets heitere Mann trug zwar auch heute eine gewisse heitere Miene zur Schau, aber es war ihm doch anzumerken, daß er sich zwang und eigentlich im hohen Grade verstimmt sein mußte. Sie erklärte sich aber auch diese Verstimmung auf ihre Weise.

»Schwachheit der Männer oder überflüssiges Wichtigthun!« sagte sie still für sich. »Haben sie nichts zu thun, so vertreiben sie sich die Zeit am liebsten mit Spielen, Essen und Trinken oder, sind sie noch jung, mit Liebeleien, auf die sich denn auch die meisten unserer gefallsüchtigen jungen Gänschen einlassen, und kommt ihnen einmal was Apartes vor, da lassen sie entweder tiefsinnig die Köpfe hängen, damit die gewöhnlich bei allen Mannsleuten im Hinterkopfe oder gar im Nacken sitzende Weisheit mehr nach vorn schießt, oder sie tuscheln und muscheln, um ja eine verworrene Angelegenheit noch mehr zu verwirren. Das nennen sie dann gelehrt oder wissenschaftlich verfahren. Ich dürfte nicht Stiftssyndikus sein, ich pfiff immer aus dem ff. Was hat’s denn viel auf sich, daß der Kreuz-Matthes um die Ecke gegangen ist? Hatte er’s nicht längst verdient? Die Commune hat Ruhe davon, sie braucht jetzt den Nichtsnutz nicht weiter zu füttern!«

Der Stiftssyndikus gab das Zeichen zum Aufstehen. Dies Zeichen rief Kathrine wieder an die Tafel. Vom Vaterhause her hatte sowohl sie selbst wie der Förster die Gewohnheit beibehalten, vor und nach Tische ein stilles Gebet zu sprechen. Dies geschah auch heute. Nachher wünschte man sich gegenseitig, ebenfalls altem Brauche gemäß, gesegnete Mahlzeit, worauf Liebner die Worte an den Förster richtete:

»Zu einer Stunde denn, Cousin, wenn Sie bis dahin bereit sein können?«

Der Förster gab seine Zustimmung durch eine stumme Verbeugung zu erkennen, faßte den Arm seiner Schwester und trat mit ihr ins Nebenzimmer, dessen Thür er jedoch offen stehen ließ, sodaß man genau sehen konnte, was darin vorging.

»Ich werde dich auf unbestimmte Zeit verlassen, Schwester,« sprach Andreas mit zitternder Stimme.

»Um deiner verlaufenen Tochter nachzuspüren?« unterbrach ihn Kathrine.

»Mein Kind wieder aufzusuchen, muß ich guten Menschen anheimstellen. Ich befehle ihr Schicksal Gott!«

»Wo gehst du denn hin und was nöthigt dich, in dieser Jahreszeit zu verreisen?«

»Ich verreise auch nicht, ich ... bin meiner Freiheit beraubt.«

»Andreas!« rief Kathrine und tiefes Entsetzen malte sich jetzt auch auf ihren Zügen. »Ist es wahr? ... Du hast dich vergangen? ... «

»Ich bin frei von Schuld, aber der Schein zeugt gegen mich. Und Todte können nicht mehr sprechen.«

»Andreas!« wiederholte Kathrine. »Das ist mein Tod! Den Kreuz-Matthes ... «

»Hat eine mir zugehörige Kugel getödtet, das ist gewiß, Sie kam aber nicht aus dem Laufe meiner Büchse!«

Kathrine stand wie gelähmt. Sie heftete ihre Augen starr auf das Antlitz ihres Bruders, als könne sie aus dem Ausdruck seiner Züge seine Schuld oder Unschuld lesen. Andreas hielt ihren forschenden Blick zwar aus, obwohl es ihm schwer fiel. Er war sich ganz anderer Schuld bewußt.

»Kannst du nicht Caution stellen?« sprach sie nach einer Weile so leise, daß die im Nebenzimmer befindlichen Personen ihre Worte unmöglich verstehen konnten. »Ich selbst besitze kein baares Geld, aber ich habe einigen Schmuck ...«

Andreas drückte der Schwester die Hand. Eine Thräne füllte seine brennenden Augen.

»Du bist gut,« sprach er bewegt, »aber es nützt nichts. Ohne den Beweis meiner Schuldlosigkeit muß ich für dieses Menschen Mörder gelten!«

»Cousin!« sagte der Stiftssyndikus, in die Thür tretend. »Es dunkelt bereits stark, und der Weg nach dem Stift ist nicht der beste.«

»Bleibe stark,« rief Andreas der noch immer ganz bestürzten, ja fast vernichteten Schwester zu, »fasse Muth und halte gute Ordnung im Hause! Du sollst von Zeit zu Zeit Nachricht von mir erhalten. Sobald der Herr Vetter mir sicheres Logis angewiesen hat, wird er auch an mein verirrtes Kind denken.«

Er reichte Kathrine noch einmal die Hand. Diese war so zerstreut, daß sie nicht mehr wußte was sie that. Sie hielt den Bruder nicht; sie ließ ihn ohne Abschied von sich gehen. Auch dem Stiftssyndikus, der ein paar freundliche Worte an sie richtete, gab sie keine Antwort. Erst als sie das Gerassel des Wagens auf dem holperigen Pflaster des Hofs vernahm, kam sie wieder zu sich. Sie zuckte unter lautem Aufschrei zusammen, riß das Fenster auf und rief mehrmals wie eine Wahnsinnige dem im Trabe fortrollenden Wagen den Namen ihres Bruders nach, bis ihre Stimme durch lautes Schluchzen erstickt wurde.

Liebe und Zärtlichkeit waren in Kathrine Frei’s Charakter nicht zu voller Entwickelung gekommen. Wie Nachtfröste im Lenz junge Blütenkeime tödten oder nur dürftig gedeihen lassen, so hatten die Lebensverhältnisse, unter welchen die Schwester Andreas’ aufwuchs, gerade die zartern Anlagen des Weibes nicht so gepflegt, daß sie sich in wohlthuender Weise entfalten konnten. Wahre Liebe hatte Kathrine wahrscheinlich nie empfunden. Jedes liebende Paar reizte ihre Spottlust, und zärtliche Eheleute verlachte sie hochmüthig. Unter glücklicher Ehe dachte sie sich ein verständiges, auf gegenseitiges Wohlwollen gestütztes Zusammenleben, behufs irdischer Zwecke. Ab und an, meinte sie, könnten dann so große Kinder, wenn der Raptus gerade über sie käme, wohl auch miteinander tändeln und spielen.

Die Ehe ihres Bruders mit Cornelie Liebner hatte, wie wir wissen, nie Kathrinens Beifall gehabt, und seit sie die Wirthschaft im Forsthause führte, vermehrte sich noch ihre Abneigung gegen das Institut der Ehe im allgemeinen. Es konnte sie oft verdrießen, daß dieselbe als eine von Gott eingesetzte Einrichtung immer und immer so laut gepriesen wurde. Bei so vielen Seltsamkeiten, die in dem einseitigen Bildungsgange der alternden Jungfrau sich bis zur barockesten Caricatur verfestigen mußten, lag aber doch mancher Zug von Edelmuth in Kathrine verborgen. Was sie, allen unsichtbar, in dem verborgensten Winkel ihres Herzens von Liebe in sich trug, das concentrirte sich in der schützenden Fürsorge für ihren Bruder. Mochte sie noch soviel schelten und schimpfen, mochte sie tyrrannisch auftreten und sich in der abschreckenden Maske einer Xantippe zu ihrem eigenen Nachtheile zeigen: es war immer nur Liebe zu Andreas, die sie so handeln ließ.

Dieser liebevolle Zug der Schwester zu dem jetzt so furchtbar unglücklichen Bruder hielt Kathrine allein aufrecht. Es galt, Muth zu fassen, besonnen zu bleiben, entschlossen zu handeln, und Kathrine war dazu angethan, einen einmal gefaßten Entschluß auch mit all der Zähigkeit, die sie ihrem Charakter absichtlich gegeben hatte, durchzuführen.

Hildegarde kümmerte sie von dem Augenblicke an, wo Andreas, eines Mordes bezichtigt, verhaftet worden war, gar nicht mehr. Wie es dem leichtfertigen Mädchen erging, ob sie Mangel litt oder umkam, ob sie sich der Baronin in die Arme warf und von dieser in Schutz genommen ward, das alles hatte für Kathrine keine Bedeutung. Den Bruder nur wollte sie befreien, nicht mit Gewalt, nicht durch List oder Bestechung, sondern durch die Beweisführung, daß er schuldlos sei. Sie selbst zweifelte keine Sekunde an der Unschuld des Mannes, den sie höher schätzte als jeden andern, und dem sie mit so inniger Schwesterliebe anhing, daß für eine drittes Person nichts mehr übrig blieb.

Entschlossen und auch besonnen in ihren Handlungen, wenn sie von deren Wichtigkeit überzeugt war, theilte sie noch an demselben Tage der Hausmagd und dem Jägerburschen das Geschehene mit, da es ohnehin nicht verborgen bleiben konnte. Sie kündigte aber beiden gleichzeitig an, daß sie das Forsthaus sofort verlassen müßten, wenn sie sich unterfingen, ein Wort fallen zu lassen, das dem Förster nachtheilig sein könne. Getrost sprach sie es aus, daß ihr Bruder völlig unschuldig sei, und daß sie den Beweis seiner Unschuld führen werde. Wie sie dies anfangen sollte, war der entschlossenen Schwester noch unklar, allein sie besaß Muth und dem Muthigen gelingt ja oft das Unglaublichste.

Kathrine ließ sich einige Tage Zeit. In ihren Betrachtungen und Planen störte sie nur die Ankunft eines sogenannten Heideläufers, den der Baron von Kaltenstein einstweilen als Stellvertreter in das Forsthaus sandte. Die Beglaubigung, welche der junge Mensch vorzeigte, ließ eine Abweisung desselben nicht zu. Kathrine nahm ihn deshalb nach ihrer Art freundlich auf und wies ihm das Zimmer ihres in Haft befindlichen Bruders zur Wohnung an.

»Der Baron hatte sich wohl auch selber auf den Weg machen können,« dachte sie, sie sprach aber ihre Gedanken nicht aus, weil sie ja nicht wußte, ob der Heideläufer, der ein offenes Gesicht hatte, ihr nicht vielleicht zur Erreichung ihres Ziels behülflich sein könne.

»Sie kennen das Misgeschick meines armen Bruders?« fragte sie dessen Stellvertreter bei Tische, abermals sogleich mit Nachdruck die Unschuld desselben betheuernd. Dieser gab kurz eine bejahende Antwort.

»Haben Sie meinen Bruder schon einmal gesprochen?« fuhr sie fort.

Auch auf diese Frage lautete die Antwort bejahend.

»Der Herr Baron muß sich seiner annehmen,« sagte Kathrine. »Wenn er will, so kann er es auch, und es ist seine Pflicht. Niemand als gerade dem Herrn Baron wird der Förster mehr fehlen.«

»Ich hörte davon sprechen,« meinte der junge Weidmann.

Kathrine griff diese Worte sogleich auf und beschloß Nutzen daraus zu ziehen.

»Hörten Sie wirklich?« sagte sie lebhaft. »Wie heißen Sie denn?«

»Edmund – Edmund Kohlrausch.«

Kathrinens Stimme klang fast weich, als sie den Mann bat, ihm mitzutheilen, was er von den Entschließungen des Barons vernommen habe.

»Geht alles, wie es gehen soll und muß, Edmund,« sprach sie vertraulich, »so werde ich es gewiß nicht fehlen lassen, mich für Sie recht warm zu verwenden. Ich kann reden wenn ich will, und müssen die elenden Menschen, die schuld an dieser grausamen Verleumdung meines armen Bruders sind, diesem erst eine Ehrenerklärung geben, dann sollen sie die Wahrheit zu hören bekommen! Der Baron muß Ihnen die beste Stelle geben, darauf verlassen Sie sich, Edmund! Und nun erzählen Sie!«

Edmund Kohlrausch glaubte sich nichts zu vergeben, wenn er der Schwester eines Mannes, den er immer nur mit Achtung hatte nennen hören und der hoch stand in der Gunst des Barons, das, was er zufällig vernommen hatte, mittheilte. Er erzählte deshalb, daß der Stiftssyndikus in Begleitung des Domdechanten auf Kaltenstein gewesen sei, ein sehr langes Gespräch mit dem Baron gehabt und daß dieser beide hochgestellte Herren mit der Versicherung zu ihrem Wagen geleitet habe, er würde nicht ermangeln, seinen Sohn wegen der Kugeln zu fragen.

»Wegen der Kugeln?« wiederholte Kathrine.« Sonst haben Sie nichts gehört, Edmund?«

»Gar nichts.«

»Was glauben Sie, daß dies heißen soll?«

»Ich habe gar keine Meinung darüber.«

»Wegen der Kugeln!« wiederholte Kathrine nochmals, indem sie der vielen Heimlichkeiten gedachte, mit denen ihr Bruder seit Jahr und Tag sich beschäftigte. Trotz ihres Unglaubens an die Wirkung übernatürlicher Kräfte überraschte sie doch plötzlich der Gedanke, daß die Tödtung des verrufenen Bleidiebes doch wohl mit dem Kugelgießen am Schalkstein zusammenhängen könne. War dies wirklich der Fall, so erklärte sich daraus auch die Anwesenheit ihres Bruders in der Nähe des Kreuzwegs, wo man den Todten aufhob, und es ließen sich mit einiger Aussicht auf Erfolg die Wege des Försters in jener verhängnißvollen Nacht verfolgen.

»Der Baron von Kaltenstein hat gewiß von Freikugeln gesprochen,« sagte sie auf gut Glück. »Ich erinnere mich, daß mehrmals zwischen ihm und Andreas Frei die Rede davon war, und daß mein Bruder dem Baron das Versprechen gab, sich einige dieser Kugeln zu verschaffen. Kennen Sie Freikugeln?«

Edmund Kohlrausch verneinte diese Frage, und um das für ihn doch etwas peinliche Gespräch abzubrechen und die Gedanken der Mademoiselle Frei auf einen andern Gegenstand zu lenken, setzte er hinzu:

»Es soll – hieß es heute früh – gestern Abend ein anderer eingezogen worden sein.«

»Wegen des Erschossenen?«

»Ich hörte davon.«

»Nannte man seinen Namen?«

»Genannt hat man ihn, er ist mir aber entfallen. Es soll ein Mensch sein, der früher auch Jäger war, wegen Unrechtfertigkeiten aber abgesetzt ward. Seitdem rühmt man ihm nicht viel Gutes nach. Er ist einäugig.«

Kathrine hatte früher von ihrem Bruder gehört, daß ein alter einäugiger Jäger, der lange Förster gewesen war, im Verein mit Kreuz-Matthes unerlaubte Wege gehe. Sie wußte ferner aus manchem nur beiläufig hingeworfenen Worte ihres Bruders, daß dieser den Einäugigen ebenfalls kannte, und sie besaß genug natürlichen Verstand und gesunde Combinationsgabe, um die Vermuthung aufzustellen, es könne zwischen diesem gewesenen Förster und dem erschossenen Wilderer eine der Welt bisher noch nicht bekannt gewordene Verbindung stattgefunden haben.

Aus Klugheit drang Kathrine nach diesem letzten erhaltenen Winke nicht weiter mit Fragen in Edmund Kohlrausch. Sie wollte nicht neugierig erscheinen und noch weniger Mistrauen in der Seele des jungen Mannes erwecken. Ihre Absicht war, den neuen Hausbewohner als Spion zu benutzen, um dadurch ihrem Bruder nützen zu können.

Seit der Verhaftung des Försters hatte sie die Schwelle des Forsthauses noch mit keinem Fuße überschritten. Wie ein Drache saß sie in dem alten, unheimlichen Gebäude, und selten sah man sie ohne Hausschlüssel, weil sie die Thür desselben stets verschlossen hielt. Begehrte jemand Einlaß, so mußte man Kathrine rufen. Magd und Jägerbursche konnten ohne ihr Wissen das Haus weder verlassen noch es wieder betreten. Dieser strengen Hausordnung, die manche Unbequemlichkeit mit sich führte, mußte auch der Stellvertreter des verhafteten Försters sich unterwerfen ... Kathrine kündigte ihm in ihrer entschlossenen Weise, die keinen Widerspruch gelten ließ, an, daß sie von diesem Gebrauche durchaus nicht abgehe. Ihr eigener Bruder, obwohl alleiniger Herr im Hause, habe sich demselben ebenfalls unterworfen. –

Einige Tage später wühlte Kathrine stundenlang in dem großen Kleiderschranke, der nur ihr allein zugänglich war. Sehr früh schon hatte die Hausmagd unter Beaufsichtigung der ordnungliebenden Mademoiselle Frei einen großen Tisch von Lindenholz dreimal mit feinem Sande abscheuern müssen, damit er ja wirklich für gereinigt gelten könne. Jetzt mußte diese den so gereinigten Tisch neben den Kleiderschrank stellen, und nun begann Kathrine eine große Menge Kleider, manche von seltsamem Schnitt und aus Stoffen bestehend, die vor zehn und mehr Jahren modern gewesen sein mochten, höchst behutsam und sauber auszubreiten. Jede Falte derselben strich sie mit einer feinen Sammtbürste aus, legte sie dann wieder in die einmal vorhandenen Bruchfalten zusammen und verbarg sie abermals im Schranke. Endlich faßte sie, nicht ohne mehrfaches Besinnen, einen Entschluß. Sie wählte ein großgeblümtes Kleid von reichem Stoffe, das sie in zwölf Jahren wohl nur sechs- oder achtmal getragen hatte, und das mithin noch für neu gelten konnte, und bekleidete sich damit. Der Schnitt dieses Prachtgewandes war natürlich gänzlich veraltet, aber Kathrine sah ordentlich majestätisch darin aus, und ihr meistentheils sehr ernstes Auge strahlte von Zufriedenheit, als sie sich in ganzer Figur im großen Trumeau Corneliens erblickte, den sie heute das erste mal zu Rathe zog. Nach einigen scharfen Befehlen an die Hausmagd überreichte sie dieser unter starkem Herzklopfen den Hausschlüssel, kündigte ihre Rückkunft noch vor Einbruch des Abends an und verließ das Forsthaus.

Die entschlossene Dame schritt rasch vorwärts. Zum Schutz gegen schlechtes Wetter – der Himmel drohte mit Regen oder Schnee – trug sie einen Schirm mit rothseidenem Ueberzuge in der Hand, den sie als Stock benutzte. Auch Handschuhe hatte Kathrine an. Diese gehörten ihr jedoch ursprünglich nicht zu, sondern waren von ihrer verstorbenen Mutter auf sie übergegangen. Sie waren von schwarzem, feinem Leder, mit Pelz gefüttert, bedeckten aber nur die halbe Hand. Eine Decke, welche von den Wurzeln der Finger bis zu deren Spitzen reichte, lag auf der Oberfläche der Finger mehr zur Zierde als zum Schutz, denn auf dieser Decke befand sich eine Rosenknospe, nicht besonders glücklich aus Seide gestickt. Wie alles, was Kathrine gefiel und was ihrer Ansicht nach Werth besaß, trug sie auch diese Handschuhe nur bei seltenen Gelegenheiten. Daß ihre ganze Tracht grenzenlos geschmacklos war und daß sie Klügern oder doch mit der Zeit und deren Ansprüchen mehr Fortgeschrittenen zur Zielscheibe argen Spottes deshalb dienen müsse, davon hatte Kathrine Frei gar keine Ahnung. Sie glaubte höchst vornehm zu gehen und ganz stattlich auszusehen, und diese Ueberzeugung erhöhte noch ihr Selbstvertrauen.

Da Kathrine eine ganz rüstige Fußgängerin war, so erreichte sie nach Verlauf einer Stunde Schloß Kaltenstein. Es kostete sie Ueberwindung, den Wohnort der Baronin, die sie mehr noch haßte als ihre Nichte, zu betreten; aber sie that es ohne Scheu. Nicht als Bittende, als Fordernde kam sie, und nicht Eitelkeit, sondern ein edler Zweck veranlaßte sie zu diesem Schritte.

Auf dem Schloßhofe schon begegnete ihr der Reitknecht des Barons. Da diesem die wunderlich aufgeputzte Dame mit ihrem schreckenerregenden Hute, der wir ein schiefgebauter Rauchfang über die Stirn weit in die Luft hineinragte, sogleich in die Augen fiel, um ihr blatternnarbiges, erdfahles Gesicht den Gedanken in ihm aufkeimen ließ, es möge sich ein wanderndes Zigeunerweib in ihr verstecken, vertrat er ihr den Weg.

Kathrine setzte ihren rechten Fuß trotzig vor, hob den Regenschirm auf und fuchtelte damit vor den Augen des Reitknechts herum, als sei sie nicht abgeneigt, ihm nöthigenfalls einen derben Stoß damit zu versehen.

»Platz du grober Kerl!« rief sie ihm determinirt zu. »Ich hab’ Eile und muß den Baron sprechen. Ist er zu Hause?«

Der Reitknecht pflanzte sich fest vor Kathrine hin, stemmte beide Hände in die Seiten und erwiderte lachend:

»Für Leute in solchem Anzuge nicht!«

Kathrine senkte den erhobenen Schirm und schleuderte dem Reitknechte vernichtende Blicke zu. Dann trat sie mit einer kecken Wendung gegen ihn heran, versetzte ihm einen derben Stoß, daß er seitwärts taumelte, und ging aufgerichtet der Schloßpforte zu.

»Wenn Kathrine Frei mit dem Baron von Kaltenstein zu sprechen hat,« sagte sie, »dann treten die Knechte beiseite oder man stößt sie ohne Federlesen dahin. Versuch’ es nicht zum zweiten male, mir grob zu kommen, Bengel! Ich bin schon mit größern Flegeln fertig geworden!«

Der Reitknecht schwieg, da er doch nicht wissen konnte, ob sein Herr den Besuch dieser resoluten Dame, von deren Eigenthümlichkeiten oft schon die Rede gewesen war, erwartete. Kathrine aber, die eine bedeutende Routine besaß, mit ungeschliffenen Menschen umzugehen, ohne sich dabei zu ärgern, drang unaufhaltsam vor, bis ihr ein Bedienter begegnete. Diesem nannte sie sich ohne Umstände und verlangte kategorisch auf der Stelle zu dem. Baron geführt zu werden.

»Ich werde mir die Ehre geben, Sie zu melden,« sagte der Bediente, eine spöttische Miene annehmend, die ebenso gut Kathrine selbst wie ihrer auffallenden Tracht gelten konnte.

»Aus Seiner Ehre mache ich mir nicht so viel,« erwiderte die entschlossene Dame, ein Schnippchen schlagend. »Ueberhaupt bin ich nicht aufgelegt zu Complimenten, und darum troll’ Er sich! Ich folge Ihm auf dem Fuße.«

Während dieser kurzen Unterhaltung war Kathrine, dem zögernd zurückweichenden Bedienten unverdrossen folgend, bis in das Vorzimmer des Barons gelangt.

Sie sprach sehr laut, sodaß ihre Stimme weithin zu hören war. Dem Baron fiel dies ungewöhnlich laute Sprechen auf, was ihn veranlaßte, selbst die Thür zu öffnen.

»Da wäre ich ja schon, wo ich sein will,« sagte Kathrine, ihren Regenschirm neuerdings wie einen Speer vor sich hinhaltend, um den Bedienten durch dieses Manöver zur Seite zu drängen. »Mach Er sich jetzt fein aus dem Staube, Er sieht, daß Er hier unnütz ist!– Guten Morgen, Herr Baron!«

»Mademoiselle Frei?« sprach Baron von Kaltenstein, über den Besuch dieser Dame höchlichst verwundert. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Papperlapap, Baron!« unterbrach Kathrine den Edelmann. »Lassen Sie die Faxen, ich geb’ nichts drauf!«

Dabei glitten ihre Augen von einer Ecke des Zimmers zur andern, und mit geübtem Scharfblick entdeckte sie eine Menge Ordnungsfehler in dem an sich sehr wohnlich eingerichteten Raume.

»Da fehlt’s, merk ich, auch am Besten,« fuhr sie fort, »und wenn ich hier zu befehlen hätte, müßte das anders werden, ehe die Welt einen Tag älter geworden wäre. Aber darum handelt sich’s gegenwärtig nicht. Mir liegt Wichtigeres auf dem Herzen, als die Beseitigung bestäubter Spinngewebe in dem Hause eines Fremden.«

Ohne die ärgerliche Miene des von ihr überrumpelten Barons zu beachten, zog sie sich einen Lehnsessel heran und plumpte schwer hinein, indem sie ihren Schirm mit beiden Händen faßte und ihn derb auf die gebohnte Diele stampfte.

»Wissen Sie, weshalb ich Sie so zeitig überfalle, Herr Baron?« fuhr sie fort. »Ich will Ihnen reinen Wein einschenken, denn ich gehöre nicht zu den Feinen. Also gerade heraus: Warum haben Sie es zugegeben, daß mein Bruder Andreas ins Gefängniß gesteckt worden ist?«

»Aber beste Mademoiselle Frei –«

»Nicht beste, Baron, böseste mögen Sie sagen, da lügen Sie wenigstens nicht,« fiel Kathrine abermals dem Edelmann in die Rede. »Ich komme nur hierher, um eine klare, kurze Antwort von Ihnen zu holen. Haben Sie mir diese Antwort gegeben, dann sollen Sie eine Rede von mir hören. Nur unterhalten Sie mich nicht mit blumigen Redensarten, denn die lieb’ ich nicht. Ich bin noch aus der guten, alten Zeit, wo die Menschen auf ein gerades Wort mehr Werth legten als auf die geschnörkelten und gedrechselten Sätze, die seit der verrückten Franzosenzeit aufgekommen sind. Also flink heraus mit der Sprache! Meine Frage war, denk’ ich, verständlich!«

Der Baron gerieth in die peinlichste Verlegenheit.

»Wenn Sie, Mademoiselle Frei, den Grund der Verhaftung Ihres Bruders kennen,« versetzte er, seinen Unwillen bemeisternd, der durch das derb komische Auftreten Kathrinens einigermaßen gemildert wurde, »so können Sie die soeben an mich gerichtete Frage sich selbst beantworten. Ein Mann, der, mag er eine Stellung innehaben, welche er will, eines Verbrechens angeklagt oder nur verdächtig ist, darf nicht auf freien Füßen bleiben.«

»Wirklich!« sagte Kathrine, mit ihren kalten, stechenden Augen unter dem gewaltigen Schirme scharfe Blicke wie aus einem Schachte dem Edelmanne zuwerfend. »Mein Bruder ist aber kein Verbrecher!«

»Es freut mich, daß Sie eine so gute Meinung von ihm haben,« erwiderte Baron von Kaltenstein. »Unsere Ansichten begegnen sich in dieser Beziehung ... «

»Und Sie lassen es doch geschehen, daß man einen unschuldigen Menschen, der ohnehin nicht glücklich ist, so schmachvoll vor aller Welt blamirt? Nehmen Sie mir’s nicht übel, Baron, das ist schlecht, grundschlecht!«

»Sie scheinen sehr aufgeregt zu sein, Mademoiselle Frei!«

»Gottlob! eine Schlafmütze war ich nie! Oder soll ich etwa lachen und jubiliren, wenn sich mein einziger Bruder über die Schlechtigkeit der Menschen zu Tode grämen muß?«

»Es wird ihm hoffentlich gelingen, seine Unschuld zu beweisen.«

Kathrine stand auf, pochte mit dem Regenschirm auf den Boden und rief: »Das muß ihm gelingen oder ich begehe etwas, damit ich ihm Gesellschaft leisten kann! ... Was soll er denn anfangen ohne mich? ... Wer hat ihn gehegt, wer für ihn gesorgt? Verkommen und verdorben wär’ er schon längst, hätte Gott nicht Einsehen gehabt und mich ihm zur Schwester gegeben.«

Der Baron wußte auf diese Bemerkung nichts zu erwidern und Kathrine plumpte wieder zurück in den weichen Polsterstuhl.

»Beantworten Sie mir noch ein paar Fragen,« fuhr sie mehr fordernd als bittend fort. »Mein Bruder soll den Kreuz-Matthes erschossen haben, nicht wahr?«

»Der Verdacht der unseligen That lastet auf ihm.«

»Mit einer Kugel, nicht?«

»Mit einer sogenannten Freikugel, Mademoiselle.«

»Aha, da guckt der Fuchs schon aus dem Loche! Wissen Sie, Baron, von wem mein Bruder die Freikugeln hatte?«

»Er hatte sie selbst gegossen.«

»Mag sein, Baron! Allein gab er sich aber mit solchen Dingen, von denen er freilich erstaunlich viel hielt, nicht ab. Er hatte Gefährten, die ihm halfen, noch mehr, die ihn diese Narrenspossen lehrten. Wissen Sie davon gar nichts, Baron?«

»Ich hörte einmal davon sprechen, Mademoiselle Frei.«

»Hörten Sie auch die Namen der Männer nennen, die meinen armen Bruder zu solchen Thorheiten verleiteten? Nicht?«

»Jedenfalls habe ich kein Recht, des Weitern davon zu sprechen.«

»Nun sehen Sie, Baron, so ängstlich bin ich nicht, die Wahrheit zu sagen, obwohl ich nur ein schwaches Weib bin! Der Kreuz-Matthes und noch einer, ein Einäugiger, haben meinen unglücklichen Bruder diese nichtsnutzige Kunst gelehrt. Der eine ist todt, und der andere? Wissen Sie nicht, was aus dem andern geworden sein mag?«

»Man soll ihn vor einigen Tagen eingezogen haben.«

»Recht schön, Baron, aber warum? Doch wohl nicht um nichts und wieder nichts, oder, weil er nur mit einem Auge noch sehen kann?«

»Da Sie allem Anscheine nach unterrichtet sind, Mademoiselle Frei,« erwiderte Baron von Kaltenstein ausweichend, »so halte ich es für unnöthig, Ihre Frage zu beantworten. Ueberhaupt muß ich gestehen, daß ich noch immer nicht einzusehen vermag, mit welchem Rechte Sie das Interesse für Ihren bedauernswerthen Bruder so weit treiben, mich – entschuldigen Sie, Mademoiselle – mich in so auffallender Weise – zur Rede zu stellen.«

»Eine freundschaftliche Unterhaltung, Herr Baron, ist kein Verhör und kein Zurredesetzen,« sagte Kathrine. »Der Einäugige war im Besitze von solchen Freikugeln, wie man eine vorn in der Brust des Kreuz-Matthes fand. Mein Bruder besaß keine solchen Kugeln, seit der Stiftssyndikus ihm die vorhandenen wegnahm. Von Cousin Stiftssyndikus gelangten die dummen Kugeln in anderer Leute Hände, und wen diese Hände wieder damit beglückten, das macht vielleicht das Gericht ausfindig. Ich wollte nur es wäre schon so weit! Sie nicht auch, Baron?«

»Wenn diese Voraussetzungen sich alle bestätigen,« erwiderte der Edelmann, »dann sind ja Aussichten vorhanden, daß Ihr Bruder Ihnen bald wiedergegeben wird.«

»Ich hoffe und erwarte das, aber ich bin nicht geneigt, lange zu warten. Eine gewichtige Aussage genügt, um meinem Bruder die Freiheit sofort wiederzugeben.«

»Eine einzige Aussage?«

»Die Aussage zweier Menschen!«

»Das wissen Sie bestimmt?«

»Ganz bestimmt! Soll ich Ihnen die Namen dieser beiden nennen?«

»Unter vier Augen hat das wohl nicht viel auf sich.«

»Der Stiftssyndikus überließ die meinem Bruder weggenommenen Freikugeln Ihnen, Herr Baron, und Ihren

Herrn Sohne.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Wenn es nöthig sein sollte, den Mann zu nennen, so werde ich gewiß nicht schweigen!«

»Und was soll das alles, Mademoiselle Frei?«

Kathrine erhob sich wieder von ihrem Sitze und stieß hart mit dem Regenschirme auf die Diele.

»Nichts weiter als die Freigebung meines Bruders beschleunigen,« sprach sie entschlossen. »Sie beschwören, daß die Freikugeln meines Bruders in Ihre Hände gelangt sind, daß Sie dieselben weggeworfen oder verschenkt haben – was weiß ich – daß mithin Andreas in jener Nacht, wo der Kreuz-Matthes von einer dieser Kugeln durchbohrt ward, nicht mehr im Besitz auch nur einer einzigen derselben gewesen sein kann.«

»Auf wen meinen Sie durch ein solches Manöver den Verdacht der gehässigen That zu lenken, Mademoiselle Frei.«

»Danach frage ich nicht, Baron!«

»Desto schneller würde das Gericht diese Frage aufwerfen.«

»Quält mich nicht! Jeder ist sich selbst der Nächste!«

»Eben deshalb, Mademoiselle! Ein solcher Eid will, seiner Folgen wegen, bedacht sein!«

»Jeder unschuldige Mann kann ihn schwören, Baron!«

»Vielleicht! Gern und ohne sehr gedrängt zu werden, thut es gewiß keiner!«

»Dann wird man ihn drängen.«

»Sie, Mademoiselle?«

»Ich, Baron, der Cousin Stiftssyndikus, der Domdechant, der Stellvertreter meines Bruders.«

»Edmund Kohlrausch?«

»Er ist Andreas in jener Nacht begegnet!«

Der Baron senkte den Blick nachdenklich zu Boden. Er überschlug offenbar die Folgen einer Untersuchung, welche diese Richtung nahm.

»Mademoiselle Frei,« sprach er dann, »lassen Sie uns keinen zu raschen Schritt thun! Ich theile ganz Ihre Ansicht in Bezug auf Ihren Bruder, aber ich kann die Wege, welche Sie in Ihrer Rücksichtslosigkeit gehen wollen, aus mehr als einem Grunde nicht billigen. Warten wir die Aussagen des Einäugigen ab. Sie allein können uns ein Fingerzeig sein zur Darlegung der Unschuld Ihres Bruders!«

»Herr Baron,« erwiderte Kathrine und faßte krampfhaft den Griff ihres Regenschirms, »eine kurze Zeit will ich mich noch gedulden. Geschieht nichts in dieser Frist, so schrei’ ich die Geschichte mit den Freikugeln auf allen Gassen aus! Ich will den Bruder, der kein Schelm und kein Mörder ist, wiederhaben oder zu ihm ins Gefängniß gebracht werden! Sie, Baron, müssen mir dazu die Hand reichen, denn Sie, Sie und Ihr Haus sind doch an dem ganzen fürchterlichen Unglück schuld!«

»Mademoiselle Frei, Sie werden beleidigend!« sagte der Baron drohend.

»Beleidigend oder nicht, die Wahrheit werde ich niemals verheimlichen!« fuhr Kathrine fort. »Ohne die Frau Baronin wäre meine verstorbene Schwägerin dem Herzen ihres Mannes nicht entfremdet und meine Nichte nicht zu lauter vornehmen Schlechtigkeiten erzogen werden. Die Frau Baronin hat meinen unglücklichen Bruder aus dem Hause gejagt, zu den Wilderern getrieben, zu Heimlichkeiten, die des Teufels Spielzeug sind, verführt. Die Frau Baronin hat meine verwilderte Nichte auf der Seele, und das Unrecht, das man jetzt Andreas anthut, schreit laut um Rache zum Himmel!«

In heftiger Aufregung erhob jetzt Kathrine Frei den Schirm und hielt ihn mit drohender Geberde dem Baron entgegen.

»Ja, um Rache!« wiederholte sie in furienhafter Wildheit. »Und Rache will ich nehmen an dem Geschlecht der Kaltenstein, so wahr ein Gott im Himmel lebt! – Rache will ich nehmen für all den namenlosen Schmerz, der meines Bruders irdisches Glück untergraben und seine Kraft vor der Zeit gebrochen hat! Rache will ich nehmen für die Verwahrlosung der Tochter meines Bruders, die mich haßt, anstatt mich zu lieben, und die ich lieber mit kaltem Herzen verderben sehen will als Arm in Arm wandeln mit – mit – der gnädigen Frau Baronin von Kaltenstein!«

Kathrine machte, ihre stechenden, haßerfüllten Augen durchbohrend auf den Edelmann richtend, eine tiefe, steife, ceremoniöse Verbeugung vor diesem, und zog sich dann, immer rückwärts gehend, als habe sie Furcht vor dem so schonungslos von ihr Gereizten, ruhig aus dem Zimmer zurück.

Als sich Baron von Kaltenstein wieder allein sah, schlug er sich mit geballter Faust vor die Stirn und murmelte düster vor sich hin:

»Sie bringt mich doch noch ins Unglück! ... Sandomir, Sandomir, das alles habe ich dir gutzuschreiben!«


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