Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
CLOTILDE VON KALTENSTEIN.
Außer dem Baron floh in dieser Nacht auch noch eine andere Bewohnerin Kaltensteins der Schlaf. Clotilde fand nirgends Ruhe und wandelte mit nur geringen Unterbrechungen von einem ihrer Zimmer ins andere. Diese Ruhelosigkeit hatte sich der Baronin nur nach und nach bemächtigt. Anfangs schlief sie blos weniger gut als früher; dann stellten sich quälerische Träume bei ihr ein, die sich oft in fast ganz gleicher Form wiederholten und eine starke Ermattung bei der Erwachenden zurückließen. Eingetreten war dieser unangenehme Zustand, der alsbald in nervöse Ueberreizung ausartete, bald nach der Mittheilung Adolar’s, die Clotilde nicht mehr zweifeln ließ, daß es dem gegen sie aufgebrachten Sohne gelungen sei, den Versteck Hildegardens zu entdecken.
Zu stolz, um irgendeine Frage an den gegen ihren Willen durch eine übereilte Entschließung des Barons, wie sie meinte, zum Gebieter von Kaltenstein emporgestiegenen zu richten, wartete sie ruhig eine Zeit lang, um in Erfahrung zu bringen, ob Adolar ihr auch nur eine Falle habe legen wollen, damit sie sich in der ersten Bestürzung verrathe. Selbst voll schlauer Hintergedanken und geheimer Anschläge, traute Clotilde jedem Unredlichkeiten zu, wenn nur geeignet waren, ein bestimmtes Ziel dadurch leichter zu erreichen. Diese Zeit benutzte sie zur Gestaltung neuer ihr dienlicher Plane. Sie schwieg aber gegen jedermann. Inzwischen erhielt sie eine Bestätigung der Mittheilung ihres Sohnes durch Kathrine Frei. Ganz gegen alles Erwarten traf Clotilde eines Tags, als das herrliche Wetter sie zu einem Spaziergange in die nächsten Umgebungen des Schlosses verlockte, mit diesem entschlossenen Mannweibe zusammen.
Beide einander feindlich gesinnte Frauen standen sich plötzlich gegenüber, und das Entsetzen, der Zorn, von dem sie befallen wurden, mochte in beiden gleich heftig sein. Kathrine aber war schon deshalb der Baronin gegenüber im Vortheil, weil sie sich im Rechte wußte und ihre Vorwürfe, mit denen sie Clotilde sogleich zu überschütten begann, auch begründen konnte.
Kathrine Frei machte, wie sie zu sagen pflegte, ihrem Herzen Luft, und da sich ziemlich viel Zündstoff in ihr angesammelt hatte, so gab es eine Scene, welche die Schuldbeladene moralisch vernichtete.
Die Tante Hildegardens rechnete der Baronin alle Sünden vor, die sie begangen hatte.
Ihr Wort war von zweischneidiger Schärfe, da es ihr gar nicht einfiel, die verhaßte Gegnerin mit Schonung zu behandeln. In diesen entsetzensvollen Minuten – denn länger dauerte die Begegnung nicht – ließ die zornige Schwester Frei’s auch Worte fallen, welche Clotilde nicht misverstehen konnte. Ihr böses Gewissen legte denselben eine noch größere Bedeutung unter, als sie eigentlich hatten. Sie glaubte, ihre ganze Vergangenheit sei Kathrine bekannt geworden, und der Schrecken, sich der schonungslosen Feindin in ihrer ganzen entehrenden Blöße zu zeigen, machte sie verstummen. Es gab für sie, die Verrathene, die wahrscheinlich vom eigenen Gatten Verrathene keine Rettung mehr. Flucht in die weite Welt oder der Tod allein konnten sie vor noch größerm Schimpf bewahren.
Seit dieser Begegnung kränkelte Clotilde leiblich und geistig. Ein Versuch, Hildegarde einen Brief zuzustellen, scheiterte an der Wachsamkeit des Grafen von Serbillon. Sie bekam denselben, sauber convertirt, ohne jegliche Nebenbemerkung zurück. Dies war ein Schlag für die stolze, herrschsüchtige und ehrgeizige Frau, der sie tödlich traf. Gewiß hatte – mit diesem Gedanken quälte sich Clotilde ohn’ Unterlaß – die Gräfin ebenfalls Kenntniß von ihrer Vergangenheit! ... Sie war verstoßen, von der exclusiven Gesellschaft verfemt, unter die verachtetsten Abenteuerer geworfen! ... Kaum dem Bruder, über den sie sich bisher doch so hoch erhaben dünkte, konnte sie sich noch gleichstellen! ... Und dieser Bruder lag, halb genesen von der Schußwunde, die ihr eigener Gatte ihm beigebracht hatte, im Schlosse und nahm die Miene an, als wolle, könne und dürfe er sich vereint mit Zerline, die sich bei allen einzuschmeicheln und beliebt zu machen verstand, dauernd im Schlosse niederlassen!
Ein furchtbarer Gedanke nahm von diesem Augenblicke an Besitz von Clotilde. Aus gewissen Anzeichen glaubte sie sich zu der allerdings entsetzlichen Annahme berechtigt, der eigene Gatte habe die Schande ihrer Jugend der Welt preisgegeben! ... Seit Monaten schon hielt sie ihn eines solchen Schrittes fähig, denn er nahm auffallend rüde Gewohnheiten an und suchte offenbar Zerstreuungen auf, die eines gebildeten Mannes nicht würdig sind. Schon, daß er ihr auswich, daß er nie mehr mit ihr speiste, ließ sie eine völlige Entfremdung errathen, die sie unter andern Umständen allerdings nicht sehr bedauert haben würde, in ihrer augenblicklichen Lage aber schaudererregend fand.
Adolar floh die Mutter ebenfalls, nur Zerline zeigte immer Lust sich an sie zu drängen. Gerade dies schlangenglatte Geschöpf, dessen Gedanken und Absichten Clotilde nicht zu ergründen vermochte, war ihr zuwider, und damit sie sich der unheimlichen Tochter des verachteten Bruders fern halten könne, zog sie es vor, sich ganz auf ihre Zimmer zu beschränken.
Hier nun hielt die Baronin allerdings die Eindrücke der Außenwelt von sich ab, Ruhe aber gab ihr diese Abschließung nicht. Es fehlte ihr in der Einsamkeit theils an zerstreuender Beschäftigung, theils an der erforderlichen Ausdauer bei einer bestimmten Thätigkeit. Immer nur durch nichtige Tändeleien die Zeit verkürzend, belästigte sie alle Arbeit, während das frühere bloße Spielen damit sie nicht genug interessirte, um den Gärungsproceß in ihrem verschlossenen Innern damit zu schlichten.
So bildete sich nach wenigen Wochen ein Zustand aus, der eine äußerst bedenkliche Wendung zu nehmen drohte. Clotilde schlief fast nie mehr ordentlich, sie verfiel nur in ein traumerfülltes Delirium, in dem sie Höllenqualen erdulden mußte. In einer Klarheit, die sie entsetzte, so greifbar natürlich, daß die Geängstete an Täuschung nicht glauben konnte, mußte sie immer von neuem ihr ganzes an Vergehungen aller Art so reiches Leben durchgenießen. Kein Augenblick, in dem sie gegen ihr besseres Wissen sündigte, ward ihr erspart, und immer waren die einstigen Genossen dieses Treibens ihr auch in der Tortur des Traums, welche die strafende Nemesis über die verirrte Seele verhing, treue Gefährten. Sie vernahm ihr höhnisches Lachen, sie erkannte in Blicken und Zügen die Schadenfreude, die sie über die leichtsinnige, eitle Frevlerin empfunden, und dennoch mußte sie ihren Lockungen folgen, ja nicht selten als Verführerin ihnen die zu Schuld und Schande geleitenden Wege zeigen!
Ermunterte sich Clotilde nach oft stundenlanger Qual, dann erschrak sie vor dem Falle jedes Blattes, vor dem Summen einer Fliege, vor dem wankenden Schatten, den ein zitterndes Bändchen leicht gegen die Tapete warf.
Gern hätte sich die Gepeinigte mit Menschen umgeben, aber sie fürchtete deren beobachtende Blicke und mehr noch sich selbst und ihr verrätherisches Gelispel, aus dem sie sich zu wiederholten malen schaudernd ertappte.
Sollte sie unwillkürlich einer dritten Person Einblick in ihr verwüstetes Inneres gestatten? Nie! rief der noch ungebrochene Hochmuth in ihr. Lieber wollte sie einsam, unbemerkt die dreifache Qual erdulden oder die Mordhand gegen sich selbst erheben.
Schreckensgebilde der Nacht aber, die als ernste Mahnungen eines bösen Gewissens dem unfrei gewordenen Geiste entsteigen, sind giftig wie böse Wetter, die über verschütteten Erzschächten ihre dunstigen Fittiche regen. Die Gedanken, von denen Clotilde ohne Unterlaß verklagt ward, nahmen alsbald auch Gestalt an, und die Einsamkeit ihrer Gemächer bevölkerte sich mit einem Schwarme bunter Masken. In dieser körperlichen Gesellschaft, als deren Mittelpunkt sie sich fühlte, mußte sie leben! Mit ihr zu verkehren, zu sprechen ward sie von einer unsichtbaren Macht gezwungen, der sie regungslos dienen mußte.
Niemand kannte diese furchtbaren Leiden der Einsamen, viele aber ahnten deren Ursprung. Das Schloßgesinde sprach heimlich davon, von offenen Mittheilungen hielt es die Furcht vor Dienstentlassung zurück. Mit dem neuen Herrn von Kaltenstein war weit weniger zu spaßen als mit dem alten Baron. Adolar herrschte als Autokrat, und bisweilen hatte es den Anschein, als wolle er seine Leute, die er ja vom Vater mit übernommen hatte, zu Widersetzlichkeiten reizen, nur um einen Grund zu haben, sich ihrer entledigen zu können.
Ohne bedeutende Veränderungen hielt dieser Zustand Clotildens bis zu der plötzlichen Abreise des Barons an. Das Kommen und Gehen vieler Boten im Schlosse, die Gespräche, welche Adolar bald mit dem Förster bald mit dessen Cousin gehabt hatte, deuteten wichtige Vorgänge an. Hätte Clotilde wagen können, sich vor Menschen in der Hinfälligkeit ihres Körpers und der krankhaften Reizbarkeit, deren Sklave sie bereits geworden war, sehen zu lassen, dann würde sie nicht angestanden haben, sich um das viele Geheimnißvolle, das auch nur wie ein Schattenspiel ihre Nerven berührte, zu kümmern.
Nach des Barons Abreise, dem Adolar alsbald folgte, verschlimmerte sich die Krankheit der Unglücklichen. In die Reihen der Masken, die sie neckten und höhnten, und die sie alle mit Namen hätte nennen können, mischte sich jetzt noch eine Gestalt, der Clotilde lange Jahre selbst in ihren bösesten Stunden doch nur momentan gedacht hatte. Solange sie gesund und Herr ihres Willens war, konnte sie diesen Geist bannen. Nun aber hatten die vielen ruhelosen Nächte, die schrecklichen Träume, die immer mehr zunehmende Appetitlosigkeit ihre Kräfte beinahe aufgerieben, und in ihrem Kopf schwirrte es, als sprächen und lachten ein Dutzend fremder Stimmen wüst durcheinander.
Es war ein Frauenbild, aus dessen wunderbar tiefen Augen eine unbeschreibliche Milde sprach. Diese Phantasiegestalt zeigte sich jetzt der kecken Baronin kniend, von Thränen überströmt, todtenbleich am Rande eines offenen Grabes. In der Tiefe der uneben aufgewühlten Erde ward ein einfacher Sarg sichtbar, den kein Abzeichen, kein Kranz oder Band schmückte. Jenseit des Grabes lag ein Bündel, das sich bewegte. Es war nicht Tag und nicht Nacht, denn eine flimmernde farbige Helligkeit wehte durch die rauschende Waldung und ließ diese in einem durchsichtigen, zitternden Glanze erscheinen. So wird eine nordische Nacht nur von der prachtvollen Erscheinung des Nordlichts erhellt. Den Norden aber verrieth die Waldung, die Vegetation und auch die Kleidung einiger entfernt stehender Personen, die der polnischen Nation angehörten.
Diese Erscheinung auf der Netzhaut des Auges wiederholte sich so oft und so deutlich, daß Clotilde den ganzen Rest ihrer Geisteskraft zusammennehmen mußte, um den Eindruck dieses für sie schrecklichen Bildes ertragen zu können. Sie kannte die jammernde gebrochene Gestalt; sie wußte, wer in dem Sarge lag, sie hatte die kraftlosen Bewegungen des Bündels gesehen! ...
Sich schüttelnd wie im Fieber, rief sie aus, die bleichen abgemagerten Hände an ihre heiße Stirn legend:
»O – o! die Todten stehen auf! Das hat Sandomir verschuldet mit seinem gräßlichen Fluche! ... «
Mehrmals verschwindend, als wolle es sich recht an der Seelenpein der Baronin ergötzen, kehrte das Bild immer von neuem zurück. Selbst als sie die Schritte des Barons und dessen rauhe Stimme hörte, verließ es sie nicht. Eher wurden die Farben noch greller als früher, und sie vermeinte das Schluchzen der am Grabe Knienden zu vernehmen.
Die ganze Nacht mußte Clotilde sich mit diesen Einbildungen herumschlagen. Sie zuckte fast erfreut zusammen, als der Tag anbrach und es sehr lebhaft auf dem Schloßhofe zu werden begann. Ganz deutlich hörte sie schnell hintereinander zwei Wagen durchs Thor fahren.
Nach längerm Hin- und Wiedergehen trat dann die gewohnte Ruhe wieder ein. Clotilde hob eins der Rouleaux und sah scheu über die schattigen Gänge und Baumgruppen des Parks, den sie nebst einem bedeutenden Segment der südlich ziehenden Gebirgsmauer überblicken konnte. Der Himmel war leicht bedeckt, die Luft ruhig. Auf den Feldern waren Schnitter mit dem Mähen des ersten frühreifen Roggens beschäftigt. Wäre sie kräftigen Körpers, heitern Geistes gewesen, wie gern hätte sie sich dann jetzt in ihren bequemen Wagen gelehnt und sich langsam an den erhitzten Arbeitern vorüberfahren lassen, um sie recht gemächlich zu lorgnettiren, ihre devoten Grüße vornehm zu erwidern oder auch ganz unberücksichtigt zu lassen, und aus diesem völlig nutzlosen Treiben neuen Genuß zu saugen.
Auch auf diese leichte Zerstreuung mußte die kranke Baronin verzichten. – Wie hatte sich die Welt, wie ihr Schicksal sich verändert seit einem einzigen kurzen Jahre! War es doch, als hätte der Tod Corneliens ihr ganzes Glück zerstört, und mit dem Versinken der Freundin in die Gruft sei auch ihres Daseins Sonne für immer erloschen.
Gegen das Licht des Tags sich wieder abschließend, schellte sie ihrer Zofe und richtete die Frage an diese: ob der Baron Besuch erhalten habe. Das junge Mädchen schwieg zögernd. Dies Schweigen erbitterte die überreizte Dame und veranlaßte deren Wiederholung.
»Der Herr Stiftssyndikus und ein geistlicher Herr,« antwortete darauf die Zofe mit gesenktem Blicke, »sind zuerst in Begleitung des jungen Herrn Barons eingetroffen; später führte eine zweite Kalesche eine der Kleidung nach sehr vornehme Dame mit einer – mit einer andern Person in den Schloßhof.«
Clotilde trat rasch auf das zaghafte Mädchen zu und nöthigte es, indem sie mit ihrer abgemagerten Hand dessen Kinn erfaßte, sie anzublicken.
»Warum schlägst du die Augen nieder?« sagte sie, mit unheimlich stechenden Blicken die Zofe durchbohrend. »Haben sie dich bestochen? Sollst du mich belauschen, aushorchen? Nimm dich in Acht, Thörin! ... Wer mich hintergehen will, der spielt um Leben und Seligkeit!«
Das Wort Spiel machte die Baronin, obwohl sie es selbst brauchte, zittern. Sie wich von der Zofe zurück, als müsse sie sich gegen einen ihr drohenden Angriff vertheidigen, und nahm erst am Fenster wieder Stellung, indem sie sich halb mit der Gardine verhüllte. Fortwährend das Auge finster und mistrauisch auf die Dienerin richtend, fuhr sie fort:
»Ist es der Domdechant, welcher Adolar begleitet?«
»Ich kenne den Herrn nicht,« lautete die Antwort der Zofe.
»Und die Begleiterin der Dame ist dir auch unbekannt?«
Das ängstlich gewordene Mädchen zögerte abermals mit der Antwort, was Clotilde bis zur Wuth empörte.
Mit geballter Faust stürzte sie sich auf die Zofe, daß diese vor der unheimlichen Gebieterin flüchtete und die Thür zu gewinnen suchte. Eine rasche Wendung der Baronin schnitt jedoch der Eingeschüchterten diesen Weg ab und drängte sie in die Ecke. Draußen ward es lebendig.
»Undankbares, tückisches, gemeines Geschöpf,« rief Clotilde, das zitternde Mädchen in furienartiger Wildheit umkreisend, »du kennst die Gefährtin der Dame und ich will jetzt ihren Namen von dir hören!«
»Gnädigste Frau Baronin verzeihen,« stotterte die Dienerin mit flehend erhobenen Händen. »Ich wußte ja nicht, ob ich ihn nennen durfte ... Gnädige Frau sind so schreckhaft, so aufgeregt! ... Wenn Sie sich nun entsetzten! ... Mademoiselle Frei sah furchtbar ... «
»Die Schwester des Försters wagt es, ins Schloß zu dringen?« unterbrach Clotilde in zornigem Aufbrausen ihre Zofe. »Man soll die widerwärtige Person auf der Stelle fortschaffen! Ich weiß, daß sie zu mir will, daß sie mich mit ihren giftigen Reden peinigen und sich an meiner gegenwärtigen Hinfälligkeit weiden will! ... Das aber soll ihr nicht gelingen, mich schwach zu sehen! ... Also fort! Hinaus aus dem Schloßhofe! Und will sie sich sträuben, so brauche man Gewalt! ... Der Baron ist ja wieder hier. Als mein Gemahl ist er verpflichtet, mich vor unbequemen und schlechten Menschen, vor gemeinem, niedrigem Gesindel zu schützen! ... Ich befehle den Baron zu mir! ... Ich will ihm meine Meinung sagen, und ihn an seine Pflicht erinnern! ... «
Zum Glück für die Dienerin trat gleich nach dieser mit großer Bestimmtheit ausgesprochenen Willensmeinung Clotildens der Baron persönlich ins Vorzimmer seiner Gattin. Diese vernahm seinen Schritt und eilte der Thür zu, deren Portière sie hob. Beide Gatten maßen einander mit düstern Blicken.
»Mein Gemahl,« begann Clotilde zuerst, »ich wollte Sie eben rufen lassen. Man überfällt uns, fürcht’ ich, und Sie wissen, daß Ruhe allein mein Uebel beseitigen kann!«
Der Baron schien geistig sehr gelitten zu haben. Die Röthe seines trotz der schlaffen Züge doch starken Gesichts war gänzlich verschwunden. Nur Furcht oder Schreck konnte diese auffallende Veränderung in ihm hervorgebracht haben. Ohne die Anrede Clotildens zu erwidern, sagte er kurz zu der Zofe:
»Ins Vorzimmer! Da harren Sie, bis man Sie rufen wird!«
Die feste, schneidend kalte Stimme des Barons verhinderte Clotilde, Einspruch gegen diese Anordnung zu erheben. Auch wollte sie ja wirklich ihren Gatten sprechen, und wenn dies ohne Zeugen geschah, gereichte es ihr vielleicht selbst nur zum Vortheile.
»Madame,« redete der Baron seine Frau an, »ich habe Ihnen die Mittheilung zu machen, daß der Herr Stiftssyndikus Liebner Sie in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünscht. Meinen Vorwand, daß Sie krank seien und niemand annehmen könnten, wollte man nicht gelten lassen. Hoffentlich leiden Sie nicht so heftig, daß eine wahrscheinlich nur kurze Unterhaltung – der Stiftssyndikus hat mich versichert, er wolle nur einige Fragen an Sie richten, auch sei er beauftragt, Ihnen einen Brief persönlich zu übergeben – Ihrer Gesundheit nachtheilig werden könnte. Sind Sie also bereit, den Ihnen bekannten Herrn zu empfangen, so lasse ich ihn eintreten. Er ist meines Winkes gewärtig.«
Clotilde war so aufgeregt, daß sie momentan von den Leiden, die sie quälten, nichts fühlte. Schwerlich aber würde sie der Aufforderung des ihr längst entfremdeten Gatten entgegengekommen sein, wäre ihre Neugierde nach Nachrichten aus der Welt nicht stärker gewesen als die Abneigung gegen den Mann, den sie nie geliebt hatte und den sie aus einem sehr triftigen Grunde seit geraumer Zeit verabscheute.
»Liebner ist nicht allein,« sagte sie, noch mit einem Entschlusse ringend. »Ein Geistlicher begleitet ihn, sagt man mir. Was hat dieser auf Kaltenstein zu suchen?«
»Der Herr Stiftssyndikus wird diese Frage besser zu beantworten wissen als ich, Madame! Sind Sie bereit?«
Clotilde verneinte nicht. Darauf trat der Baron zurück und hob die Portière. Lächelnden Gesichts überschritt der Stiftssyndikus die Schwelle. Dem schlauen Juristen folgte Abbé Kasimir, in dessen intelligenten Züge die Spuren schwerer geistiger Leiden und qualvoller Seelenkämpfe zu lesen waren.
Die Baronin ließ ihre tiefliegenden, von einem unruhigen Feuer blitzenden Augen nur wenige Secunden auf Liebner ruhen, dann glitten sie zu dem hohen, ernsten Priester, der nach einer stummen Verbeugung hinter dem Stiftssyndikus stehen blieb. Der Baron näherte sich dem Priester einige Schritte, redete diesen aber nicht an.
Bestürzt und von bangen Ahnungen gefoltert, erwiderte Clotilde nicht einmal die Begrüßung des alten Juristen. Sie nahm Platz in dem Fauteuil, der ihr gewöhnlich zum Ruhesitze diente.
»Ich ersuche Sie, gnädige Frau Baronin,« hob der Stiftssyndikus an, »in meiner Eigenschaft als Rechtsanwalt, mir in Gegenwart dieser Zeugen die Frage zu beantworten, ob Ihnen eine polnische Familie Ludomirsky bekannt ist oder ob Sie jemals von deren Existenz mittelbar oder unmittelbar Kunde erhalten haben?«
Das Entsetzen, welches sich, noch ehe Liebner seinen Satz vollenden konnte, auf dem verstörten Gesicht Clotildens malte, war allein schon eine Antwort, die keine Deutung zuließ. Ihre Augen, die brennend auf dem Stiftssyndikus ruhten, wurden tiefer und stierer. Mund und Hände befiel ein krampfhaftes Zucken, und ohne die Frage Liebner’s zu beantworten, schnellte sie plötzlich empor, streckte abwehrend beide Hände mit gespreizten Fingern vor sich aus und rief dumpf und hohl:
»Hinunter! Hinunter!«
Der Stiftssyndikus erfaßte die Hand der Wankenden und führte sie zurück zum Stuhle.
»Ich bedauere unendlich, gnädige Frau, daß Sie wahrscheinlich infolge einer schlaflos verbrachten Nacht meine Frage nicht richtig aufgefaßt haben,« sagte er, indem er die Miene annahm, als habe er weder das Entsetzen der Baronin gesehen noch ihren unverständlichen Ausruf vernommen. »Die genannte Familie Ludomirsky ist nicht, wie man bisher meinte, ausgestorben. Ein Nachkomme derselben lebt noch, und auf Bitten desselben, dem viel daran gelegen ist, alles Unrecht gegen früher vernachlässigte Familienglieder nach Kräften wieder gut zu machen, habe ich mich bereitwillig erklärt, ihn in diesem edeln Bestreben zu unterstützen. In diesem Priester der Kirche, gnädige Frau, sehen Sie den Enkel des letzten rechtmäßigen Wojwoden von Ludomirsky, Namens Kasimir Ludomirsky, vor sich. Eine seiner Tanten soll – einem allerdings unverbürgten Gerücht zufolge – an einen Herrn Sandomir ... «
Clotilde begann krampfhaft zu lachen und ihre Hände flogen als würden sie galvanisirt.
»An einen Sandomir Geldern verheirathet worden sein,« vollendete langsam und mit großem Nachdruck sprechend der Stiftssyndikus.
Das Krampflachen der Baronin verlor sich nicht. Liebner winkte dem Abbé.
»Ich bitte um den Brief,« flüsterte er diesem zu.
Abbé Kasimir überreichte dem Stiftssyndikus ein bereits erbrochenes Schreiben. Mit diesem trat er der Baronin wieder näher, stützte sich auf die Lehne des Stuhls, der die Unglückliche trug, und fuhr fort:
»Ihrem Gedächtniß, gnädige Frau, kommt vielleicht ein der Vergangenheit entnommener Anhaltepunkt zu Hülfe. Den Bemühungen des Herrn Abbé und seiner Freunde ist es gelungen, das Porträt jener Dame, welche durch ihre Vermählung den Namen Geldern annahm, aufzufinden. Man hat es mir eingehändigt. Hier ist es.«
Der Lachkrampf war vorüber. Liebner ließ die Papierhülle, welche das Miniaturporträt Berenice’s von Ludomirska umschloß, auf den Boden gleiten und hielt der Baronin dasselbe dicht vor die Augen. Ein einziger Blick darauf und Clotilde brach mit dem Aufschrei: »Berenice! ... Meine Mutter! ... « zusammen.
Der Abbé eilte erschüttert seiner Verwandten zu Hülfe, nur der Baron blieb voll finstern Grolls mit gekreuzten Armen am Tische stehen, gegen den er sich gelehnt hatte.
Clotilde war nicht bewußtlos, aber ihre Gedanken füllten sich mit verworrenen Bildern. Wieder sah sie das offene Grab vor sich, wieder hörte sie das Jammern ihrer Mutter, gewahrte die Bewegungen des jenseit der Grube liegenden Bündels. Die wilden wirren Worte, die sie zusammenhangslos ausstieß, die heftigen Drohungen, die sie gegen den Abeé schleuderte, den sie offenbar mit einer andern Person ihrer Erinnerung verwechseln mußte, erschütterten alle tief, und die Thränen, welche dem Stiftssyndikus bei diesem jammervollen Anblick entfielen, entsprangen wirklich einem menschlich natürlichen Mitgefühl.
»Meine Vermittelung ist hier zu Ende,« sprach er, von der Leidenden sich abwendend. »Ist Hülfe überhaupt noch möglich, so wird nur ein Arzt oder ein Geistlicher sie gewähren können.«
»Nicht dürfen?« rief in diesem Augenblicke eine rauhe Frauenstimme. »Was einem nicht verboten ist, das darf man, Mamsell Naseweis! Meint Sie, ich kenne die Stimme Ihrer sogenannten gnädigen Frau nicht? ... Gehorsamer Diener! An dem Geächz und Gestöhn höre ich, daß sie endlich einmal ihr verfluchtes Lotterleben und das böse Gewissen mürbe gemacht haben. Nach dieser Stunde habe ich gelechzt seit vielen Jahren! ... Sie hat mich bespien mit ihren hochmüthigen, frechen Augen, so oft sie das Forsthaus betrat; sie hat sich vor mir geschüttelt, als sei ich ein leibhaftiges böses Ding, vor dem man ein Kreuz schlägt, damit es uns nichts thut; sie hat mich geärgert, als ob sie’s noch aparte zu ihrem Schlüsselgelde bezahlt kriegte, und meine Nichte, das alberne, eingebildete Ding, hat sie dem leibhaftigen Gottseibeiuns in die Hände gejagt, daß er das arme Wesen mit Haut und Haar sich angeeignet haben würde, wären nicht ein paar Härchen an der glatten, hübschen Puppe von irgendeinem Heiligen berührt worden! Jetzt ist die Stunde gekommen, in der ich das Recht der Wiedervergeltung üben will. Und darum lasse ich mich von einer Jungfer Naseweis nicht abweisen, und führe die hoffärtige Person schon in der nächsten Minute mit Trompeten und Pauken in die Hölle!«
Mit stark geröthetem Gesicht schritt Kathrine Frei durch die Portière. Es geschah dies mit solchem Ungestüm, daß ihr plumper Schuh darauftrat und die Ungeschickte beinahe ins Zimmer gefallen wäre.
»Dummes, unnützes Gelumpe!« rief sie finster. »Vor einem Himmelbett laß ich mir das Zeug gefallen, es vor Thüren aufzuhängen, ist purer sündhafter Hochmuth!«
Der Stiftssyndikus erfaßte die harte, knöcherne Hand der Zornigen.«
»Haben Sie denn gar kein Christenthum, Mademoiselle,« sagte er, »daß Sie selbst einer vielleicht Sterbenden gegenüber Ihrer gottlosen Zunge nicht gebieten können?«
»Gehorsamer Diener, Herr Cousin,« versetzte Kathrine. »O ja, Christenthum hat man, und zwar mehr als viele, die sich damit brüsten. Man hat, gottlob! christliche Aeltern gehabt und ist in christlicher Gottesfurcht erzogen worden!«
Sie drängte den Stiftssyndikus beiseite, um der Baronin näher zu treten, die, Berenice’s Bild krampfhaft umschlungen haltend, schwer athmend, aber mit offenen Augen, halb im Arme des Abbé Kasimir ruhte. Wahrscheinlich erkannte die Baronin die Schwester des Försters, wenigstens glitt ihr tiefes, dunkles Auge von dem Porträt auf die Tante Hildegardens.
Kathrine Frei blieb hoch aufgerichtet vor Clotilde stehen und betrachtete sich die gebrochene, entsetzte Dame in den reichen Kleidern, die sie trug, geraume Zeit. Dann wendete sie ihr blatternnarbiges Gesicht dem Baron zu und sagte:
»Ich bin immer gerecht, mein Herr Baron, und muthe niemand mehr zu, als er ertragen kann. Die meisten andern Frauen würden an meiner Stelle ihr Müthchen an der Wehrlosen gekühlt haben. So schlimm hab’ ich’s nicht mit ihr vor. Ich begnüge mich mit der Genugthuung, die dieser Anblick mir gewährt. Sie hat ihren Lohn dahin, und ich fühle sie hier unter mir.«
Kathrine Frei stampfte ihren Fuß hart auf die teppichbelegte Diele.
»Gottlob!« fuhr sie fort, der Thür zuschreitend, »mit der dort wäre ich fertig. Nun kommt die Junge daran, die sie zu ihrem Ebenbilde machen wollte ... Ja, gehorsamer Diener, Frau Baronin! Dero hochadeliche Macht hat den Schwund bekommen, und wenn es auch der Rechtsgelehrtheit vorläufig gelungen ist, mich auszustechen, aufgegeben wird das Spiel deshalb noch nicht! ... Die eine habe ich unter die Füße gestampft, die andere soll freiwillig darunterkriechen und mich dann flehentlich bitten, daß ich sie allergnädigst wieder aufhebe und zu mir emporziehe!«
Ein tiefer Knicks war der letzte Gruß, welcher diesen Bemerkungen folgte. Dann rauschte sie hart auftretend durch die Portière, die sie weit auseinanderriß, und kümmerte sich nicht weiter um die Zurückbleibenden.