Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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6.

O meine Freunde! (läßt Diderot seinen schwärmerischen Filosofen Dorval ausrufen) wenn wir jemahls nach Lampeduse gehen, um dort, fern von der übrigen Welt, mitten unter den Wellen des Oceans ein kleines Volk von Glücklichen zu pflanzen, – –

Da hat die Natur schon lange gethan, lieber Dorval! Warum nach Lampeduse? An die Gambia, zu diesem liebenswürdigen Volke wollen wir ziehen; dem einzigen in der Welt, bey welchem gute Menschen außer Gefahr sind unglücklich zu werden; dem einzigen in der Welt, welches seines Daseyns froh wird; welches durch eine zum Naturtrieb gewordene Fertigkeit jede Tugend ausübt; welches niemanden beleidiget, und allen die es erreichen kann Gutes thut!

Glückliches, ehrwürdiges Volk! Volk von Menschen, die diesem Nahmen Ehre machen! Bey dir bringt die Güte der Sitten ganz allein zuwege, was Gesetze und Strafen, was Erziehung, Filosofie und Religion bey dem policiertesten Volke des Erdbodens bis auf diesen Tag nicht zu bewirken vermocht haben! Keine Vorurtheile benebeln deinen Verstand und verhindern ihn, wie in einem reinen Spiegel, die unverfälschten Eindrücke der Natur aufzufassen! Du verfolgest, du verdammest niemand; keine blinde und grausame Parteysucht verschließt dein Herz der rührenden Stimme der Menschlichkeit! Kein sinnloser Schwätzer, kein Sofist, der den Unrath seines Gehirns in subtile Gewebe spinnt um die sorglos flatternde Einfalt darin zu verstricken, kein heuchlerischer Marabu, kein feiler Kadi, kein raubgieriger Bassa haben sich wider deine Wohlfahrten zusammen verschworen! – Glückliches, dreymahl glückliches Völkchen! wer sollte nicht in Versuchung gerathen dich zu beneiden?

Was für eine feine Satire ließe sich bey dieser Gelegenheit über alle die Nazionen machen, welche von der Weisheit ihrer Verfassung, von der Vortrefflichkeit ihrer Polizey, von ihrem großen Fortgang in den Künsten und in den Wissenschaften so aufgeblasen sind!

Was für eine demüthigende Vergleichung ließe sich zwischen uns Europäern und diesen ehrlichen schwarzbraunen Foleys anstellen, welche, allen unsern bewundernswürdigen Vorzügen zu Trotz, das sind, was wir gern seyn möchten; und die es bloß deswegen sind, weil sie keine so mühsame Anstalten machen, keine so verwickelte, aus so unzähligen Triebrädern so gekünstelt und so zerbrechlich zusammen gesetzte Maschine spielen lassen, um zu werden, was man so leicht seyn kann, wenn man die Natur zur Führerin nimmt!

Welch ein reicher Stoff! welche Gelegenheit zu schimmernden Gedanken und feinen Sprüchen! Aber, wie gesagt, wir haben keine Lust, uns auf Gemeinplätzen herum zu tummeln; und so schöne Sachen sich auch immer über diesen Gegenstand sagen ließen, so möchte doch wohl schwerlich eine darunter seyn, die nicht in den unzähligen Utopien und Severambenländern, womit wir seit mehr als zwey hundert Jahren so reichlich beschenkt worden sind, schon mehr als einmahl gesagt, und vielleicht schon so abgenutzt worden wäre, daß sie zu weiterm Gebrauch nicht mehr tauglich ist.

Eine Mischung von Wahrheit ist freylich immer in dergleichen Deklamazionen; aber was nützen schielende Wahrheiten?

Die Natur zur Führerin nehmen! Nichts ist leichter gesagt. – Aber wie dann, wenn ein Volk sich durch eine lange Reihe von Jahrhunderten in einer immer fortlaufenden Linie – von der Natur entfernt hat?

Das Beste ist, daß dieses Volk so gut als ein Komet, der sich einmahl von seiner Sonne verlaufen hat, (wofern ihm nicht unterwegs ein außerordentliches Unglück zustößt) unfehlbar wieder zu ihr zurückkommen wird.

Aber, wird es nicht wenigstens eben so viele Jahrhunderte zum Rückweg nöthig haben?

Vermuthlich! – Und diese Wiederkehr zu befördern, sie zu beschleunigen, und neue Ausschweifungen zu verhindern, dazu werden wohl ganz andre moralische Kräfte als frostige oder warme Deklamazionen erfordert werden.


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