Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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3.

Ein Schauspiel, das die Menschlichkeit empört, wenn man es von der häßlichen Seite ansieht, – der Anblick der ausschweifendsten Üppigkeit und zügellosesten Verderbniß der Sitten in einer von den Hauptstädten Europens, in diesem modernen Babylon, – welchem ein Filosof im siebenten Stockwerke, um seiner liebenswürdigen Narrheiten, um seiner artigen Talente und auf den äußersten Grad verfeinten Künste willen, seine Laster nicht so leicht verzeihen kann als der Filosof zu Ferney, wenn er das Glück gehabt hat wohl zu verdauen, aus seinem kleinen bezauberten Schlosse; – der Anblick des Übermuths, mit welchem die verächtliche Klasse der Poppäen und Trimalcione des öffentlichen Elends, dessen Werkzeuge sie sind, spotten; – der traurig machende Anblick eines unterdrückten Volkes unter dem besten der Könige: – solche Ansichten – aus einem Dachstübchen betrachtet – sind sehr geschickt, den Betrachtungen eines filosofischen Zuschauers über unsre Verfassungen, Künste und Wissenschaften eine solche Stärke zu geben, und ein so schwermüthiges Helldunkel über sie auszubreiten; daß man nichts andres nöthig hat, um zu begreifen, wie dieser Filosof, mit einer schwärmerischen Einbildungskraft, einem warmen Herzen und etwas galliger Reizbarkeit, auf den Einfall kommen konnte: »Es würde diesem Volke besser seyn, gar keine Gesetze, Künste und Wissenschaften zu haben.«

Laßt in diesem Augenblick eine Akademie die Frage aufwerfen: »ob Wissenschaft und Kunst dem menschlichen Geschlechte mehr Schaden oder Nutzen gebracht haben?« – wird er wohl in einer solchen Gemüthsstimmung Bedenken tragen, Wissenschaften und Künste, die er als Sklavinnen des Glücks und der Üppigkeit, als Quellen der sittlichen Verderbniß und Beförderinnen der Unterdrückung ansieht, für die wahre Ursache alles menschlichen Elends zu erklären?

Und, noch voll von den lebhaften Gemählden, in welchen ihm seine Fantasie die Evidenz dieser vermeinten Wahrheit anzuschauen giebt, – wird er nicht, wenn eine andre Akademie seine Galle durch die Frage heraus fordert: »welches der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen sey, und in wie fern selbige durch das natürliche Gesetz berechtigt werde oder nicht?« – die Auflösung dieses Problems schon gefunden zu haben glauben, und uns mit dem zuversichtlichsten Tone der Überzeugung überreden wollen: daß alles Übel, wovon das menschliche Geschlecht gedrückt wird, bloß aus dieser Ungleichheit, als der wahren Büchse der Pandora, hervor gegangen sey, und daß es kein gewisseres Mittel davon befreyt zu werden gebe, als alle Gewänder und Ausschmückungen der Natur, alle unsre Wissenschaften, Künste, Polizey, Bequemlichkeiten, Wollüste und Bedürfnisse von uns zu werfen, und nackend – gleich dem jungen Hottentotten auf dem Titelkupferstich seines Buches – zu unsrer ursprünglichen Gesellschaft, den Vierfüßigen, in den Wald zurückzukehren?

Sollte dieß nicht die geheime Geschichte des Rousseauischen Systems gewesen seyn?


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