Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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8.

Man könnte übrigens unserm Filosofen den Satz: »daß, der Vervollkommlichkeit ungeachtet, die meisten Fähigkeiten des Menschen viele Jahrhunderte hindurch unentfaltet bleiben könnten,« eingestehen, ohne daß seine Hypothese dadurch viel gewinnen würde. Die natürliche Trägheit, aus welcher Helvezius nicht ohne Grund eine Menge psychologischer Erscheinungen erklärt – die daher rührende Begnügsamkeit an jedem leidlichen Zustande, in welchem dieser Trägheit am wenigsten Gewalt geschieht, und die durch beides verdoppelte Macht der Gewohnheit lassen uns leicht begreifen, wie ein Volk (zumahl in einem Erdstriche, dessen Beschaffenheit die Wirkungen dieser Ursachen noch verstärkt) Jahrtausende durch, wofern es sich selbst überlassen bleibt, in einem sehr unvollkommenen Zustande beharren könne.

Sittliche und politische Ursachen hemmen in Sina den Fortschritt der Wissenschaften, welche sich in diesem ungeheuern und in einigen Stücken sehr gut policierten Reiche noch immer in der Kindheit befinden. – Fysische Ursachen halten den Lappen und den Bewohnern der gefrornen Länder um Hudsons-Bay seit undenklicher Zeit in einem so eingeschränkten Kreise von Bedürfnissen und von Thätigkeit, daß Reisende, welche den Geist der Beobachtung nicht empfangen haben, und den sittlichen Menschen in einem Gewande von Pelzwerk und Seehundsfellen nicht zu erkennen fähig sind, kein Bedenken tragen, ihren Zustand für viehisch zu erklären.

Aber mit der Geselligkeit, diesem wesentlichen Zuge der Menschheit, hat es eine ganz andere Bewandtniß. Der Mensch, – wenn wir auch bis in die ersten Augenblicke seines Daseyns zurück gehen, und ihn in einem Stande nehmen wollen, wo seine Seele noch der unbeschriebenen Tafel des Aristoteles gleicht, – der Mensch braucht nur seine Augen aufzuheben, und einen andern Menschen zu erblicken, um die süße Gewalt des sympathetischen Triebes zu fühlen, der ihn zu seines gleichen zieht.

Und etwa nur zu seines gleichen? – Die ganze Natur hat Antheil an seiner Empfindsamkeit und Zuneigung. Diese Empfindsamkeit ist die wahre Quelle jener aus Bewunderung, Freude und Dankbarkeit gemischten Gefühle, womit die Wilden die aufgehende Sonne und den vollen Mond begrüßen. Sie macht uns den Baum lieben, der uns seinen Schatten geliehen hat, und sie befördert vermuthlich den enthusiastischen Hang der ältesten Menschen, allem in der Natur eine Seele zu geben, und sich einzubilden, daß alles, was uns Empfindung einflößt, sie mit uns theile.

»Ich habe Mitleiden (sagt der größte Kenner des menschlichen Herzens der mir bekannt ist) mit dem Manne, der von Dan bis gen Beerseba reisen kann, und ausrufen: alles ist öde! – Ich erkläre, sagte ich, indem ich meine Hände mit einer zärtlichen Bewegung zusammen schlug, daß ich auch in einer Wüste etwas ausfindig machen wollte, über welches ich meine Zuneigung ergießen könnte. – Könnt' ich nichts bessers thun, so wollt' ich sie an irgend eine holde Myrte heften, oder mir irgend eine melankolische Cypresse aussuchen, um eine Art von Freundschaft mit ihr zu machen. – Ich wollte ihrem Schatten liebkosen, und sie zärtlich um ihren Schutz begrüßen. – Ich wollte meinen Nahmen in sie schneiden, und schwören, sie wären die liebenswürdigsten Bäume in der ganzen Wildniß. Welkte ihr Laub, so würd' ich mit ihnen trauern, und mich mit ihnen freuen, wenn ihr lachendes Aussehen mich beredete, daß sie sich freueten.«Yorick's Sentimantal Journey, Vol. I. p. 85.

Stellen wir uns einen Menschen vor, der, aller Gesellschaft beraubt, Jahre lang in einem Kerker geschmachtet, und die Hoffnung, jemahls wieder ein menschliches Antlitz zu sehen, endlich aufgegeben hätte. – Däucht es uns unwahrscheinlich, daß in diesem elenden Zustand ein kleiner Vogel, oder eine Maus, oder in Ermanglung irgend eines andern lebenden Geschöpfes, sogar eine ekelhafte Spinne ein Gegenstand für seine zärtlichsten Regungen werden könnte? – Daß diese Spinne nach und nach in seinen Augen so schön werden könnte, als die reitzendste Toskanische Amaryllis in den Augen ihres Platonischen Schäfers; daß er sie auf seinem Teller essen lassen, daß er ganze Tage mit ihr spielen, daß er sich durch die anhaltendste Aufmerksamkeit eine Art von Sprache mit ihr machen, sich für ihre kleinsten Bewegungen interessieren, bey der mindesten Gefahr für ihr Leben zittern, und, wenn er unglücklich genug wäre sie zu verlieren, sie mit heißen Thränen beweinen, und über ihren Verlust eben so untröstbar seyn würde, als er in andern Umständen über den Tod der geliebtesten Frau und des besten Freundes gewesen wäre?

Ich erinnere mich ehmals etwas dergleichen von dem bekannten Grafen von Lausün gelesen zu haben; und ich zweifle nicht, daß Leute, welche in den Anekdoten der Bastille, des Donjon von Vincennes, des Königssteins und anderer Einsiedeleyen dieser Art erfahren zu seyn Gelegenheit haben, ähnliche Beyspiele zu erzählen haben werden.

Man würde vergeblich einwenden, daß sich von einzelnen Beyspielen nicht auf die menschliche Natur überhaupt schließen lasse. Denn alles, was wir seit etlichen tausend Jahren aus gemeiner Erfahrung von unserer Gattung wissen, nöthigt uns, den Trieb der Geselligkeit und das Verlangen nach Gegenständen, denen wir uns mittheilen können, für ein wesentliches Stück der Menschheit zu halten. Die Ausnahmen sind offenbar auf Seiten derjenigen, welche aus Verdruß, Milzsucht, oder irgend einem andern innerlichen Beruf, sich freywillig der menschlichen Gesellschaft begeben haben.

Und wie wenig es auch dieser kleinen Anzahl von Sonderlingen möglich sey, den geselligen Trieb gänzlich zu ertödten, beweiset die Geschichte der alten Thebaischen und andrer Einsiedler. Nicht selten fanden sich liebreiche Einsiedlerinnen, um die Einsiedler in ihren Bekümmernissen zu trösten. Und wenn alles fehlte, so sehen wir aus den fast täglichen Unterredungen, die viele unter ihnen mit dem Teufel pflegten, daß sie lieber die allerschlechteste Unterhaltung als gar keine haben wollten.

Ist aber der Trieb der Geselligkeit dem Menschen so natürlich: so haben diejenigen, welche sich die ersten Menschen in eine Familie vereinigt vorstellen, den Vorwurf nicht verdient, Begriffe aus der bürgerlichen Gesellschaft in den Stand der Natur hinein getragen zu haben; so lösen sich alle die Schwierigkeiten von selbst auf, welche Rousseau in dem Übergang aus dem Stande der Natur in den gesellschaftlichen findet; so war es kein Übergang in einen entgegen gesetzten, sondern ein bloßer Fortgang in dem nehmlichen Stande; ein Fortgang, dessen Geschwindigkeit zwar von tausend verschiedenen Zufällen abhängt, aber dennoch, auch bey den Völkerschaften wo er am langsamsten geht, einem aufmerksamen Beobachter merklich ist.


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