Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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2.

Mit aller Ehrerbietung, die wir den Modefilosofen unsrer Zeit schuldig sind, sey es gesagt, daß ihre beredten Schriften von dergleichen Gedanken wimmeln, die nur so lange etwas feines oder großes oder neues sagen, als die Leser gefällig oder bequem oder unwissend genug sind, sie für das gelten zu lassen, wofür ihr Gepräge sie ausgiebt.

Was für Ungereimtheiten hat nicht die Begierde etwas neues, novum, audax, indictum ore alio, zu sagen, schon oft die feinsten Köpfe sagen gemacht! – Zumahl in Zeiten, wie die unsern, da Witz und Beredsamkeit einen Freybrief haben die gesunde Vernunft zu mißhandeln, wenn es nur auf eine sinnreiche Art geschieht; wo Hippiasse und Karneaden durch rhetorische Taschenspielerkünste die Bewunderung ihrer Zeitgenossen erschleichen; und neuer Unsinn, in schöne Bilder gekleidet, mit spielenden Gegensätzen verbrämt, und mit den Schellen des redlichen Wohlklangs behangen, willkommner ist, als die alte Vernunft in ihrem schlichten Sokratischen Mantel!

War es diese Begierde zu schimmern, oder war es Laune, oder Misanthropie, – oder sollen wir glauben, daß es wirklich Liebe zur Wahrheit und Wohlneigung gegen das menschliche Geschlecht gewesen sey, was den scharfsinnigen Schriftsteller, welchen wir vorhin zu tadeln uns die Freyheit genommen haben, bewegen konnte, mitten im achtzehnten Jahrhundert die Filosofie der alten Gymnosofisten wieder in Achtung bringen zu wollen, und, ohne Hoffnung auch nur einen einzigen Schüler zu machen, den abenteuerlichen Satz zu behaupten: »daß der ursprüngliche Stand des Menschen der Stand eines zahmen Thieres gewesen sey;« – und daß man allen Nazionen, unter denen sich (nach seinem Ausdruck) die Stimme des Himmels nicht habe hören lassen, keinen besseren Rath geben könne, als »in die Wälder zu den Orang-Utangs und den übrigen Affen, ihren Brüdern, zurückzukehren, aus welchen sie eine unselige Kette von Zufällen zu ihrem Unglücke heraus gezogen habe.«

Man braucht die Schriften dieses sonderbaren Mannes nur mit einer mittelmäßigen Gabe von Gutherzigkeit gelesen zu haben, um sich gern überreden zu lassen, daß vielleicht niemahls ein Schriftsteller von der Güte seiner Absichten und von der Wahrheit seiner Grillen so überzeugt gewesen sey als Rousseau. Man kann sich nicht erwehren dem Manne gut zu seyn, der die verhaßtesten Paradoxen mit einer so aufrichtigen Miene von Wohlmeinenheit vorbringt, – und mit einer so ehrlichen Miene die seltsamsten Fehlschlüsse macht, und uns aus der Fülle seines Gefühls zuschwört, daß alles gelb sey, ohne den kleinsten Verdacht zu haben, daß doch wohl vielleicht er selbst mit der Gelbsucht behaftet seyn könnte.

Und gesetzt auch, der Zusammenhang seiner Grundsätze, und der dogmatische Ton, den er, aller seiner Protestazionen ungeachtet, aus so vollem Munde anstimmt, könnte einige Zweifel – –

Doch nein! Wir haben kein Recht, an der Aufrichtigkeit seiner Versicherung zu zweifeln; und niedrig wär' es, den Mann, der uns Gutes thun will, mit Vorwürfen zu verfolgen, weil er das Los aller Sterblichen erfahren, und sich auf seinem Wege verirrt hat. Lassen wir die Anmaßung – die Herzen der Schriftsteller aufzureißen, um die geheimen Absichten derselben vor einen unbefugten Richterstuhl hervor zu ziehen, lassen wir diese verwegene Anmaßung jener verachtenswürdigen Art von Gleißnern, welche unter dem scheinbaren Vorwande, die gute Sache zu vertheidigen, ihre eigenen lichtscheuen Absichten an der Vernunft und ihre Dummheit an dem Witze, wie der Affe seine Mißgestalt am Spiegel, rächen wollen.

Die Freyheit zu filosofieren, (welche, so lange wir nicht mit dem Rousseauischen Menschen in die Wälder, oder, was noch ein wenig schlimmer wäre, so lange wir nicht in die Barbarey der Gothen und Vandalen zurückzukehren gedenken, eine der stärksten Stützen der menschlichen Wohlfahrt ist) muß sich auf alle erstrecken, welche von Gegenständen, die innerhalb des menschlichen Gesichtskreises liegen, ihre Meinung mit Bescheidenheit sagen, wie seltsam und widersinnig auch immer ihre Meinung scheinen mag. Wie oft ist etwas in der Folge als eine ehrwürdige und nützliche Wahrheit befunden worden, was Anfangs alle Stimmen gegen sich hatte! – Und auch der Irrthum selbst, diese nicht allezeit vermeidliche Krankheit der Seele, giebt Gelegenheit, den Mitteln besser nachzuforschen, wodurch er geheilt werden kann, und wird dadurch wohlthätig für das menschliche Geschlecht.


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