Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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23.

Neun oder zehen Jahre ungefähr hatte die Glückseligkeit der ersten Ältern von Mexiko gedauert, als Kikequetzel einsmahls, mit ihrem kleinsten Kinde an der Brust, sich etwas weiter als gewöhnlich von ihrer Wohnung entfernte. Es war in der wärmsten Jahreszeit. Ermüdet warf sie sich an den Rand eines kleinen Baches, legte das schlafende Kind auf Moos und weiche Blätter, und ging hin Früchte von nahe stehenden Stauden zu pflücken.

Indem sie an nichts weniger dachte, kam ein Mann aus dem Gebüsche hervor. – Ihr erster Gedanke war, daß Koxkox sie habe überraschen wollen. Sie lief ihm mit offnen Armen entgegen; aber da sie ihm beynahe in die seinigen gelaufen wäre, wurde sie mit Schrecken gewahr, daß es nicht Koxkox war.

Ein spitzfindiger Leser wird es vielleicht unwahrscheinlich finden, daß Kikequetzel, welche so gute Augen hatte zu sehen daß es ein Mann war, nicht zugleich gesehen haben sollte, daß es nicht Koxkox war. Wir antworten ihm aber:

Erstens, daß wir uns auf die größten Optiker unsrer Zeit berufen, ob eine Unmöglichkeit in dem Falle, wie wir ihn erzählt haben, zu erweisen sey;

Zweytens hatte sich die gute Frau keine Zeit genommen ihn genau zu betrachten; sie erblickte von fern eine menschliche Gestalt; daß es ihr Mann sey, sagte ihr in dem nehmlichen Augenblicke ihr Herz; und so lief sie auf ihn zu, ohne eine andere Gewißheit davon zu haben; welches ihr desto billiger zu vergeben ist, da sie

Drittens keinen Gedanken hatte, daß außer ihr und Koxkoxen noch ein anderes menschliches Wesen der Überschwemmung entronnen sey.

Hierin hatte sie sich geirrt, wie wir sehen. Denn dieser Mann war einer von den wenigen Entronnenen, und, was noch seltsamer war, von ihrem eigenen Volke, wie sich in der Folge zeigen wird. Dem Ansehen nach mocht' er wenig unter vierzig Jahren seyn. Es war ein starker mächtiger Mann, welcher die Miene hatte, sich vor keinem von den zwölf oder dreyzehn Abenteuern des Herkules zu fürchten; und, wie Herkules, war er nur mit einer Löwenhaut bekleidet. Er war in allen Betrachtungen ein fürchterlicher, wiewohl eben kein häßlicher Mann.

Wenige Leute in der Welt – einsame Talapoinen ausgenommen, welche, nach einer zwanzigjährigen pünktlichen Beobachtung ihrer Gelübde, im vierzigsten Jahr ihres Alters ein solcher Zufall in einer Einöde begegnete – können sich, auf dem gehörigen Grade von Wahrheit, einbilden, was für eine heftige Erschütterung bey Erblickung der schönen Kikequetzel in dem ganzen animalischen System dieses Mannes erfolgte.

Der Hunger, mit welchem ein gesunder Mensch, der drey Tage lang wider seinen Willen gefastet hätte, auf einen wohl oder übel zugerichteten Rindsbraten zufiele, ist – ein unedles Bild, wir gestehen es; es ist auch nichts weniger als neu: aber es ist doch das einzige, welches einiger Maßen die Natur und die Heftigkeit der Begierde ausdrückte, mit welcher er seine nervigen Arme ausstreckte, um die freywillig anlaufende Beute zu erhaschen.

Aber, wie gesagt, sie entdeckte noch zu rechter Zeit, daß es nicht Koxkox war.

Ungeachtet der Mann nicht häßlich war, und nach Mexikanischer Landesart nicht mehr Bart hatte als Koxkox, das ist, wenig mehr als nichts, so hatte er doch in diesem Augenblicke etwas so Gräßliches in seiner Miene, so funkelnde Augen, einen so starken Ausdruck von heißhungrigem Verlangen in seiner ganzen Person, – daß die gute Frau mit einem lauten Schrey zurück fuhr. So laut schrie sie, daß Koxkox es hätte hören müssen, wenn sie näher als eine Stunde weit von ihm entfernt gewesen wäre. Aber Koxkox lag ruhig in seiner Hütte, ihre Wiederkunft erwartend, bey seinen Kindern, und dachte – an nichts.

Als der Mann auf sie zuging, und ich weiß nicht was sagte, worauf sie in der Angst nicht Acht gab, so suchte sie ihre Rettung in der Flucht. Sie lief wie die Virgilische Kamilla:

Kaum wurden von ihren geflügelten Sohlen
Die Spitzen des Grases im Laufen berührt.

Sie würde um eine halbe Stunde früher als der nacheilende Mann in ihrer Hütte angekommen seyn, wenn sie so fortgelaufen wäre. Aber mitten in ihrem Lauf hielt sie inne, blieb etliche Augenblicke stehen, und rannte nun eben so schnell wieder zurück als sie davon geflogen war.

Der strengste Kasuist wird ihren Beweggrund nicht mißbilligen können. Sie erinnerte sich plötzlich ihres Kindes, welches sie auf Moos und Baumblättern schlafend am Bache zurückgelassen hatte; und nun wich auch auf einmahl der Furcht, ihr Kind zu verlieren, alle andre Furcht. Tlantlaquakapatli behauptet, daß dieses im Karakter einer Mutter und eines so unschuldigen Geschöpfes sey, als Kikequetzel war.

Der Mann machte sich diesen Umstand zu Nutze. Er erhaschte sie in einem Gebüsche. Sie sträubte sich mit der Stärke einer Person, deren ganzer Ernst es ist, los zu kommen; aber sie war keine Minerva; der Mann wurde Meister.

Dieser Mann hatte – die schöne Deklamazion des berühmten Grafen von Büffon gegen das Sittliche in der Liebe nicht gelesen; aber er handelte so vollkommen nach dem Grundsatze dieses neuen Plinius, als man es von einem Wilden erwarten kann, der vierzehn Jahre lang die ganze Nord- und Westseite von Mexiko durchirret hatte, um zu suchen, was ihm, nachdem er längst alle Hoffnung aufgegeben, auf einmahl in diesem Gebüsch von selbst in die Hände lief.

Unser Autor meint, – vermuthlich aus Parteylichkeit gegen seine Stammmutter – daß es nicht in der Natur gewesen wäre, den Unwillen lange zu behalten, von welchem sie in den ersten Augenblicken ihrer Niederlage gegen den Mann entbrannt war. Es hatte ihm einen guten Theil seiner Haare gekostet; und Kikequetzel war doch sonst das sanftmüthigste und weichherzigste Geschöpf von der Welt. Aber eine solche Begegnung – wir halten uns versichert, daß ihr keine wohl erzogene Dame die Wuth übel nehmen wird, worein sie bey einer solchen Begegnung gerieth!

Aber daß sie sich besänftigen ließ! – Wird auch wohl mehr als Eine, oder auch nur eine Einzige seyn, welche Stärke des Geistes und Billigkeit genug hat, sich – mit gänzlichem Vergessen alles dessen, was sie ihrer Erziehung, den Gesetzen und Sitten ihres Vaterlandes, und vielleicht ihrer Religion zu danken hat, an die Stellt dieser armen wilden Mexikanerin zu setzen, und wenigstens sich selbst zu gestehen – –?

Das Beste ist, die Damen – (welches Wort ich hier wie allezeit, in einer sehr weiten Bedeutung genommen haben will) – überschlagen das folgende Kapitel gänzlich. Sie würden mich durch diese Gefälligkeit sehr verbinden. Ein einziges Blatt umzuschlagen ist doch keine schwere Sache. – Ich weiß zwar wohl, daß man, nach Hagedorns Meinung, es einem Frauenzimmer nicht verbieten soll, wenn man will daß sie nicht in einem Entenpfuhle herum wate. Aber niemand kann eine edlere Meinung von ihrem liebenswürdigen Geschlechte haben als ich. Sollte ich hierin von der einen oder andern meiner schönen Leserinnen zu schmeichelhaft denken, – sollten einige sich durch meine Warnung verleiten lassen, das folgende Kapitel eben darum zu lesen, weil ichs ihnen verboten habe: nun, so mögen sie sichs selbst zuschreiben, wenn sie lesen – was ihnen nicht gefällt!


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