Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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40. Kapitel

Wie Danischmend sich in seinem neuen Aufenthalt einrichtet, und was für Gelegenheiten er bekommt, sich bei Schach-Gebal wieder in Erinnerung zu bringen

Danischmend hatte von den zehen tausend Bahamd'or, womit ihn Schach-Gebal bei ihrer Trennung abgefunden, noch ungefähr viertausend übrig. Er kaufte für einen Teil dieser Summe ein kleines Bauergütchen, tauschte seine Kamele gegen etliche Kühe und Ziegen um, grub, säete und pflanzte wieder wie ehmals, und wenn er nichts anders zu tun hatte, flocht er Körbe oder lehrte seine Kinder im Koran lesen. Perisadeh, die das große Talent besaß sich leicht in alles fügen zu können, führte ihr Wirtschaftswesen hier im kleinen eben so gut und so frohen Mutes wie ehmals im größern, und in weniger als drei Jahren wurde von ihrem Aufenthalt in Jemal so selten und gleichgültig gesprochen wie von einem Traume.

Die Menschen, unter welchen sie itzt lebten, waren zwar um einige Grade weiter in der Kultur als die Jemalitter, aber übrigens ein ganz gutartiges Volk. Sie bekannten sich alle (bis auf einige wenige Feueranbeter oder Parsis, die hier geduldet wurden) zum Koran; und also war schon der grüne Turban, welchen Danischmend als ein Sprößling aus der Familie des Propheten zu tragen berechtigt war, hinlänglich, ihm Achtung unter ihnen zu verschaffen: aber, auch ohne dies, was für Unholde müßten sie gewesen sein, wenn sie so harmlose, niemand überlästige und jedermann wohlwollende Wesen, wie Danischmend und seine kleine Familie war, nicht hätten lieb gewinnen sollen! Mit der Zeit fand er sogar Gelegenheit, sich einige Verdienste um sie zu machen, wovon wir, beliebter Kürze halber, nur ein paar Beispiele anführen wollen.

Die Gemeine, unter welcher er lebte, war seit mehreren Jahren von einem Oberpachter der königlichen Einkünfte in der Provinz über alle Gebühr gedrückt, und unter nichtigen Vorwänden mit verschiedenen neuen Abgaben belegt worden, die ihnen, selbst bei geringen Bedürfnissen und bei der größten Freigebigkeit der Natur, das Leben sehr erschwerten. Da kein anderes Mittel, das sie versucht hatten, helfen wollte, riet ihnen Danischmend sich unmittelbar an den Kaiser selbst zu wenden, und erbot sich ihnen die Bittschrift aufzusetzen.

Schach-Gebal pflegte die Bittschriften, die ihm ein dazu bestellter Minister täglich zu einer gesetzten Stunde vorlegen mußte, selten selbst anzusehen; nur wenn er gerade ungewöhnlich lange Weile hatte, geschah es auch wohl, daß er sich hinsetzte, und sie, mehr oder minder flüchtig, durchblätterte. Glücklicher Weise war es an einem der langweiligsten Morgen seines Lebens, daß ihm die Bittschrift der besagten Gemeine vor die Augen kam. Die Schönheit der Handschrift, die er zu kennen meinte, fiel ihm auf; er fing an zu lesen, und glaubte die Regierungsmaximen und die ganze Vorstellungsart darin zu erkennen, womit ihm Danischmend ehmals, als er ihm sein langes Märchen von den Königen in Scheschian vorerzählte, so manche Kurzweil gemacht hatte.

»Sonderbar!« murmelte der Sultan, indem er die ganze Schrift von Anfang bis zu Ende mit einem Interesse durchlas, das vermutlich bloß aus dieser Erinnerung entsprang; und ohne sich einen Augenblick zu bedenken, schrieb er eigenhändig darunter daß die Bitte gewährt sei, und befahl dem Minister, die Ausfertigung auf der Stelle zu besorgen, und sich zugleich zu erkundigen, wer die Bittschrift aufgesetzt habe.

Die Gemeine erhielt die königliche Befreiungsurkunde noch eher, als sie gehofft hatte daß ihr Gesuch zu Dehly angelangt sei, und betrachtete von diesem Augenblick an unsern Mann als einen Wundertäter, der einen besondern Talisman haben müsse die Herzen der Könige zu lenken: aber von seinem Namen und Stande konnten sie keinen andern Bericht erstatten, als, es sei ein Fremder, der vor ungefähr vier Jahren mit einem jungen Weibe und drei Kindern seine Wohnung bei ihnen aufgeschlagen habe, seiner guten Gemütsart und Sitten wegen allgemein beliebt sei , und sich Hassan-Beg nenne. Denn diesen Namen hatte Danischmend seit seiner Entfernung aus Jemal angenommen, um in einem Lande, wo sein eigener ziemlich allgemein bekannt war, desto eher unentdeckt zu bleiben.

Einige Jahre darauf ereignete sich ein anderer Fall, der ihn dem Sultan abermals wieder ins Gedächtnis brachte. Zwei sehr junge Gebern aus seinem Dorfe, Bruder und Schwester, die nach ihrer Eltern Tode auf einem kleinen Gütchen beisammen lebten und ihre Wirtschaft fortsetzten so gut sie konnten, hatten einander von Kindheit an innigst geliebt; die Gewohnheit, immer beisammen zu sein, einerlei Interesse und Wünsche zu haben, und Freude und Leid mit einander gleich zu teilen, war ihnen zur andern Natur geworden, und sie konnten sich ganz und gar keinen Begriff davon machen, wie sie ohne einander leben könnten.

Da nun ihre Religion die Ehe zwischen Bruder und Schwester nicht nur erlaubt, sondern sogar für besonders heilig erklärt; so glaubten sie nicht besser tun zu können, als wenn sie sich von einem ihrer Priester vermählen ließen. Jedermann im Dorfe war den Kindern gut, und hatte sein Wohlgefallen an ihrer Liebe und an ihrer kleinen Wirtschaft; denn ihre Sitten waren so rein wie das heilige Feuer, worin sie das Symbol der Urquelle des Lebens und der Liebe verehrten. Der einzige Mollah des Ortes, der zugleich Imam und Kadi war, eiferte greulich gegen diese blutschänderische Liebe (wie er sie nach der Lehre des Korans zu nennen berechtigt war) und gegen das schreckliche Ärgernis, das den Gläubigen dadurch gegeben werde. Er ließ die armen Kinder alle Arten von Verfolgungen erfahren, und bestand darauf, daß sie sich entweder auf ewig trennen, oder aus der ganzen Provinz verbannt werden müßten; in welchem Falle ihr Erbgut, zur Strafe ihres frevelhaften Ungehorsams, dem Fiskus anheim fallen würde. Alle Leute sagten einander ins Ohr, der Mollah würde es wohl nicht so scharf mit den armen Gebern nehmen, wenn ihr kleines Gut nicht wäre, das an seinem großen lag, und ihm so wohl anstand, daß er ihnen schon lange zugesetzt hatte, es ihm um die Hälfte des Wertes abzutreten. Jedermann hatte Mitleiden mit den unglücklichen Geschwistern; aber der Mollah war ein reicher und gewalttätiger Mann, und niemand wagte es, sich ihrer gegen ihn anzunehmen.

»So will ich's tun«, sagte Danischmend zu Perisadeh, da sie mit einander von diesem Handel sprachen; und stehendes Fußes ging er zu den Kindern, und versprach ihnen ihre Sache zu der seinigen zu machen. Die Liebenden fielen ihm mit Tränen des Danks zu Füßen, und sahen ihn als einen Engel an, den Ormuzd zu ihrer Rettung gesandt habe; denn da sie genötigt waren zwischen zwei Übeln zu wählen, hatten sie sich, in dem nämlichen Augenblicke da er in ihre Hütte trat, entschlossen, ihr väterliches Erbgut dem Mollah Preis zu geben, und Arm in Arm mit einander ins Elend zu wandern.

»Nein, beim großen Gott des Himmels und der Erde!« rief Danischmend, »das sollt ihr nicht, oder es müßte keine Gerechtigkeit noch Menschlichkeit mehr im Lande sein. Stellt eure Sache in meine Hände, und zieht indessen, bis sie entschieden ist, zu mir, wo ihr vor Gewalt und Nachstellungen sicher seid.« Er führte sie auch, nachdem er ihnen ihr Gütchen zum Schein abgekauft hatte, auf der Stelle in seine Wohnung, wo sie von Perisadeh wie ihre eigenen Kinder aufgenommen wurden. Hierauf begab er sich zum Mollah, um ihm zu erklären, daß er die Sache der jungen Gebern führen würde; und, nachdem er alle seine Beredsamkeit vergebens verschwendet hatte den unbiegsamen Mann auf billige Gedanken zu bringen, betrieb er den Prozeß mit größtem Eifer von einer Instanz zur andern, bis er endlich vor den Divan des Sultans zur letzten Entscheidung kam.

Danischmend wandte sich, um des Erfolgs desto gewisser zu sein, unter dem Namen Hassan-Beg abermal an den Sultan selbst. Nachdem er Seiner Hoheit eine rührende Schilderung von der Unschuld und Liebe der jungen Leute gemacht hatte, behauptete er, daß es die grausamste Verletzung der Menschheitsrechte sein würde, diesen Handel nach einem andern als nach dem Gesetze der Gebern zu entscheiden, welches hierin zwar dem Koran, aber nicht dem Gesetze der Natur widerspreche; denn dieses kenne keinen Grund, warum die Ehe zwischen Geschwistern an sich selbst unzulässig sein sollte. Er gestand zwar die Gültigkeit der besondern Ursachen, wodurch andere Gesetzgeber sich bewogen gefunden hätten diese Art von Ehe durch ihre Gesetze zu verbieten: er bewies aber, daß sie auf die Gebern nicht anwendbar wären. Da nun diese seit undenklichen Zeiten in den Staaten Seiner Hoheit geduldet würden, und als gute Untertanen ein Recht an seinen Schutz hätten: so glaubte er, sich an dem Herzen eines Monarchen, der durch seine Gerechtigkeit dem ganzen Orient noch ehrwürdiger sei als durch die Furchtbarkeit seiner Macht, gröblich zu versündigen, wenn er nicht der gewissen Hoffnung lebte, daß seine Klienten unter den schirmenden Flügeln dieser weltbekannten Gerechtigkeit gegen die Bedrückungen eines unverständigen und nach ihrem kleinen Erbgut lüsternen Mollahs um so gewisser Sicherheit finden würden, da dieser ihr Widersacher, wie man zuverlässig wisse, einen Weg gefunden habe, denjenigen, der diese Sache Seiner Hoheit im Divan vortragen würde, auf seine Seite zu bringen.

Schach-Gebal befand sich, als ihm diese Bittschrift übergeben wurde, eben bei der Sultanin Nurmahal, in deren Zimmer er mechanischer Weise gewohnt war einen Teil des Morgens zuzubringen, ungeachtet sie seit einiger Zeit das Unglück hatte, Seine Hoheit nie anders als in einer Laune bei sich zu sehen, die es ihr schlechterdings unmöglich machte, etwas zu sagen oder zu tun, das ihm Kurzweile gemacht hätte. Da ihm in einer solchen Stimmung jede andere Unterhaltung willkommen war, so erbrach er die Bittschrift, setzte sich der schönen Nurmahal gegen über, und fing an zu lesen. »Aha«, rief er aus, »da haben wir ja unsern Hassan-Beg wieder! Laß doch sehen, was er vorzubringen hat!

In der Tat, ein seltsamer Fall!« sagte der Sultan, da er mit dem Vorlesen fertig war: »und was für ein herzrührendes Märchen dieser Hassan-Beg daraus gemacht hat! Finden Sie es nicht auch, Nurmahal?«

»Es ist sehr passioniert geschrieben«, sagte Nurmahal.

»Passioniert nennen Sie das, Sultanin? Ich wette meine beste Provinz, in ganz Indostan lebt kein andrer Mensch als Danischmend und dieser Hassan-Beg hier, der für ein paar arme Gebern, die ihn nichts angehen und um derentwillen er sich vielleicht den tödlichen Haß aller Mollahs in der Welt aufhalset, sich so zu passionieren fähig wäre. Aber vielleicht sind diese beiden, wenn's zur Nachfrage kommt, nur Eine Person. Ich habe große Lust den Hassan-Beg auf der Stelle kommen zu lassen.«

»Vielleicht ist es einer von Danischmends Schülern«, sagte Nurmahal.

»Ich wollte wetten er ist es selbst«, erwiderte der Sultan: »und ich bin sehr versucht, ihm seine Bitte abzuschlagen, bloß um ihm die Einbildung zu benehmen, daß er mit seinen schönen Sentenzen und mit seinen Schmeicheleien alles von mir erhalten könne was er wolle.«

»Eine Ehe zwischen leiblichen Geschwistern ist freilich etwas sehr Anstößiges«, sagte Nurmahal.

»Sie vergessen daß es Gebern sind, Sultanin! – Die armen Kinder dauern mich, und der Mollah ist ein Schurke, das ist klar!«

Mit diesem Worte nahm Schach-Gebal eine Feder,Eine Feder? – Das ist ein gewaltiger Verstoß des Erzählers, wer er auch sei. Ich bin gewiß, daß es ein Griffel, wofern er auf Palmblätter, oder, wenn er auf sinesisches Papier schrieb, ein Pinsel war.

Murrzufflus

und schrieb unter die Bittschrift: »Ich nehme die beiden Gebern in meinen Schutz; niemand soll sie hindern nach dem Gesetz ihrer Religion zu leben. Der Mollah soll sogleich in eine andere Provinz versetzt und an seine Stelle von der Gemeine, mit Hassan-Begs Beistimmung, ein anderes verträglicheres Subjekt erwählt werden.«

So bald er das letzte Wort geschrieben hatte, ließ er seinen ersten Wesir herein rufen. »Itimadulet«, sagte er zu ihm, »nimm dies; laß es sogleich in der gehörigen Form unter meinem großen Siegel ausfertigen, schick es binnen vierundzwanzig Stunden durch einen Eilboten an Hassan-Beg, dessen Aufenthalt du aus den Akten ersehen wirst, und vergiß nicht, daß du mir mit deinem Kopfe für die unverzügliche Ausführung meines Auftrags stehst!

Die armen Seelen!« murmelte Schach-Gebal zwischen seinem Barte, so bald der Wesir sich entfernt hatte: »denen wäre nun geholfen! – Und mir selbst – wiewohl ich sonst alles kann – Guten Morgen, Sultanin! – Von einer solchen Heldentat muß man ausruhen«, setzte er lachend hinzu, und begab sich eilends weg, um den Phantasien, die ihm durch den Kopf liefen, und an denen sein Herz mehr Anteil hatte als seiner Ruhe zuträglich war, in einem einsamen Spaziergange seiner Gärten nachzuhängen.

Diese zwei Begebenheiten, die durch Danischmends Verwendung einen so unerwartet glücklichen Ausgang nahmen, trugen nicht wenig bei, das Ansehen, worin er bei den guten Landleuten, seinen Gemeindsgenossen, stand, zu befestigen. Sein Aufenthalt unter ihnen wurde ihm immer angenehmer, seine Familie vermehrte sich, sein Gütchen war nach und nach durch Verbesserungen und Ankauf neuer Grundstücke eine ansehnliche Besitzung geworden, und die Zukunft zeigte ihm nichts als fröhliche Aussichten.

Aber sein Schicksal hatte es anders verhängt, und er mußte durch eine neue Prüfung gehen, von welcher ihm nichts geahndet hatte, und die alle vorigen an Härte übertraf.

Ziemlich bald nach der guten Tat, welche Schach-Gebal zu Gunsten der liebenden Geschwister ausgeübt hatte, verfiel dieser Monarch in eine Art von Schwermut, deren Ursache niemand erraten konnte, und die seine Gemütsart nach und nach so sehr versäuerte, daß kein Auskommen mit ihm war. Es fiel nur zu deutlich in die Augen, daß er sich selbst zu unglücklich fühlte, um der geringsten Nachsicht oder Schonung gegen andere fähig zu sein. In dieser gefährlichen Gemütsverfassung glaubte er, die Ehre seiner Krone (für welche er immer, wie wir wissen, ein übermäßig zartes Gefühl gehabt hatte) erfordere es schlechterdings, eine geringe Beleidigung, die er von einem gewissen Sultan von Tibet empfangen zu haben vermeinte, durch einen blutigen Krieg zu rächen, der sich zwar mit einem einzigen Feldzug endigte, aber dafür in diesem Einen mehr Unheil anrichtete, als in zehen Jahren des Friedens wieder vergütet werden konnte. Vorzüglich wurde die Provinz Lahor, an deren Grenze Danischmend wohnte, von Freund und Feind zugleich übel mitgenommen, und wie in die Wette geplündert und verwüstet. Der arme Philosoph hielt den ersten Sturm von Schach-Gebals eigenen Truppen mit aller Geduld und Gleichmütigkeit aus, die er, von Perisadehs Mut und Seelenstärke unterstützt, zusammen zu bringen fähig war: aber auf die Nachricht von dem barbarischen Verfahren der Feinde, von welchen einzelne streifende Parteien schon in benachbarte Orte eingedrungen waren – wie sie alles mit Feuer und Schwert verheerten, Weiber und Jungfrauen mißhandelten, und was sie am Leben ließen als Sklaven mit sich schleppten, und dergleichen –, fand er für besser, sich und die Seinigen durch eine schleunige Flucht zu retten, als ihr Schicksal auf die Menschlichkeit solcher Unmenschen ankommen zu lassen.

Und so befand sich denn der gute Danischmend abermals so unerwartet als zuvor, in dem traurigen Fall, einen ruhigen Aufenthalt und ein wohl eingerichtetes Hauswesen mit dem Rücken anzusehen, und mit allem, was ihm lieber war als sein eignes Leben, in der weiten Welt eine neue, vielleicht eben so unsichere Freistätte zu suchen.


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