Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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16. Kapitel

Worin Danischmend seinem Herzen Luft zu machen anfängt

»Nun, Freund Kalender, was sagst du zu diesem Auftritte? Fühlst du dich noch aufgelegt, übel von der menschlichen Natur zu denken?«

»Ich muß gestehen«, antwortete der Kalender, »was wir da gesehen haben, macht kein gleichgültiges Gemälde. Eine feine junge Dirne, bei allen Feen von Dschinnistan! – So lächerlich es an einem Kerl von vierundfunfzig sein mag, ich hatte ein paar Augenblicke, wo ich alle meine Philosophie und meinen Kalenderrock oben drein darum gegeben hätte an des jungen Burschen Platz zu sein – seine Jugend und seine Nerven mit einbedungen, versteht sich.«

Den Dolch von einem Blick hättet ihr sehen sollen, womit Danischmend bei diesen Worten den alten Kalender durchbohrte.

»Indessen« (fuhr dieser ganz gelassen fort, ohne sich irre machen zu lassen) »was beweist dieser einzelne Fall und zwanzig solcher einzelner Fälle gegen meine Theorie, die durch die ganze Geschichte des Menschengeschlechtes seit Jahrtausenden bestätiget wird?«

»Daß du nach dem was wir gesehen haben, eine solche Frage tun kannst, Kalender, beweist – halt! ich bin noch zu warm – laß uns von etwas anderm reden! – Findest du nicht auch, daß ich wohl getan habe, mir die Täler von Jemal zum Aufenthalt zu wählen? Hast du je einen schönern, fruchtbarern, besser angebauten Winkel auf dem Erdboden gesehen?«

»Es ist ein wahres Paradies, Danischmend. Mich wundert nur, daß man euch so ruhig im Besitz desselben läßt – und, was mich noch mehr wundert, in der ganzen Gegend weder Fakir noch Bonze!«

»Was dich hingegen nicht wundern wird, ist – daß wir bei so bewandten Umständen die glücklichsten Leute unter der Sonne sind. Nichts von Sultanen, Wesiren, Statthaltern, Kadis, Schatzmeistern, Zollpachtern, Fakirn und Bonzen zu wissen, ist ein Glück, wovon der größte Teil der Menschen keine Vorstellung hat. Wir haben es bloß unsrer Lage und der Unscheinbarkeit unsers Wohlstandes zu danken; denn Überfluß am Unentbehrlichen macht unsern ganzen Reichtum aus. Dies ist zu wenig um die Habsucht gegen uns aufzureizen. überdies sondern uns hohe Gebirge auf allen Seiten von der übrigen Welt. Dem ungeachtet bezahlen wir dem Sultan von Kischmir, um mehrerer Sicherheit willen, einen festgesetzten Tribut an Erzeugnissen unsers Bodens, ungefähr wie gewisse rohe Völker den bösen Geistern opfern, um von ihnen nicht geplagt zu werden.«

»Immer noch glücklich genug«, sagte der Kalender, »wenn man durch einen entbehrlichen Teil seines Eigentums die Sicherheit des übrigen erkaufen kann.«

»Auch ist diese Sicherheit der große Punkt«, versetzte Danischmend. »Glaube mir, Bruder, in allen unsern Deklamationen gegen die Unvollkommenheiten und Gebrechen der menschlichen Natur ist kein Gran Menschenverstand. Unterdrückung, und ihre Töchter, Üppigkeit, die mit den UnterdrückernDürftigkeit, die mit den Unterdrückten gepaart ist, sind die wahren Ursachen des menschlichen Verderbens. Die Menschen würden besser werden, sobald man ihnen erlaubte glücklicher zu sein; und sie würden glücklich genug sein, sobald nicht einige auf Kosten der übrigen glücklicher, als es Menschen zukommt, sein wollten. Ich habe dir eine Familie gezeigt, die in der Einfalt der Natur, bei einer beschäftigten Lebensart, von Mangel und Überfluß gleich weit entfernt, durch Gesundheit, frohen Mut und gegenseitige Zuneigung glücklich ist. In allen unsern Hütten triffst du solche Bewohner an. Niemals hat Kummer, Gram, noch Verzweiflung die Quellen des Gefühls in ihrem Herzen vergiftet, ihnen nach erschöpfender Arbeit des Tages den Schlaf geraubt, um sie mit trostlosen Aussichten in künftiges Elend zu ängstigen. Mäßige Arbeit, gute Nahrung und ein fröhliches Herz erhält den Mann und sein Weib gesund, verlängert ihre Jugend, unterhält ihre Kräfte; sie zeugen gesunde, wohlgestalte, fröhliche Kinder. Ungeängstigt von der Sorge woher sie Brot für selbige nehmen werden, erschrecken sie nicht wenn sich ihre Zahl vermehrt; ihre Kinder sind ihr Reichtum, ihre Wonne; sie verdoppeln ihre Arbeit mit Lust, weil sie für ihre Kinder arbeiten. Und wie sollten Eltern, die ihr größtes Glück in ihren Kindern finden, nicht von diesen wieder geliebt werden? Wie sollten Geschwister, welche, gemeinschaftlich auf dem Schoß der Liebe erzogen, die Zuneigung der Mutter und des Vaters vom zartesten Alter an zu teilen gewohnt sind, wie sollten sie einander nicht lieben? Und wie könnte also eine durch die mächtigen Bande der Natur und der Liebe in Eine schöne Gruppe zusammen geschlungne und von Einem Herzen belebte Familie, in den vorausgesetzten Umständen, nicht gut, nicht glücklich sein?

Aber setzen wir eben diese Familie in ein Land der Unterdrückung: wie plötzlich wird diese ganze Szene von häuslichem Glücke verschwunden sein! In ihrer Hütte werden alle Sinne durch das vollständigste Elend beleidigt. Überall Dürftigkeit, Ungemach und Blöße – die Körper der Eltern von übermäßiger Arbeit, kärglicher ungesunder Nahrung, und Mangel an Ruhe, Erquickung und Vergnügen gedrückt, abgewelkt, ausgemergelt – die Kinder elende, ungestalte, kränkelnde Mißgeschöpfe, Kinder der Verzweiflung vielmehr als der Liebe, die der Hitze, dem Regen und dem Frost nichts als Nacktheit oder modernde Lumpen entgegen zu setzen haben, den Eltern zur Last und zum Kummer leben, und, von langsamem Hunger verzehrt, einander jeden Bissen in den Rachen zählen – ich kann das abscheuliche Gemälde nicht vollenden, wiewohl ich besorge, daß die Originale dazu allenthalben wo es Sultane und Rajas gibt, nur zu häufig anzutreffen sind. Wie wär es nun möglich, daß so elende Geschöpfe gut sein, gut werden, oder gut bleiben könnten? Welch ein Wunder müßte geschehen, wenn so viel Elend sie nicht vielmehr mißvergnügt, düster, undankbar, gleichgültig gegen fremde Not, neidisch und schadenfroh, niederträchtig, betrügerisch, diebisch, raubgierig und zu jedem Verbrechen, wodurch etwas zu gewinnen ist, bereitwillig machen sollte? – Und nun komme mir Sophist, Derwisch oder Kalender, und deklamiere gegen die menschliche Natur! Gegen die großen und kleinen Sultane reißt die Mäuler auf, wenn ja deklamiert sein muß! Diese sind die ersten und letzten Ursachen alles Übels in der Welt!«


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